Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
Wenn in Ungarn unfaire Wahlen stattfinden, dann ist das zwar schlimm und bedauerlich, aber vor allem für die Ungar_innen und nicht für mich. Sollte man meinen. Dass das nicht so ist, gehört zu den Dingen, die mir unser wirklich sehr spannender Constitutional-Resilience-Workshop (mehr dazu demnächst) in dieser Woche vor Augen geführt hat. In sechs Monaten, bei den Europawahlen am 26. Mai 2019, werden wir live und in Farbe sehen können, wie sehr die Krebszellen der ungarischen Autokratie schon längst durch unser aller Blutkreislauf wandern.
Wahlen in Ungarn, das ist bekanntlich seit 2014 das Urteil der OSCE-Wahlbeobachter, sind frei, aber nicht fair. Es werden keine Stimmzettel gefälscht, die Auszählung ist im Großen und Ganzen korrekt, niemand wird gewaltsam an der Stimmabgabe gehindert. Das ist alles Old-School-Autoritarismus, das hat Viktor Orbán gar nicht nötig. Nein, dass Wahlen nur er gewinnen kann und niemand sonst, wird auf subtilere und schwerer greifbare Weise sichergestellt.
Über die Parteienfinanzierung beispielsweise. In Deutschland sind wir seit dem Parteispendenskandalen der 80er und 90er Jahre aus guten Gründen gewohnt, eine strikte Regulierung und Aufsicht über die Transparenz und Sauberkeit parteilicher Geldquellen für eine gute Sache zu halten. In Ungarn zeigt sich aber, dass diese Regulierung auch ein sehr nützliches Tool für Autokraten sein kann, die politische Konkurrenz klein zu halten. Im Januar 2018, kurz vor den Parlamentswahlen, fand der zuständige Rechnungshof des Parlaments in den Abrechnungen mehrerer Oppositionsparteien Fehler. Vor allem die größte Oppositionspartei, die rechtsextreme Jobbik, hatte angeblich Plakatflächen zu verbilligten Preisen erworben, was der Rechnungshof als illegale Parteispende wertete und Jobbik zur Rückzahlung von 663 Millionen Forint (ca. 2 Millionen Euro) verpflichtete. Die Regierung stundete allerdings die Zahlung dieser ruinösen Summe großherzig bis zu einem unbestimmten Zeitpunkt nach der Wahl.
Die meisten Parteien in Ungarn hängen am Tropf des Staates; Mitgliedsbeiträge und Spenden machen nur einen geringen Teil ihrer Einkünfte aus. Der Rechnungshof, um dessen Unabhängigkeit es genauso gut oder schlecht bestellt ist wie um die aller anderen Staatsinstitutionen im Fidesz-Zweidrittelmehrheitsland, prüft die Parteifinanzen routinemäßig im Zwei-Jahres-Rhythmus auf Basis einer sehr vagen Gesetzeslage. Wenn er angeblich einen Fehler findet, führt das dazu, dass die Partei den angeblich illegal erlangten Betrag an den Staatshaushalt abführen muss und noch einmal den gleichen Betrag von der staatlichen Parteienfinanzierung abgezogen bekommt. Wie der Rechnungshof genau zu seinen Zahlen kommt, legt er nicht offen, und wer das kritisiert, wird als politisch motiviert abgetan. Gegen die Festsetzung des Rechnungshofs kann die betroffene Partei nicht vor Gericht ziehen. Was bedeutet, dass es auch keine weitere Rechtsprechung dazu gibt, wie die vage Gesetzeslage auszulegen ist.
Das ist purer Orbán, so clever, so raffiniert. Dagegen sind die Rüpel von der PiS drüben in Polen wirklich bloße Bauerntölpel mit ihren ständigen Verfassungsbrüchen. Das Prunkstück dieser Performance ist die einstweilige Stundung der Sanktion. So bleibt das finanzielle Schwert immer über dem Kopf der Oppositionspartei hängen, ohne dass irgendetwas passiert, wofür sich Orbán groß rechtfertigen müsste. Sie verdankt ihr Weiterleben der Gnade des Herrschers. Bis 2017 hatte sich der Rechnungshof immer zurückgehalten mit Sanktionen. Aber jetzt, plötzlich und unerwartet, saust seine Peitsche nieder. So zieht man sich eine loyale Opposition heran. Emperor Palputin ist sicher sehr zufrieden mit seinem besten Schüler.
Und damit zu den Europawahlen. Wie schon bei den nationalen Parlamentswahlen im April wird Orbáns Regierung unfassbare Summen ausgeben, um das ganze Land von oben bis unten so dick mit toxischem PR-Schaum einzusprühen, dass kein Hälmchen politischer Öffentlichkeit mehr gedeiht. Gegen ihn wird eine Reihe merkwürdig mutloser und unattraktiver Wettbewerber antreten. Orbáns FIDESZ wird keine Mühe haben ihre 12 Sitze im Europaparlament zu halten oder noch auszubauen – Sitze, die der Europäischen Volkspartei sehr kostbar sind, weil sie ihr helfen werden, ihren Anspruch ihres „Spitzenkandidaten“ Manfred Weber auf das Amt des Kommissionspräsidenten zu untermauern. Die EVP wird mit Orbáns Hilfe und dem Versprechen, „Brücken zu bauen“ und „den gespaltenen Kontinent wieder zusammenzuführen“, wieder ein Viertel der Sitze im Europaparlament erobern und stärkste Fraktion werden, und Angela Merkels Nachfolger_in wird, um die CSU nicht zum Feind zu haben, Weber als Kommissionspräsident durchsetzen, und uns allen, ob wir nun in Ungarn wählen und uns bei der ungarischen Wahlaufsicht über die ungarische Europawahl beschweren dürfen oder in Deutschland und bei der deutschen Wahlaufsicht über die deutsche Europawahl, wird man erzählen, dass das alles irre demokratisch und großer Erfolg für die Legitimation der EU ist. Das ist Humbug. Tatsächlich ist die Union institutionell schon längst infiziert – ohnehin schon durch die Mitwirkung von Orbán und seinen Leuten im Rat, wenn Weber an der Spitze einer „Brückenbauer“-Koalition Kommissionspräsident wird, dann erst recht. Den nächsten Constitutional-Resilience-Workshop sollten wir vielleicht über die Frage machen, was passieren kann, wenn die Europäische Union den falschen Leuten in die Hände fällt…
Vertrauliche Papiere
In Großbritannien wankt nicht nur die Regierung, sondern auch der Glauben daran, dass das irgendwie noch gut werden kann mit dem Brexit. Ob Theresa May für ihre Einigung mit der EU eine Mehrheit bekommt, ist ungewiss. KENNETH ARMSTRONG untersucht, ob das so genannte „Backstop-Arrangement“ zur Vermeidung einer harten Grenze in der Nordirland-Frage ein vorläufiges Sicherheitsnetz ist oder eine dauerhafte Falle oder vielleicht sogar ein Trampolin, um zu einer vernünftigen Vereinbarung über das künftige UK-EU-Verhältnis zu springen. TOBIAS LOCK erklärt, was die Einigung für den EuGH bedeutet – insbesondere die geplante Schiedsgerichtsbarkeit, die man in Luxemburg bekanntlich gar nicht gerne sieht. Aber wer weiß… vielleicht wird ja ohnehin nichts draus.
In Deutschland hat die Springer-Presse mit einem geleakten Dokument aus dem Bundesinnenministerium aus dem Flüchtlingsherbst 2015 in dieser Woche versucht, der „Herrschaft-des-Unrechts“-Flamme neues Leben einzublasen. Warum das nicht funktioniert, das BMI-Dokument aber in anderer Hinsicht ziemlich interessant ist, erläutert DANIEL THYM in gewohnt unaufgeregter und informativer Manier.
Ein anderes vertrauliches Papier brisanten Inhalts ist die Stellungnahme des Juristischen Diensts des Rats in Brüssel, der die Kopplung von EU-Budgetmitteln an rechtsstaatliche Standards für rechtlich problematisch hält und sich damit nach Meinung von KIM LANE SCHEPPELE, LAURENT PECH und DANIEL KELEMEN in die Reihe der EU-Institutionen einordnet, die immer noch nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat.
Einigermaßen fassungslos ist auch die Reaktion der Zivilgesellschaft in Bulgarien auf den jüngsten Beitrittsbericht der EU-Kommission, und zwar wegen dessen übergroßer Milde gegenüber der bulgarischen Regierung. Auch hier scheint die Tatsache, dass Bulgariens Regierungspartei Manfred Webers (und Jean-Claude Junckers) Europäischer Volkspartei angehört, der Kommission jede Menge Rechtsstaatssünden aufzuwiegen, so RADOSVETA VASSILEVAs gallenbitteres Resümee.
Zum UN-Migrationspakt, der der AfD in Deutschland als Mobilisierungs-Tool dient, bietet ROBERT UERPMANN-WITZACK eine versöhnlichere Lesart und empfiehlt, die Gelegenheit zu einer Debatte im Bundestag zu nutzen.
Der Vatikanstaat ist bisher selten Gegenstand von Verfassungsblogartikeln gewesen und ist es in dieser Woche auch in nicht ganz naheliegender Hinsicht, nämlich als potenzieller Flaggenstaat für Rettungsschiffe für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, die sonst nirgends mehr eine Registrierung bekommen können. FABIAN ENDEMANN und VALENTIN SCHATZ untersuchen diese Möglichkeit aus völkerrechtlicher Sicht.
Anderswo
JOANNE FISH kritisiert den EGMR dafür, in seinem Urteil zu Protesten gegen Universitätsreformen in Georgien die Forschungsfreiheit nicht ernst genug genommen zu haben.
LEONID SIROTA berichtet von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Neuseeland (eines der drei Länder auf der Welt, die keine geschriebene Verfassung haben), der sich für berechtigt hält, Gesetze für unvereinbar mit dem neuseeländischen Menschenrechts-Gesetz zu erklären.
SIGRID VAN WINGERDEN und JAKUP DRÁPAL preisen die niederländischen Richtlinien für Staatsanwälte, die deren Entscheidungen und Anträge konsistenter machen, als mögliches Vorbild für das Ausland an.
RAFAEL JIMENEZ ASENSIO ärgert sich darüber, dass der spanische Justizrat schon wieder reformbedürftig ist.
ROBERT CRAIG erklärt, was verfassungsrechtlich passiert, wenn die Brexit-Vereinbarung im britischen Parlament keine Mehrheit findet.
MIRIAM INGESON berichtet, dass in Schweden die Spitze von Konzernen, die Menschenrechtsverstöße im Ausland begangen haben, strafrechtlich dafür haftbar gemacht werden können.
Damit wäre ich wieder durch für diese Woche. Ihnen alles Gute!
Ihr Max Steinbeis