Zukunft der Arbeit: „Das derzeitige Modell von Erwerbsarbeit funktioniert nicht!“

Die Soziologin Karin Jurczyk hat ein Konzept entwickelt, bei dem Menschen im Job regelmäßig Auszeiten nehmen können. Das sei eine Voraussetzung, um auf lange Sicht ausreichend Arbeitskräfte zu haben. Weniger arbeiten gegen den Fachkräftemangel – ist das eine gute Idee? Ein Interview.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
10 Minuten
Auf einer Tafel am Eingang zu einem Biergarten steht „Personalnot! Wir bitten Sie um Geduld!“. Wie vielerorts fehlen auch hier Arbeitskräfte.

Die Nachrichten aus der Wirtschaft sind nicht gut. Die Industrie droht mit dem Abbau von Arbeitsplätzen, gleichzeitig suchen viele Branchen händeringend Fachkräfte. In regelmäßigen Abständen fordern Politik und Arbeitgebervertreterïnnen, dass die Deutschen die Erwerbsarbeit ausweiten, um die Wirtschaft voranzubringen und dem Fachkräftemangel zu begegnen. Eine gute Idee? Keineswegs, sagt Karin Jurczyk. Die Sozialwissenschaftlerin leitete 17 Jahre lang die Abteilung für Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut, einem der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas. Sie plädiert für viel mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit. Das von ihr gemeinsam mit dem Rechtswissenschaftler Ulrich Mückenberger entworfene Optionszeitenmodell sieht vor, dass Menschen im Laufe ihres Erwerbslebens immer wieder die Möglichkeit haben, aus dem Beruf auszusteigen. Sie können in dieser Zeit Kinder versorgen, ein Ehrenamt ausüben, sich weiterbilden oder anderen Interessen nachgehen. Nur so, sagt Karin Jurczyk, ließen sich die großen gesellschaftlichen Herausforderungen meistern. Ein Gespräch über gutes Leben und Arbeiten, Fehler im Wirtschaftssystem und Forschung am Küchentisch.

Das Portraitbild zeigt die Soziologin Karin Jurczyk. Sie  leitete viele Jahre lang die Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts in München. Sie sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik
Die Soziologin Karin Jurczyk leitete viele Jahre lang die Abteilung Familie und Familienpolitik des Deutschen Jugendinstituts in München. Sie sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik

Frau Jurczyk, die Wirtschaft ächzt unter dem Arbeitskräftemangel. Trotzdem schlagen Sie vor, dass die Menschen regelmäßig für längere Zeit aus dem Job aussteigen dürfen. Kommt ihr Optionszeitenmodell zu einem falschen Zeitpunkt?

Nein, es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Schauen Sie sich an, worin die Ursachen des Fachkräftemangels liegen: Nicht nur die pure Zahl an Arbeitskräften schrumpft. Die Menschen sind auch nicht mehr bereit, jeden Job anzunehmen. Gerade jüngere Arbeitskräfte überlegen es sich sehr gut, welche Arbeitsbedingungen sie akzeptieren. Und die Älteren laufen scharenweise davon, weil sie sagen: „Ich bin ausgebrannt, ich kann so nicht weiterarbeiten.“ Umgekehrt formuliert: Den Arbeitskräftemangel können wir nur beheben, wenn wir auf die Wünsche und die Bedarfe der Menschen eingehen.

Seit Jahren liefern Befragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ähnliche Ergebnisse: Wer eine Vollzeitstelle hat, möchte weniger Stunden arbeiten. Das gilt vor allem für Beschäftigte im Alter von 30 bis 44 Jahren – also in der Zeit, in der Kinder betreut werden müssen. Aber es gilt auch für Beschäftigte mit einer hohen Arbeitsintensität. Die Möglichkeit, Auszeiten zu nehmen und die Arbeitszeit zu reduzieren, sorgt – neben anderen Maßnahmen – dafür, dass wir auch auf lange Sicht ausreichend Arbeitskräfte haben.

Wirtschaftsvertreterïnnen sehen das anders. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetalls Stefan Wolf erklärte im Sommer, Büroangestellte könnten bis zu einem Alter von 70 Jahren arbeiten. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner beklagt, in Deutschland werde zu wenig gearbeitet. Er möchte den Menschen „Lust auf Überstunden“ machen.

Es kommt natürlich auf den Beruf an, aber die jetzigen Arbeitsbedingungen machen es für viele Arbeitskräfte unvorstellbar, länger erwerbstätig zu sein. Außerdem zeigen Untersuchungen, dass ab der sechsten Arbeitsstunde die Produktivität abnimmt und nach der achten Stunde das Unfallrisiko exponentiell steigt.

Angesichts des Drucks, dem viele bei der Arbeit ausgesetzt sind, und der Erschöpfung, die sie spüren, ist für die meisten Menschen eine längere Lebensarbeitszeit unrealistisch. Sie wäre nur möglich, wenn sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. Dazu könnte das Optionszeitenmodell beitragen, dieses Konzept hilft, die Rushhour des Lebens zu entzerren.