Grün, grüner, Radbahn Berlin: Was bringt eine klimafreundliche Verkehrswende der Bevölkerung?
Jahrelang gehörte der Raum unter der Hochbahn den Tauben und Autos. Jetzt gibt es dort auf 200 Meter Länge ein Testfeld mit Radweg, Pflanzen, Sträuchern und Sitzecken. Was der Umbau dem Klima und den Anwohnern bringt, untersuchen nun Wissenschaftler.
Fingerbreit liegt der Taubendreck auf dem Gehweg unter dem Viadukt der Hochbahntrasse von Berlins U-Bahnlinie U1 in Kreuzberg. Die Grünstreifen rechts und links des Wegs sind größtenteils vertrocknet und die Ränder mit Autos zugestellt. Von Friedrichshain-Kreuzberg über Schöneberg bis nach Charlottenburg geht das so. 2015 hat ein Team von Stadtplanern und Architekten für die Strecke unter dem Dach der Hochbahntrasse eine revolutionäre Idee präsentiert: Die Strecke sollte zum Radweg werden. Überdacht und begrünt. Einen Namen hatten sie auch schon: Radbahn Berlin. Heute wurde das 200 Meter lange Testfeld der Radbahn eröffnet.
Autos und Taubendreck sind verschwunden. Stattdessen rollt sich zwischen den grauen Stahlträgern des Viadukts der neue Radweg wie ein heller Teppich aus. Rechts und links stecken in der frischen Erde hunderte Jungpflanzen und Sträucher. Immer wieder unterbrechen Nischen mit Sitzecken das Grün. Die Mitarbeiterïnnen des Grünflächenamts haben Hochbeete aufgestellt, eine Radinsel mit Miniwerkstatt und Schlauchautomat und vielem mehr. Innerhalb weniger Monate wurden Parkstreifen unter der Hochbahn zu einem Minipark mit Mehrfachnutzung.
Der Radweg ist nur ein Element von vielen. Bereits in ihren ersten Plänen haben die Erfinder der Radbahn, Stadtplanerïnnen und Architektïnnen der Denkfabrik Paper Planes, deutlich gemacht: Der Umbau der Städte pro Radverkehr allein reicht nicht aus. Um die Folgen des Klimawandels abzumildern, brauchen Straßen mehr Grünflächen mit konkreten Aufgaben. „Das Testfeld unter dem Viadukt soll ein Stadtraum für Menschen werden“, sagt Luise Flade, Sprecherin des Radbahn-Teams von Paper Planes. Ein Treffpunkt, ein Platz zum Gärtnern oder für die Mittagspause, der bei Starkregen mehr Wasser aufnehmen kann und in der übrigen Zeit das Mikroklima vor Ort verbessert.
Radweg zu schmal
2015 berichteten die Medien bundesweit jedoch vor allem über den Radweg. Die Idee war ein Novum: Auf einer Strecke von neun Kilometern sollte die Radfahrenden unter dem Dach der Hochbahntrasse unterwegs sein, geschützt vor Schnee und Regen. Heute steht fest: Der Radweg unter der U1 wird nie kommen. An manchen Stellen sind zwischen den Trägern des Viadukts gerade mal 2, 4 Meter Platz. Das ist für einen Radweg in Berlin viel zu schmal. Das Berliner Mobilitätsgesetz sieht im Hauptnetz eine Breite von 2, 5 Meter in eine Richtung vor.
„Trotzdem werden Radfahrïnnen das Testfeld nutzen“, sagt Luise Flade überzeugt. Der alte Radweg in der Skalitzer zwischen Fußweg und parkenden Autos sei zu schmal für die vielen Alltagsradler und Lastenräder. Sie schätzt, dass tagsüber die gemütlichen Radfahrer übers Testfeld rollen und bei wenig Verkehr die schnellen.
„Die Grünstreifen an Hauptstraßen müssen zukünftig mehr Wasser aufnehmen, Sträucher und Bäume Schatten spenden und die Luft kühlen“, sagt Natalie Hipp. Die Magistralen entsprechend umzugestalten, sei eine Herkulesaufgabe. „Wir testen, wie die Pflege von Stadtgrün mit wenig Geld funktioniert“, sagt Luise Flade. Das sei notwendig. Berlin ist klamm. Das Grünflächenamt im Bezirk könne nur 5 Cent pro Quadratmeter im Jahr für die Pflege des Grüns am Straßenrand investieren.
Bürgerïnnen planen das Testfeld
Deshalb werden vor Ort auch Patenschaften für das Stadtgrün organisiert. Anwohnerïnnen können in den Patenschaftsbeeten mit gärtnern und Blumen ernten. Die Idee kommt aus der Bevölkerung. „Etwa Dreiviertel der Ideen der Bürgerïnnen aus den Workshops werden auf dem Testfeld umgesetzt“, sagt Luise Flade.
Für Radfahrende wurde auf der Radinsel ein Reparaturständer mit Werkzeug installiert, ein „Schlauchomat“, ein Tauschschrank für Fahrradteile und die Klassiker auf Kopenhagen: schräg aufgehängte Mülleimer, in die während der Fahrt der Abfall hineingeworfen werden kann.
Wie geht es weiter?
Was fehlt, sind Auf- und Abfahrten zum Testfeld. Die Radbahn-Team-Planer hatten verschiedene Entwürfe für die Kreuzungen entwickelt, aber die Senatsverwaltung hat das abgelehnt. Sie ist die Geldgeberin. Sie hat das gesamte Projekt, den Umbau, die Begleitforschung und die Bürgerbeteiligung mit dem Bund mit 3, 3 Millionen Euro finanziert. Stattdessen gab sie eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, die den Verkehr auf dem Abschnitt der Skalitzer Straße neu ordnen sollte.
Im April 2023 wurde die Studie „Radbahn U1“ veröffentlicht. Das Ergebnis sah vor, den Autoverkehr vom Rad- und Fußverkehr zu trennen. Die beiden Fahrbahnen südlich des Viadukts sollte der Autoverkehr erhalten, der Radverkehr die beiden nördlichen. Für Fußgängerïnnen war der neu gestaltete Weg unter dem Viadukt reserviert. Auf einer Strecke von 2 Kilometern sollte der Verkehr nach dem Vorbild geführt werden.
Nach dem Berliner Regierungswechsel im Sommer 2023 hatte die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) die Machbarkeitsstudie vorerst auf Eis gelegt. Die Sprecherin der zuständigen Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt begründet das mit der Haushaltslage. „Die vorgestellten Maßnahmen sind mit sehr hohen Investitionskosten und vielen planerischen Herausforderungen verbunden“, sagt sie.
Zwei Monate lang werden die Wissenschaftler und das Team der Radbahn nun die Entwicklung auf dem Testfeld begleiten. Mit Umfragen wollen sie herausfinden, wie der neue Stadtraum in der Bevölkerung ankommt und wie die Anwohner die Angebote nutzen.
Auszeit trotz Autolärm
Während sie das sagt, donnert ein Lastwagen in einem Pulk von Pkw an dem Testfeld vorbei. Ist so ein Ort für Fußgänger und Radfahrer überhaupt attraktiv? Luise Flade lächelt und nickt bestimmt. Im vergangenen Sommer habe das Team unter dem Viadukt ein Fest organisiert, verschiedene Workshops durchgeführt, Infotafeln aufgestellt und Bänke. „Seitdem sehe ich dort regelmäßig Passanten oder kleine Gruppen auf den Bänken“, sagt sie.
Der Bedarf an begrünten Treffpunkten im Kiez sei immens. „Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat die größte Bevölkerungsdichte und die wenigsten Parks in Berlin“, sagt sie. Den Menschen fehlten Grünflächen im Quartier zum Verweilen, das habe eine Potenzialanalyse aus dem Jahr 2019 gezeigt.
Wie begrünt man Hauptstraßen?
Das Grün auf dem Testfeld interessiert auch die Wissenschaft. „Wir untersuchen dort mit der Technischen Universität Berlin, wie Regenwasser mithilfe von Pflanzen- und Sandfiltern gereinigt werden kann“, sagt Natalie Hipp, Architektin des Radbahn-Teams. Außerdem testen sie mit den Landschaftsarchitektinnen, in welchen Böden Pflanzen trotz des hohen Verkehrsaufkommens gut gedeihen. Die Informationen sollen der Senatsverwaltung helfen, die Magistralen der Stadt zu begrünen.