Braunkohletagebau Hambach: Ein Bericht vom Kristallisationpunkt des Klimawandels

Die Künstlerin Silke Schatz arbeitet im größtenteils abgerissenen Dorf Manheim. Laut der neuen Leitentscheidung der Landesregierung NRW soll es 2024 abgebaggert werden.

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Das Porträt einer Frau mit Sonnenbrille und Kappe vor Tagebau-Kulisse

Ein mehr als tausend Jahre altes Dorf verschwindet durch den Braunkohletagebau von der Landkarte. 2024 soll das Land, auf dem es stand, abgebaggert werden. Das bestätigt die vor kurzem veröffentlichte Leitentscheidung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Die Künstlerin Silke Schatz findet, dass der dem Untergang geweihte Ort noch etwas zu sagen hat.

Von unserem Standort aus wirkt das gigantische Gerät wie ein exotisches Insekt. In der Ferne frisst sich ein hundert Meter hoher und zweihundert Meter langer Schaufelradbagger durch die obere Lössschicht. Selbst die Beschäftigten der Fuhrunternehmen halten an und werfen einen Blick auf die Mondlandschaft des Hambacher Tagebaus. Wenig später kommt ein Kirchturm in Sicht. Das Ortsschild Manheim ist abmontiert – stattdessen der Hinweis auf den Inhaber RWE Power.

Wir kommen an einem ausgeweideten Anwesen vorbei, dessen Türen offenstehen. Es wirkt in seiner einsamen Lage pittoresk wie eine Ruine. Es ist eines der letzten Überbleibsel einer Gemeinde, in der 1600 Menschen lebten, wo es Läden, eine Kita, ein Jugendzentrum und sogar ein Schwimmbad gab. Auch die Straßenlaternen, die in der verkarsteten Landschaft stehen, haben etwas Surreales. Bis vor kurzem hätten die wegen der letzten Bewohner nachts weiterhin gebrannt, erzählt Silke Schatz, die seit drei Jahren einmal wöchentlich von Köln nach Manheim nahe Kerpen fährt.

Blick auf den Bagger an der Abbaustelle, blauer Himmel am frühen Nachmittag
Aus der Ferne unscheinbar, aus der Nähe maximal effizient: Der riesige Schaufelradbagger am Hambacher Tagebau.

Unweit des früheren Marktplatzes stehen alte Bäume, der einzige infrage kommende Platz an diesem heißen Tag, an dem man das Auto mit dem Proviant abstellen kann. Gegenüber, wo Gestrüpp den Boden bedeckt, soll eine Gaststätte gewesen sein. Wir stapfen durch Brennnesseln und Disteln. Silke Schatz nennt Straßennamen wie Buirer Straße oder Esperantostraße und lateinische Bezeichnungen von Pflanzen – Carduus, Dipsacus fullonum, Conyza canadensis. Es ist, als verorte sie das Gebiet anhand der Standorte der vegetabilen Neuankömmlinge neu. Die Künstlerin archiviert, was sie findet, auch von Wind und Wetter abgeschliffene Scherben, die sie wie archäologische Funde in Vitrinen ausstellt.

Konservieren, Archivieren, Fotogramm

„Ich stelle mir immer vor, dass es hier bald nichts mehr gibt“, sagt Silke Schatz. Sie interessiert sich für die Relikte des Gemeinwesens, aber auch für die sich selbst überlassene Vegetation, eine Mischung aus Wild- und Kulturpflanzen. Sogar Yucca-Palmen hat sie gefunden, die auf einen Hang zur Exotik hinweisen – selbst im ländlichen Raum. Sie fotografiert die Pflanzen, stellt aber auch Fotogramme her, die sie „Schattenabnahmen“ nennt. Die Conyza canadensis, die jetzt noch ungehindert wuchert, wird im nächsten Sommer aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Abraumhalde verrotten. Wie die erloschenen Straßenleuchten existiert das Kanadische Berufskraut gewissermaßen nurmehr in einem Schattenreich des Übergangs.

Für mich ist Manheim aus vielen Gründen der Nabel der Welt. Der Ort reflektiert viel, er ist wie ein Juwel. Was da alles passiert ist, seitdem ich da bin. Er ist ein Kristallisationspunkt des Klimawandels, der Energiekrise, des Braunkohletagebaus, der erneuerbare Energien.

Silke Schatz, Künstlerin

Riesige Brache mit mannshoher Vegetation. Dazwischen eine Person mit Kappe.
Im abgerissenen Dorf Manheim haben wilde Pflanzen das Regiment übernommen. Die Künstlerin Silke Schatz bestimmt und archiviert die Pflanzen.

Und wenn sie etwas interessant findet wie etwa die sich ausbreitenden Brombeerensträucher, dann transformiert sie die Früchte, kocht Marmelade ein, die allerdings nicht zum Verzehr gedacht ist. Diese Form der Konservierung erinnert an das Landleben, knüpft aber auch an einen Trend in der Kunst an. Fermentierung, das Einkochen von Obst und Gemüse werden als Verfahren der Transformation von Nahrungsmitteln begriffen, gewissermaßen als Zusammenarbeit mit den unsichtbaren Bakterien.

Das Terrain erweist sich als unerschöpflich. Am Ende der großen Allee eines alten Friedhofs, wo früher die Gedenkstätte für die Gefallenen der beiden Weltkriege ihren Platz hatte, findet Silke Schatz eine Glasscherbe. Das Überbleibsel einer Vase oder eines Grablichts? Die hochgewachsenen Rotbuchen spenden an diesem Tag wohltuende Kühle, grünes Gras bedeckt den Boden in dicken Matten. Fast alle Gräber wurden bereits entfernt. 2012 begann die Umsiedlung, der Lebenden und der Toten. Was zieht eine Künstlerin an einen Ort, wo selbst das Gedenken kurzerhand verlagert wurde?

Manheim als Kristallisationspunkt des Klimawandels

„Für mich ist Manheim aus vielen Gründen der Nabel der Welt, “ sagt Silke Schatz. „Der Ort reflektiert viel, er ist wie ein Juwel. Was da alles passiert ist, seitdem ich da bin. Er ist ein Kristallisationspunkt des Klimawandels, der Energiekrise, des Braunkohletagebaus, der erneuerbare Energien.“ Sie spielt auf den umweltschädlichen Energieträger Braunkohle an, der maßgeblich zum Klimawandel beigetragen hat. Das im Schwinden begriffene Manheim ist eines der letzten Dörfer, die von den kulturellen, sozialen und ökologischen Konsequenzen des Braunkohletagebaus erzählen können.

Brache mit von der Sonne vertrockenten Pflanzen. Dazischen eine Frau mit Sonnenbrille und Kappe.
In einem Fotogramm-Verfahren, der Cyanotypie, hält Silke Schatz die Schatten der in Manheim wuchernden Pflanzen fest.

Bald wird sich auf dem Terrain niemand mehr orientieren können. Damit werde der Ort bedeutungslos. Er neutralisiert sich. Für sie als Künstlerin gelte das aber nicht. „Durch diese intensive Arbeit stellt sich bei mir der Impuls ein, meine Beobachtungen in die Welt der Kunst und der Kultur einzubringen.“

Einige der in Manheim entstandenen Werke sind aktuell im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen. Der Titel der Gruppenschau lautet Das Parlament der Pflanzen II. Es geht um intelligente Funktionsweisen von Organismen, um Symbiose als gesellschaftliches Gegenbild zum parasitären Umgang mit der Natur. Auf künstlerischer Ebene schlägt Silke Schatz mit ihrem Manheim-Projekt eine solche Symbiose vor. Durch ihre Arbeit vor Ort wurde sie zu einer Pionierin eben jenes Grenzlandes zwischen Leben und Tod, Anfang und Ende.

Sie erkannte in der Einöde des verlassenen Dorfes die Schönheit und Kraft der Wilden Karde, einer im Trockenzustand bizarr geformten Heilpflanze. Sie entdeckte ein Wäldchen von verwilderten Thuja-Bäumen und Zierkirschen, in dem sich ein Reh eingerichtet hat, und im sortierten Schutt eines abgerissenen Anwesens Rosenstöcke, die sie zu Exponaten ihrer Ausstellungen erhob. „Ich stehe zu dem Prozesshaften meiner Arbeit“, sagt sie. Die Manheim-Recherche ist bislang ihr umfangreichstes Langzeitprojekt. Silke Schatz interessiert sich für Orte, an denen sich gesellschaftliche Konflikte niederschlagen und setzte sich mehrfach mit der Protestkultur in Deutschland auseinander.

Bushaltestelle als Skulptur

Die stille Kärrnerarbeit ihres Vorgehens steht im krassen Gegensatz zum Aktivismus der jüngeren Generation, für den sie durchaus Sympathien hegt. Für sie als Künstlerin sieht Widerstand jedoch anders aus. Nur einmal nahm sie an einer Hambi-Demo teil – als Abgesandte ihres Projekts.

Der Titel ihrer Werkserie Manheim Calling war anfangs nur der Titel einer Skulptur. Silke Schatz hatte den Unterstand einer Bushaltestelle in Manheim fotografisch dokumentiert und vermessen. Er sollte 2021 in ihrer Einzelausstellung Manheim Calling im Kunsthaus NRW Aachen Kornelimünster und später in der Schau Vom Leben in Industrie-Landschaften im Dürener Leopold-Hoesch-Museum als Hinweis auf das gemeinschaftliche Leben des Dorfes gezeigt werden. Eines Tages war die massive Eisenkonstruktion verschwunden. Die Künstlerin ließ das Objekt von einem Schreiner aus Holz nachbauen.

Vitrine mit Scherben, eine Frau zeigt mit dem Finger auf einzelne Stücke
Silke Schatz präsentiert in Manheim gefundene Scherben wie archäologische Funde in Vitrinen.

Jeder Abriss eines Gotteshauses beschert dem inzwischen auf erneuerbare Energien umgeschwenkten Konzern RWE negative Schlagzeilen, nagt an der Akzeptanz des langwierigen Rückbaus des Braunkohletagebaus. Aktuelle Pläne schlagen vor, die Manheimer Kirche als Museum zu bewahren – am Ufer der sogenannten Manheimer Bucht. Die soll entstehen, wenn die gigantische Baugrube in ferner Zukunft geflutet wird – inklusive großer Teile des Ortes Manheims. Das wäre aber gar nicht mehr zwingend. Der Sand und Kies, den RWE dort gewinnen will, könnte auch andernorts beschafft werden – ohne ein bestehendes Ökosystem zu zerstören.

Gemeinwohlziel ist das Klima und nicht mehr die Kohle

RWE und die Landesregierung rechtfertigten über Jahrzehnte die Zerstörung von zahlreichen Dörfern und die Umsiedlung von rund 50.000 Menschen mit dem sogenannten Gemeinwohl, was damals gleichgesetzt wurde mit der Energiesicherheit für Nordrhein-Westfalen. Die Bedeutung des Begriffs hat sich jedoch geändert. Das Allgemeinwohlziel sei nun das Klima und nicht mehr die Kohle, schreibt die NRW-Landtagsabgeordnete Antje Grothus in dem 2020 erschienenen Band „Dividende frisst Heimat“. Das von Hubert Perschke herausgegebene Buch dokumentiert das Engagement der Bürgerbewegung, zu der sich Bewohner aller vom Tagebau betroffenen Dörfer zusammengeschlossen haben. Die Rettung von Dörfern und die Begrenzung des Tagebaus Garzweiler II ist vor allem ihnen und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zu verdanken.

Hubert Perschke, Sozialwissenschaftler und Fotograf, hält seit Jahrzehnten die Folgen des Tagebaus mit der Kamera fest. In seiner aktuellen Bestandsaufnahme im Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath befasst er sich mit eben diesen, infolge der verkleinerten Abbaufläche geretteten Dörfer Keyenberg, Kuckum, Berverath, Ober- und Unterwestrich. In seinem Einführungstext zur Ausstellung bemerkt Perschke, dass noch 2018 im Kohleausstiegsgesetz die Notwendigkeit der Zerstörung dieser Orte festgeschrieben worden war. 2022 konnte die Verkleinerung des Tagebaus erreicht werden und damit der Erhalt der fünf Dörfer. Nach der neuen, vor kurzem veröffentlichten Leitentscheidung 2023 haben nun frühere Einwohner*innen die Option ihren Besitz zurückzukaufen. Die Konditionen dafür sind jedoch noch unklar.

Die Leitentscheidung der von CDU und Grünen geführten Regierung sieht weiterhin vor, Manheim und damit eine über tausend Jahre alte Kulturlandschaft zu zerstören. Dabei weisen dort archäologische Funde auf Überreste römischer Siedlungen hin.

Der Manheimer Landwirt Heinrich Portz ist zur Eröffnung nach Herzogenrath gekommen und steht mit Antje Grothus an einem der Stehtische. Er gehört zu den Menschen, die nicht so schnell aufgeben. Wenn er zuhause aus dem Fenster schaue, könne er jetzt die Weite spüren, sagt er. In den dicht an dicht stehenden Häusern von Manheim-neu fühle er sich wie in einem Vogelkäfig. Antje Grothus, die sich seit Jahren für die Interessen der Anwohner*innen einsetzt, will Manheim noch nicht aufgeben. „Ich versuche auf der politischen Ebene das Manheimer Loch zu verhindern“, sagt sie an diesem Abend des 8. September 2023. Vielleicht hat sie noch ein paar Trümpfe im Ärmel, um den Ort und das fruchtbare Land zu retten.

Egal wie lange Silke Schatz in Manheim arbeiten wird: Ihr Archiv Manheim Calling wird in den Sammlungen der Museen die Zeit überdauern und dort ein internationales Publikum erreichen. Für sie bietet das Terrain mit Verfallsdatum eine Inspirationsquelle, wichtiger aber ist für die Künstlerin das gesellschaftliche Spannungsfeld, in dem sich Manheims Transformation ereignet. Die Kargheit des Ortes strahlt selbst für Besucher*innen etwas Magisches aus. Indem Silke Schatz ihr Atelier in dieses vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelte Stückchen Erde verlegt hat, katapultiert sie es zurück in das öffentliche Interesse.

Der Text wurde am 30.9.2023 aktualisiert.

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