„Frau gerät unter Bus“ – warum das Verniedlichen von Verkehrsunfällen aufhören muss
Eine unangemessene Sprache in der Berichterstattung verschleiert oft die Ursachen und Verantwortlichkeiten von Kollisionen im Straßenverkehr. Das sollte sich ändern, findet die Autorin. Eine Mobilitätskolumne
Radfahrerin von Auto erfasst, Lkw übersieht Fußgänger, Auto touchiert Radfahrerin – Meldungen wie diese lesen wir regelmäßig in Zeitungen. Mich machen diese Beschreibungen immer wieder fassungslos. Denn sie erzeugen einen falschen Eindruck, was bei einem Verkehrsunfall passiert ist. Worte wie „erfasst“, „übersehen“, „touchiert“ oder „gerät unter Bus“ verharmlosen nicht nur das Geschehen, sie suggerieren auch, dass der Zusammenstoß von Fahrzeug und Mensch ein tragischer Zufall war. Quasi ein schicksalhaftes Ereignis, dem die Betroffenen nicht entkommen konnten. Dabei zeigen die Daten: das Gegenteil ist der Fall, Verkehrsunfälle sind keine seltsame Fügung.
Allein im vergangenen Jahr wurden laut Statistischem Bundesamt 370.000 Menschen bei 2,5 Millionen Verkehrsunfällen verletzt. Davon 43.000 schwer (Stand Ende Oktober 2024), 2.344 Menschen wurden getötet. Schon die große Menge der 2,5 Millionen Crashs mit teils fatalen Folgen lässt sich nicht mehr als Zusammentreffen ungünstiger Umstände abtun. Wir akzeptieren sonst die tägliche Gefährdung im Straßenverkehr als eine Art unvermeidbares Schicksal. Dabei sind viele dieser Kollisionen das Ergebnis einer Verkehrsplanung, die besonders anfällige Gruppen wie Fußgängerïnnen und Radfahrende nur schlecht vor Autofahrenden schützt, wenn diese Fehler machen. Und diese schlechte Planung wird durch eine unangebrachte Sprache abgemildert.
Wo Fehler und Unachtsamkeiten verheerende Folgen haben, zeigt der „Unfallatlas Deutschland“. Die Datenbank dokumentiert akribisch jede Kollision in jeder Straße. Politik und Verwaltung könnten diese Daten nutzen, um den Verkehr für die Schwächsten auf der Straße sicherer zu machen.
Aber selbst in Berlin, wo laut Mobilitätsgesetz jedes Jahr 30 besonders unfallträchtige Kreuzungen umgebaut werden sollten, verbummelt die Verkehrssenatorin den Umbau. Im Jahr 2023 ließ der Senat unter Führung der CDU gerade mal sieben Knotenpunkte entschärfen, im Jahr 2024 waren es nur wenige mehr. Fast scheint es so, als werden in Berlin Verletzte im Straßenverkehr billigend in Kauf genommen.
Das wirft die Frage aus, wie viele Verletzte, Schwerverletzte, Tote und Traumatisierte für Berlins Politikerïnnen akzeptabel sind? Und wie viele sind es für uns alle bundesweit?
Die Unfallzahlen, der Unfallatlas und 43.000 Schwerverletzte sollten ein Anlass sein, den Verkehr sicherer zu gestalten. Um das zu schaffen, muss man jedoch anerkennen, dass eine Verkehrsgewalt besteht und die Ursachen dafür identifizieren. Da spielt auch die Wortwahl in der Berichterstattung eine Rolle.
Überschriften wie Auto gerät auf Gehweg – Achtjährige tödlich verletzt, Auto rast bei Rot auf Kreuzung - vier Verletzte oder Auto gerät in Gegenverkehr - zwei Schwerverletzte verschleiern die Beteiligung der Autofahrerenden. Sie spielen keine aktive Rolle und sind anscheinend unbeteiligt.
Mit diesen Formulierungen wird das Auto zum Verursacher, ein Gegenstand, der nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das mag in ein paar Jahren zutreffen, wenn Fahrzeuge autonom unterwegs sind. Aber noch werden sie von Menschen gelenkt. Mit ihrer Wortwahl entlassen Polizei und Medien die Autofahrerenden ein stückweit aus der Verantwortung. Damit verspielen sie die Möglichkeit, den Vorgang kritisch zu hinterfragen und Lösungen zu diskutieren.
Anders verfahren die Medien mit den beteiligten Radfahrerïnnen und Fußgängerïnnen. Sie werden in der Überschrift fast immer konkret genannt: Hamburg: 6-jähriges Kind auf Zebrastreifen von Auto erfasst, Fußgänger von Auto erwischt und gestorben, Frau gerät unter Bus und stirbt.
Allerdings wirken Worte wie „erfasst“, „erwischt“ und „gerät“ zum Schildern der Kollisionen ebenso bizarr wie euphemistisch. Sie verharmlosen den brutalen Vorgang und seine Folgen und unterstellen der Frau indirekt eine Tolpatschigkeit und Mitschuld. Denn wie „gerät“ man unter einen Bus oder einen Lkw?
Diese Schuldumkehr oder vermeintliche Mitschuld von Radfahrenden und Fußgängerïnnen an der Kollision schwingt in vielen Berichten mit. Etwa im September in Hamburg. Damals wurde eine Radfahrerin in Hamburg von einem Lkw überrollt und getötet. Die Polizei erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass die 71-jährige Seniorin unvermittelt vom Gehweg auf den gekennzeichneten Radfahrweg auf der Fahrbahn wechselte. Daraufhin sei der parallel fahrende Lkw mit ihr zusammengestoßen und habe sie überrollt.
Demzufolge hat die Radfahrerin den Zusammenstoß mitverursacht, weil sie überraschend auf die Radspur wechselte. Das ist falsch, denn die Frau hat sich regelkonform verhalten, weil sie auf den gekennzeichneten Radweg wechselte.
Diese unterschwellige Unterstellung einer Teilschuld von Radfahrenden oder Fußgängerïnnen hat eine gewisse Tradition. Vor einigen Jahren wurde regelmäßig erwähnt, ob die Verletzten und Getöteten einen Helm trugen – obwohl für Erwachsene keine Helmpflicht gilt. Inzwischen ist das zurückgegangen, kommt aber weiterhin vor.
Im Fall der 71-jährigen Seniorin stellte die Polizei Tage später richtig, dass sich die Radfahrerin vollkommen regelkonform verhalten habe und die Lastwagenfahrerin verbotenerweise den Radfahrstreifen gekreuzt hatte.
Wir können also über Verkehrsunfälle anders berichten. Unsere Sprache ist nicht statisch, sondern verändert sich mit den Werten und Ansprüchen, die wir als Gesellschaft formulieren. Wenn wir die Zahl der Verkehrstoten nicht länger hinnehmen wollen, sollte mit der Infrastruktur auch die Sprache angepasst werden. Solange Menschen unter Busse „geraten“ oder auf dem Gehweg von Autos „erfasst“ werden, fehlt den Verkehrsplanerïnnen jeglicher Handlungsdruck, um die Infrastruktur sicher umzubauen.