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Strukturen wie bei einem Blick durch das Mikroskop: Die Fotogramme von Anneliese Hager
Anneliese Hager publizierte ihre Fotogramme in Zeitschriften, von Museen angekauft wurden sie nicht
Die Kunsthalle Mannheim zeigt erstmals in Deutschland einen Überblick des Werks der vergessenen surrealistischen Künstlerin und gibt Einblick in ihr Leben

Was sehen wir? Wasser, eine andere Flüssigkeit? Wo befindet sie sich? In der Natur oder in einem Labor? Anneliese Hagers (1904–1997) kameralose Fotografien geben Rätsel auf, versetzen uns in den Zustand der Neugierde, der Offenheit, des Übergangs. Laut der beiden Psychoanalytiker Sigmund Freud und C. G. Jung gewinnt im Traum das Unbewusste Gestalt. Eben deshalb arbeiteten die Surrealisten mit Traumbildern und schalteten den Verstand beim Malen oder Schreiben systematisch aus, um tiefere Schichten menschlichen Erlebens zu erkunden.
Anneliese Hager entdeckte diese Verfahren Mitte der 1930er Jahre für sich und gehörte in der Nachkriegszeit zur europäischen Avantgarde. Heute kennt kaum jemand mehr ihren Namen. Dabei lohnt es sich, Hagers Werk näher zu betrachten, ihre schwierige, vom Zweiten Weltkrieg geprägte Geschichte zu erzählen.
Wer etwas erfahren will über Anneliese Hager, muss ihre Gedichte lesen. In dem 1945 entstandenen Gedicht Ich war …heißt es: „Ich war ein Tempel / in verrufener Straße / verborgen in der mattgestreiften Nacht / in der Gesellschaft meiner Träume / ist meine Stimme aufgewacht. Sie ist das Flackern / in verwirrten Fragen / die als Gebete in den Himmel fliegen / und in der Ferne längst versunkener Zeiten / stumm auf verlassenen Altären liegen.“
Ich war ein Tempel
in verrufener Straße
verborgen in der mattgestreiften Nacht
in der Gesellschaft meiner Träume
ist meine Stimme aufgewacht.
zitiert nach: Rita Bischof, Elsiabeth Lenk (Hg.), Anneliese Hager, Die Rote Uhr und andere Dichtungen, Zürich 1991
Wie konnten einer 1904 in Westpreußen geborenen Frau ohne akademische Ausbildung solche sprachlichen Bilder gelingen? Einer einst jungen Person, die 1920 in Berlin an der Frauenfachschule Lette-Verein eine Ausbildung als Fotografin und Laborantin absolvierte und im Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Dahlem arbeitete, wo sie Mikrofotografien herstellte? Damals schon erinnerte sie das, was sie durch das Mikroskop erblickte, an kubistische Bilder, die sie im Museum gesehen hatte, sagt die Kunsthistorikerin Lynette Roth, die die erste umfassende Schau der Fotogramme Hagers in der Kunsthalle Mannheim kuratierte. „Sie hatte ein Verständnis für Formen und die neue Vision der Zeit. Erst später entschloss sie sich, selbst mit der Fotografie zu experimentieren. Manche ihrer späten Fotogramme zeigen organische, zellenförmige Strukturen.“


Forschender Blick, übereinandergelegte Hände. Dieses private Porträt entstand 1948 in einem der zwei kleinen Zimmer, in denen sie als Ausgebomte nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem Bauern in Königsförde unweit von Hameln einquartiert war – zusammen mit ihren jüngsten Kindern. Ihre kräftigen Unterarme verraten körperliche Arbeit. Die Wäsche musste im nahen Bach gespült, Mahlzeiten auf den Tisch gestellt, Kinder versorgt werden. Und doch muss 1948 für sie ein Hoffnungsjahr gewesen sein. Als Ehrengast der Photographischen Anstalt Stuttgart war Anneliese Hager eingeladen, ihre neuesten Fotogramme in einer Ausstellung zu zeigen, die von Stuttgart über Innsbruck und Neustadt nach Hannover wanderte.
Anneliese Hagers Beitrag zum Medium Fotogramm
Fotogramme entstehen in einem kameralosen Verfahren, bei dem Gegenstände, Materialien bei Rotlicht auf lichtempfindliches Papier gelegt und dann belichtet werden. Anneliese Hager erzeugte auf diese Weise komplexe, vielschichtige, abstrakte Bilder. Sie experimentierte mit Dingen, die sie vor der Tür, in der Natur oder im Haushalt fand, mit Samen, Mehl, Scherben, Wasser oder Schaum. „Materialien, die den Begriff Gegenstand kaum mehr erfüllen“, wie es die Philosophin Rita Bischof ausdrückt. Bischof publizierte 1991 zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk eine Auswahl der Gedichte Hagers. Für Rita Bischof fügte die Fotografin und Lyrikerin dem fotografischen Verfahren eine neue Dimension hinzu. „Das Zarte, Poetische, Schwebende ihrer Fotogramme rührt nicht zuletzt von diesem Anti-Material her“, schreibt sie in ihrem Nachwort. Das Fotogramm, auf dem die Schatten der Objekte hell erscheinen, spiele mit der Sicht auf eine verkehrte Welt.
Ich bin sicher, dass die Licht- und Schattentechnik, die sie in ihren Fotos und Fotogrammen angewandt hatte, aus der Natur stammten. Sie war ein sehr großer Beobachter.
Waltrud Kupsch, Tochter von Anneliese Hager
„Die Fotogramme meiner Mutter waren bei uns nie ein Thema“, sagt Waltrud Kupsch, die jüngste, 1936 geborene Tochter von Anneliese Hager in einem Interview. Sie habe ihre Bilder abends angefertigt, wenn alle schliefen. „Ich bin sicher, dass die Licht- und Schattentechnik, die sie in ihren Fotos und Fotogrammen angewandt hatte, aus der Natur stammten. Sie war ein sehr großer Beobachter“. Wenn Schnee die Landschaft verändert habe, sei sie von dem Helldunkelspiel fasziniert gewesen, auch von Gewässern. Anneliese Hager habe die Namen vieler Pflanzen und Pilze gekannt, ein Wissen, das sie bei gemeinsamen Sparziergängen an ihre Kinder weitergegeben habe. Die Künstlerin starb im Jahr 1997. Waltrud Kupsch kümmerte sich nach dem Tod ihrer Mutter um das Werk Hagers.
Hagers Nachlass wurde von den Harvard Art Museums erworben
2018 übernahm – dank des Engagements der Kuratorin Lynette Roth – das Busch-Reisinger-Museum in Cambridge/Massachusetts das Werk. Es sei nicht einfach gewesen, den Nachlass ausfindig zu machen, sagt die Kunsthistorikerin Roth, die an den Harvard Art Museums deutsche Kunst der Nachkriegszeit erforscht. Bevor sie den Nachlass fand, habe sie viele deutsche Museen angeschrieben, doch keines habe ein Werk von Hager in der Sammlung gehabt. Das müsse sich ändern. Es ist nur ein Teil von maximal 160 Unikaten bekannt. „Es fehlen uns zehn Jahre. Hager hatte bereits 1935 begonnen, mit der kameralosen Fotografie zu experimentieren. Doch verlor sie bei der Bombardierung Dresdens und dem darauffolgenden Feuersturm 1945 ihre ganze Habe.“ Mit ihren Töchtern sei sie gerade noch den Flammen entkommen. Dieses Erlebnis habe den Blick der Künstlerin auf die Welt verändert, sagt Roth.
In ihrer bekanntesten Prosadichtung Die rote Uhr, die erstmals 1947 publiziert wurde, spielt die Künstlerin unmittelbar auf die Erlebnisse in Dresden an: „Ich weiß, dass unter den Pfeilen von Sirenen das Echo der Träume verendet. – Siehst Du die kleinen Öllampen, die in wahnsinnigen Schlünden zaghaft ihre Bahnen ziehen? Sie schrauben ihr gelbes Auge verworren und scheu in die Finsternis und lächeln – lächeln über dem Grab der Zukunft.“ Hager verbirgt das Grauen des Überlebenskampfes hinter poetischen Metaphern, als ob sie sich die Erinnerung an die Bedrohung auf diese Weise vom Leib halten könnte.
Diese zwischen Unabhängigkeit und Familie schwankende Frau scheint ihr inneres und äußeres Leben weitgehend voneinander getrennt zu haben. In einer Prosadichtung von 1948 beschreibt sie die Funktion ihrer inneren Welt: „(…) wenn dieser Turm nicht wär, dieses nach innen gewandte Mirakel, das wie ein sprechendes Räderwerk zunimmt an Lauten, Geräuschen, Klängen, Worten, Lockrufen, Warnungen – immer zunimmt, wie ein glitzernder, spiegelnder, knisternder Film uns aus den verworrenen Emulsionen jeder Gegenwart den reinen Kern kristallisiert (…)“. Hagers Kristall ist die Kunst, die Poesie, die sie als kostbares Extrakt ihrer Erlebnisse und Erfahrungen versteht.
Begegnung mit Karl Otto Götz
Um 1935 begann Hager mit Fotogrammen zu experimentieren. Da hatte sie bereits eine erste Ehe hinter sich und Zog nach Aachen, um an der Kunstgewerbeschule Weberei zu studieren. Nebenbei fotografierte sie – unter anderem Werke eines sehr jungen Mannes namens Karl Otto Götz. Bald begann ein gemeinsames Künstlerleben außerhalb des Radars nationalsozialistischer Kontrolle. Drei Kinder aus erster Ehe lebten bei ihr, ein viertes erwartete sie 1936 von ihrem neuen Partner Götz.
Obwohl moderne Kunst verboten war, bildeten sich schon während der NS-Zeit an mehreren Orten private Künstlerkreise. In Dresden verband Anneliese Hager eine enge Freundschaft mit den Maler-Fotografen Edmund Kesting und seiner Frau Gerda. Die wiederum hatten Kontakt zu dem Kunsthistoriker Will Grohmann, einem engagierten Unterstützer der Moderne. Nach Kriegsende und der Einquartierung in Königsförde knüpften Hager und Götz neue Kontakte. Dabei leistete Götz die von ihm gegründete ZeitschriftMeta gute Dienste. Darin publizierte er Werke befreundeter Künstler und Lyrik – unter anderem von Anneliese Hager.

Im Jahr 1949 nahmen Hager und Götz an der Exposition Internationale d’Art Expérimental, der radikal mit der Vergangenheit brechenden Gruppe CoBrA im Amsterdamer Stedelijk Museum teil. Im Jahr darauf zeigten sie ihre Arbeit in der Berliner Galerie Rosen, einem Sammelbecken unterschiedlicher Kunstströmungen mit Schwerpunkt Surrealismus. Obwohl es künstlerisch voran ging, schien es Anneliese Hager schwer zu fallen, ihren inneren Turm zu finden, „der über dem grauen Lächeln der Sphinx immer wieder neu die Monde deiner Dunkelheiten entzündet“.
Als ihr im Jahr 1950 von der Technischen Fachhochschule Düsseldorf eine Stelle angeboten wurde, sagte sie ab. Der Kinder wegen, heißt es. Das Paar zog stattdessen von Königsförde nach Frankfurt am Main und wurde Teil des Kreises um die improvisierte Zimmergalerie Franck, wie Götz 2012 in einem Interview erzählt. Kein Wort verliert er bei dieser Gelegenheit über Anneliese Hager. Dabei sicherte sie an dem neuen Wohnort das Überleben der Familie, indem sie als Pflegekraft arbeitete. Laut Lynette Roth finanzierte sie zudem die Zeitschrift Metamit.
Übersetzerin von Jarry, Char, und Yourcenar
Die zwischen Alltag und Kunst zerriebene Frau registrierte über die Jahre den Verlust ihrer Sichtbarkeit sehr wohl. Das Fotogramm war eigentlich ein Medium der Avantgarde der 1920er Jahre gewesen. Nun dominierte die Malerei. Vielleicht hing ihre Zurückhaltung aber auch mit ihrem Alter zusammen. Hager war zehn Jahre älter als Götz. Während seine Karriere 1959 mit einer Professur an der Kunstakademie Düsseldorf ordentlich Fahrt aufnahm, blieb sie von seinen neuen Kontakten ausgeschlossen. In dieser Phase forcierte sie ihre Übersetzertätigkeit aus dem Französischen. Bekannt wurden ihre Übertragungen surrealistischer Texte von Alfred Jarry oder des in der Kunstwelt geschätzten Widerstandskämpfers René Char sowie ihre Mitarbeit an der deutschen Fassung des Romans Die schwarze Flamme von Marguerite Yourcenar, der ersten Frau, die in die Académie française aufgenommen wurde.
Über das Schreiben blieb sie in Kontakt mit ihrem „inneren Turm“. Noch einmal schuf sie eine große Serie zugleich magischer wie nüchterner ungegenständlicher Fotogramme, die sie in dem Buch Weiße Schatten 1964 zusammen mit ihren Gedichten veröffentlichte. Einmal legte sie nur aus einem Streifen groben Stoffs ein Oval auf das Fotopapier. Verlorenes Gesicht nannte sie dieses bis auf die gitterhafte Struktur der Kontur schwarze Bild. 1965 beendete Anneliese Hager ihre Arbeit an den Fotogrammen und trennte sich von K.O. Götz.


Ihr bildnerisches Werk geriet in Vergessenheit, obwohl es in dem Standardwerk Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die andere Seite der Bilder – Fotografie ohne Kameraaufgenommen vorgestellt wurde, das der Künstler und Theoretiker Floris M. Neusüss zusammen mit Renate Heyne 1990 publiziert hatte. Es gab in den 1990er Jahren auch einige kleinere Ausstellungen ihrer Fotogramme. Die Museen jedoch, so Lynette Roth, zeigten kein Interesse, etwas von Hager zu erwerbwn – als Beitrag zur Kunst des Informel, der damals modernen, von Kompositionsregeln befreiten ungegenständlichen Malerei. Ihr gattungsübergreifendes Werk, das sich in Wort und Bild äußerte, passte offenbar in keine der Kategorien, nach denen gesammelt wurde. Das ist schade. Anneliese Hagers Werk, eine Mischung aus surrealer Weltsicht, Faszination an der Vielfalt natürlicher Prozesse und moderner Technik, könnte in einer Zeit des technologischen Umbruchs und der Krisen wieder einen Nerv treffen.
Bis zum 11. Februar 2024 ist eine kleine Retrospektive des Werks von Anneliese Hager in der Kunsthalle Mannheim zu sehen. Dazu erschien im Deutschen Kunstverlag ein Katalog, herausgegeben von Lynette Roth, zum Preis von 17 Euro.