Somalia: Aussteiger aus einer Terrorgruppe über Glaube, Gewalt und Geschäft.
Die islamistische Shabaab-Miliz verbreitet Terror und verdient damit Geld.
Hussein trägt eine gelbe Häkelkappe, ein altes Hemd und eine alte Hose. Sein rundes Gesicht wirkt offen und freundlich, sein Auftreten großväterlich. Kaum vorstellbar, dass ein Anruf dieses Mannes genügte, um ein Killerkommando in Bewegung zu setzen: ein Team der gefürchteten „Amniyat“-Einheit der somalischen Terrormiliz „Al Shabaab“, die seit über zehn Jahren gegen die somalische Regierung kämpft. Die Spezialeinheit „Amniyat“ ist für Morde, Anschläge und Aufklärung zuständig und für ihre Grausamkeit bekannt. „Damals war ich von den Zielen der Shabaab-Miliz zutiefst überzeugt“, sagt Hussein heute. „Deshalb fand ich die brutalen Morde unserer Spezialkommandos richtig.“ Hussein sagt das ganz ruhig und deutet dabei ein freundliches, etwas verlegenes Lächeln an. „Diese Morde festigten unsere Macht, weil sie die Angst der Bevölkerung vor uns stärkten.“ Kaum drei Jahre ist es her, dass er die Killer von der Kette lassen konnte. „Meist reichte schon eine Drohung der Amniyat, damit die Leute machten, was ich von ihnen verlangte.“
Clankonflikte und Gewalt
Was Hussein verlangte, war Geld. Sechs Jahre lang war er Finanzdirektor der Terrormiliz in seiner Heimatregion Lower Shebelle südlich der Hauptstadt Mogadischu. Angeschlossen habe er sich der Terrorgruppe ursprünglich, weil er Gerechtigkeit gesucht habe – zunächst in eigener Sache. Mit Hilfe der Shabaab-Miliz wollte er eine alte Rechnung mit Angehörigen eines anderen Clans begleichen, die sich in den 1990er Jahren, wie Hussein sagt, das Land seiner Familie angeeignet hätten. Mit Sturz des Diktators Siad Barre im Januar 1991 ging Somalia als Staat für Jahrzehnte unter, und die Kriegsfürsten der stärksten Clans kämpften in den 90er Jahren um die Vorherrschaft in Somalia. Bis heute bestimmen die Clans und ihre Anführer die politischen und gesellschaftlichen Geschicke in Somalia. Fast jeder Somali fühlt sich mindestens einem davon zugehörig – und entsprechend in Gegnerschaft zu den Mitgliedern aller anderen Clans. Diejenigen, die Husseins Familie ihr Land stahlen, hätten zur Miliz des damals mächtigen Warlords Hussein Aidid gehört, einem Habr Gedir. „Dieser Clan hatte damals viel Macht“, erzählt Hussein. „Die Milizionäre kamen in unsere Gegend und nahmen sich einfach alles, was uns gehörte.“ Gegen die Miliz der Habr Gedir konnte Hussein als Bimal nichts ausrichten, und weil es im untergegangen Staat auch keine Justiz gab, musste er das Unrecht, das ihm widerfahren war, tatenlos hinnehmen.
Gelegenheit zur Rache
Aber eines Tages sah er seine Chance auf Rache. Seit 2006 hatte er den Aufstieg der Shabaab-Miliz beobachtet und sah sie immer stärker werden. Er hörte sich um, wer diese Gruppe sei: wie sie vorgingen, für wen sie arbeiteten, was ihre Ziele seien. Er interessierte sich für die Terrorgruppe, weil sie offenbar der dickste Fisch im Becken der somalischen Warlord war, vielleicht könnte sie ihm Rückendeckung bieten gegen die Milizionäre der Habr Gedir. Aber wie Hussein erzählt, habe er noch gezögert, war offenbar noch unsicher, ob er wirklich den Weg der Gewalt gehen wollte. „Dann standen im Jahr 2010 eines Tages Shabaab-Mitglieder vor meiner Tür und sagten: ‚Entweder du schließt dich uns an, zahlst Schutzgeld – oder wir erschießen dich’“. Hussein wählte die Mitgliedschaft. Er sagt, sie hätten ihn wegen seiner vielen Fragen für einen Spion gehalten, „aber ich haben ihnen versichert, dass ich mich ohnehin schon für die Gruppe entschieden und nur deshalb umgehört hatte“. Wenig später habe die Shabaab-Miliz die militärische Kontrolle über die Region übernommen, in der Hussein lebte. „Da bin ich zu meinem Land gegangen und habe es mir einfach zurückgeholt.“ Und so seien die Besitzverhältnisse bis heute geblieben. Als Finanzchef sei er jeden Tag ins Hauptquartier der Shabaab Miliz gegangen, ein Bürojob im Dienste des Terrors: Er hielt nach, wer Steuern und Schutzgeld gezahlt hatte und drohte, wenn jemand säumig war, mit dem Besuch der „Amniyat“.
„Aber im Laufe der Zeit wurde ich immer häufiger Zeuge davon, dass die Islamisten ungerecht handelten.“ So hätten sie viele Menschen auf einen bloßen Verdacht hin getötet. Zum Beispiel, weil jemand angeblich für die somalische Regierung gearbeitet habe, als Spion oder auch in einer anderen Funktion. „Im Grunde haben sie oft einfach nur so getötet.“ Mehr als 500 Menschen starben allein bei dem bisher verheerendsten Anschlag der Terrorgruppe Mitte Oktober vergangenen Jahres, bei dem Anschlag durch einen LKW voller Sprengstoff wurden hunderte weitere verletzt. Die Vereinten Nationen haben versucht, die Gesamtanzahl der Shabaab-Opfer zu erheben. Zwischen dem 1. Januar 2016 und dem 14. Oktober 2017 wurden allein bei Attentaten der Terrorgruppe etwa 1200 Zivilisten getötet. Hinzu kommen die Opfer von gezielten Morden.
Schutzgeldforderungen und Bedrohung
Glaubt man ihm, stieg Hussein wegen der vielen unschuldigen Toten vor drei Jahren aus. Am Ende, sagt er, sei er enttäuscht gewesen von dem wahren Gesicht der Islamisten: Gewalt statt der versprochenen Gerechtigkeit, nicht nur für seine Sache. Jetzt fürchtet er die Rache seiner ehemaligen Waffenbrüder, die ihn als Verräter verfolgen. Deshalb will er seinen wahren Namen nicht öffentlich machen, er heißt eigentlich anders als Hussein. Seit seiner Flucht lebt er auf dem Gebiet der somalischen Regierung, mit der er einen Deal hat: Informationen über Mitglieder und Strategien der Miliz gegen Straffreiheit. Auch jetzt berichtet er bereitwillig, wie das System funktionierte, das er erst am Leben hielt und dann hinter sich ließ. „Die Shabaab-Miliz sammelt Steuern von den Geschäftsleuten“, erklärt der ehemalige Finanzdirektor. „Am meisten Geld kommt natürlich aus Mogadischu, wir fordern von allen großen Unternehmen Geld.“ Es dient der Finanzierung der Miliz. „Wer nicht zahlen wollte, wurde bedroht.“ Weil jeder die Konsequenzen kannte, zahlten alle.“
Das sei bis heute so, sagt Hussein. Glaubt man ihm, haben die regelmäßigen Anschläge nicht nur ideologische Gründe, sondern wirtschaftliche: Es sind Sanktionen gegen diejenigen, die der Terrorgruppe die Zahlung von Schutzgeld oder „Steuern“ verweigern. So sammelt die Miliz seinem Bericht zufolge riesige Summen. Weil er für Mogadischu nicht zuständig war kann er nur schätzen, was in der Hauptstadt zusammen kommt: zwischen fünf und 15 Millionen Dollar im Monat, meint Hussein. Aus seiner Schilderung ergibt sich das Bild einer sehr gut funktionierenden und ziemlich effizienten Organisation – ganz im Unterschied zum somalischen Staat.
Das wird durch die Untersuchungsergebnisse der UN-Überwachungsgruppe für Somalia (UN Monitoring Group on Somalia) unterstützt, die im Auftrag des UN-Sicherheitsrats arbeitet. „Das Finanzsystem von Al Shabaab ist systematisch und zentralisiert“, heißt es in ihrem jüngsten Bericht von Ende 2018. Die Terrorgruppe funktioniere noch immer als „Schattenregierung“ selbst in Gebieten, die sie militärisch nicht mehr kontrolliere. Die Gruppe habe weiterhin genug Geld, um ihren Kampf gegen die Regierung zu finanzieren.
Terrorgruppe ähnelt Mafia
In der Gesellschaft regiert offensichtlich weiter die Angst – auch in der Hauptstadt Mogadischu, obwohl die eigentlich von der Regierung kontrolliert wird. Aber ein militärischer Sieg löst die Bedrohung nur teilweise. Die Shabaab-Miliz ist eine Art Mafia, sie hat die somalische Gesellschaft durchdrungen und bestimmt ihre Gesetze. Ihre wahre Macht fußt auf der Verbindung zwischen Selbstmordattentätern und einem engmaschigen Netz von Informanten. Schlimmer noch: Die Shabaab-Miliz lässt sich auch von Geschäftsleuten anheuern, um deren Konkurrenten zum Schweigen zu bringen. Sagt Hussein. „Die Miliz ist bereit, für Geld alles zu tun.“ Und wenn sie jemanden zum Schweigen bringen soll, muss sie oft noch nicht einmal töten – die bloße Drohung reicht. Der Auftraggeber ist meist auch damit zufrieden: Der Konkurrent ist aus dem Weg geräumt, ohne dass er getötet wurde.
Abdulaziz Ali Ibrahim ist Berater des Innenministers, der auch für die innere Sicherheit zuständig ist. „Die Shabaab-Miliz ist in der Tat nicht unser einziges Problem“, gibt er zu. Sondern eben auch Verbrechen wie Wirtschaftskriminalität. Der Krieg ist nicht nur für Islamisten ein gutes Geschäft. Geschäftsleute profitieren von der Schwäche des Staates, der den Markt und die Wirtschaft nicht reguliert und kaum Steuern eintreibt. Mit militärischen Mitteln ist dieses System, zu dem Drohungen und Terror gehören, nicht zu zerstören. Sondern nur mit einem starken Staat, der Regeln setzt und durchsetzen kann. Und einer funktionierenden Justiz, die Gewaltverbrechen aufklärt und gegen die Täter vorgeht. Aber davon ist Somalia immer noch weit entfernt.