Auf der Suche nach Perrieris Baobab
Der seltenste Baobab von allen verbirgt sich im unwegsamen Dschungel Nordost-Madagaskars, in den messerscharfen Tsingy oder am Ufer saisonaler Flussbetten. Unser Autor hat sich auf die Reise gemacht.
Für mein Buch über den afrikanischsten aller Bäume, den Baobab oder Affenbrotbaum, habe ich mich in Madagaskar auf Expedition begeben. Mein Ziel: Der seltenste aller Baobabs. Spoiler Alert: Er ist nicht leicht zu finden.
Acht bekannte Arten von Baobabs wachsen auf der Welt: eine auf dem afrikanischen Kontinent. Dort sind die breiten, unförmigen Riesen, die aussehen, als seien sie versehentlich mit den Wurzeln nach oben gepflanzt worden, vom Senegal im Nordwesten bis nach Mosambik im Südosten überall dort zu sehen, wo Regen knapp ist. Eine weitere Art, der Boab Tree, wächst vor allem in den Kimberleys, einem einsamen Gebirge in Nordwest-Australien.
Die restlichen sechs Arten schließlich wachsen nur auf Madagaskar, jener Insel vor Afrikas Ostküste, deren Natur sich mehr als 90 Millionen Jahre lang ohne äußere Einflüsse entwickelt hat. Für mein Buch über die faszinierenden Bäume besuchte ich dort die fast mythische "Avenue des Baobabs", in der mehr als 30 Meter hohe Exemplare der Spezies Adansonia grandidieri eine Allee bilden. Die innig ineinander verwachsenen "les amoureux", zwei Exemplare von Adansonia za. Aber einer entwischte mir bei allen meinen Reisen, und ich wollte ihn unbedingt zu sehen bekommen. Doch das war leichter gesagt, als getan.
Adansonia perrieri oder auch der "Baobab von Perrieri" ist schließlich der seltenste von allen. Sein Bestand wird auf gerade einmal 250 geschätzt. Nur wenige haben ihn je zu Gesicht bekommen. Der französische Botaniker René Capuron entdeckte ihn erst in den 1950er-Jahren auf dem Ankarana-Plateau im Nordwesten Madagaskars. Doch weil die Blüten des Baums bereits abgefallen waren, war er sich nicht sicher, ob er wirklich eine neue Art gefunden hatte. Erst zur Blütezeit im Oktober 1958 entdeckte er nicht weit vom ersten Fundort entfernt die entscheidenden Blüten – und jubelte: Er hatte die achte Baobab-Spezies gefunden. Capuron benannte sie nach dem französischen Botaniker Henri Perrier de la Bâthie, der seinerseits zwei madagassische Baobab-Arten beschrieben hatte.
In den Tsingy
Für meine Jagd auf den Baobab habe ich mir ein schwieriges ›Revier‹ ausgesucht: Das Ankarana-Plateau mit seiner zerklüfteten Karstlandschaft, die die Madagassen ›Tsingy‹ nennen, hat etwas extraterrestrisches und menschenfeindliches an sich. Aus seiner Oberfläche ragen zwischen 30 Zentimeter und mehrere Meter hohe Zinnen, die an Wellen eines aufgebrachten Meers erinnern. Ihre Kämme können rasiermesserscharf sein. Gleich am ersten Tag reiße ich mir die Hose, beide Knie und die linke Hand auf, als ich an einer Stelle unglücklich stolpere. Über das Meer aus Karst weht ein stetiger Wind, mal vom Mosambik-Kanal, mal vom offenen Indischen Ozean her. Je näher der Winter rückt, desto stärker werden die Böen, doch selbst im Sommer liegt ein unablässiges Pfeifen und Wispern über den Tsingy. Regen und Wind formen den Karst zu einem sich ständig wandelnden Ozean aus Stein, waschen Höhlen aus, Täler und Canyons, aber auch kleinste Risse und Kerben, die der absonderlichsten Flora als Heimstatt ausreichen.
In dieser unwirtlichen Gegend vermute ich Adansonia perrieri. Mein Führer Olivier, der hier geboren ist und das Ankarana-Plateau seit mehr als zehn Jahren durchstreift, hat den Baum selbst noch nie gesehen, zumindest glaubt er das. Tatsächlich sind Adansonia perrieri und die auf dem Plateau überwiegend verbreitete Art, Adansonia madagascariensis, äußerlich kaum zu unterscheiden. Ihre langen, vergleichsweise dünnen, astlosen Stämme wachsen pfeilgerade über das sie umgebende Blätterdach hinaus, erst darüber breiten sich ihre dicken Äste fast waagerecht in alle Himmelsrichtungen aus wie die Fangarme eines Oktopus. Erst eine genauere Untersuchung der Blüten und der Früchte ermöglicht die Unterscheidung. Olivier hat Erkundigungen eingezogen, mit befreundeten Führern gesprochen. Er ist optimistisch, als wir unseren Landrover abstellen und zu Fuß in den dichten Regenwald eindringen, der rund um die Tsingy wächst.
Durch den Regenwald
Sofort wird es dunkel. Das dichte Blätterdach verschluckt das meiste Sonnenlicht. Vor uns kriecht eine gut drei Meter lange Hakennasennatter über den dunkelrostbraunen Boden. Aus ihm drängen zahllose Bäume nach oben, dem Licht entgegen, das ihnen das Überleben ermöglicht. An den Stämmen schlängeln sich dicht an dicht Rankpflanzen. Dazwischen wachsen dicke, holzige Luftwurzeln, die so sehr Schlangen ähneln, dass die Antakarana sie Boas nennen. Mehr als eine davon muss Olivier mit seinem Messer durchschneiden, um uns den Weg zu bahnen. Wir steigen einen steilen Abhang hinunter. Die Luftfeuchtigkeit im dichten Gehölz ist so hoch, dass der Schweiß schon jetzt in Strömen unsere Körper herabläuft.
Unten angekommen, hat sich der Wald etwas gelichtet. Der Boden ist heller, sandiger. Überall liegen Brocken von Kalkstein, Mergel und Basalt. Hier kommen wir besser voran. Und schließlich können wir sie ausmachen, noch ein Stück entfernt: eine ganze Gruppe Baobabs, deren kerzengerade, silbern schimmernde Stämme im Himmel verwurzelt zu sein scheinen. Um an einen von ihnen heranzukommen, müssen wir über den Tsingy balancieren, mit den knorrigen Adenia- Pflanzen als einzigem Halt.
Ein letzter Sprung, und ich stehe vor dem Baobab. Sein Stamm ist sicher 25 Meter hoch, genau ist das aus so unmittelbarer Nähe schlecht auszumachen. Und in der immer noch dichten Vegetation ist der Baobab in seiner Gänze von hier unten aus nur schemenhaft zu sehen. Dort oben streckt der mächtige Baum seine Arme aus. Im Moment sind sie blattlos, einige wenige Früchte hängen an den Ästen. Mit dem Fernglas lässt sich erkennen, dass sie dick, prall und fast kugelrund sind. Einige kleinere verjüngen sich herzförmig, aber ihre Grundform ist dennoch rund wie eine Weihnachtskugel. Im Sonnenlicht leuchten ihre pelzigen Oberflächen rot wie ein Granatapfel. Olivier und ich suchen den steinigen Boden ab, finden schließlich eine einzige, bereits vertrocknete Blüte und damit den traurigen Beweis: Der Baum, den wir vor uns haben, ist nicht der gesuchte, sondern ein Adansonia madagascariensis.
An den Wadi
Wir geben nicht auf. Olivier hat von einem weiteren Standort gehört, der tiefer im Wald am Ufer eines Wadis liegt, einem der oft trocken liegenden Flussbetten, die sich in der Regenzeit binnen weniger Stunden mit Wasser füllen. Olivier sucht immer wieder nach Wegmarken, die sein Freund ihm vor unserem Aufbruch telefonisch durchgegeben hat. Eine andere Form von Navigation gibt es hier nicht. Das dichte Blätterdach verhindert den Kontakt zu Satelliten.
Irgendwann, nach etlichen Stunden, stoppen wir vor einem Baum, den Olivier aufmerksam untersucht. Er schaut hoch zum vom Blätterdach verborgenen Himmel und nickt schließlich: Das muss er sein. Der Baum ist mächtig, so hoch wie kein anderer Baobab, den ich bisher hier gesehen habe. Seine Wurzeln, kräftiger als mein Oberschenkel, verkrallen sich zwischen von Moos und Flechten bewachsenen Findlingen. Wenige Schritte entfernt senkt sich die Landschaft in ein trockenes Flussbett. Doch ist es wirklich der richtige Baum?
Früchte finden wir keine, als wir den von Blättern bedeckten Boden absuchen. Doch schließlich ziehe ich eine vertrocknete Blüte aus einem Haufen Laub. Sie sieht anders aus als die, die wir vorher gefunden haben. Ich rufe Olivier und gemeinsam schauen wir uns die filigranen Staubblätter, den vertrockneten Stempel, die zusammengewachsene Blütenröhre an. Tatsächlich sieht die vertrocknete Blütenröhre viel länger aus, die frei liegenden Staubblätter wirken kürzer. Olivier schaut skeptisch, grinst dann und und klopft mir auf die Schulter. Ich lehne mich gegen den glatten Stamm und lausche dem Rauschen der Zweige. 30 Meter über mir keckert ein mir unbekannter Vogel. Ich atme tief durch. Ungeahnte Freude durchströmt mich. Wir haben unser Ziel erreicht.
Der Autor und sein Buch
Marc Engelhardts Portrait »Baobab« ist in der Reihe Naturkunden beim Berliner Verlag Matthes und Seitz erschienen. Darin schreibt er nicht nur ausführlicher von seiner Suche nach dem Baobab von Perrieri, er berichtet auch davon, wie ihm Zauberer in Malawi die heilenden Kräfte des Baobab beschrieben, er den Erfinder einer Baobab-Maschine traf und was Baobabs mit Zombies gemein haben. Wenn er nicht Baobabs nachjagt, schreibt der Journalist und Autor über Afrika, die Vereinten Nationen und alles, was ihn fasziniert.