Corona-Impfungen: Was kann Deutschland von Spanien lernen?
Epidemiologe Manuel Franco über Gemeinsinn, gute Organisation und Digitalisierung
Während in Deutschland die Corona-Zahlen in die Höhe schnellen, scheint die Pandemie in Spanien fast Geschichte. Fast 80 Prozent der Gesamtbevölkerung und knapp 90 Prozent der Über-Zwölfjährigen sind doppelt geimpft, im Januar soll die 90-Prozent-Hürde geknackt werden. Wie hat das Land das geschafft? Ein Gespräch mit dem Epidemiologen und Sprecher der spanischen Gesellschaft für öffentliche Gesundheit SESPAS Manuel Franco.
Manuel Franco, vor Ihrem Ruf an die Johns Hopkins-Universität haben Sie in Alcalá de Henares und Berlin studiert. Sie kennen also beide Länder aus eigener Anschauung. Was macht Spanien beim Impfen besser als Deutschland?
Wir konnten uns zum einen auf ein – trotz aller Kürzungen – solides, öffentliches Gesundheitssystem verlassen, das so gut wie alle Menschen erreicht und haben einfach die richtige Strategie gewählt: Die strikte Alterspriorisierung hat die Schwächsten zuerst geschützt. Während uns die erste Corona-Welle unvorbereitet und mit voller Wucht traf, waren wir diesmal gut vorbereitet – und gut organisiert. Beides zusammen erklärt unseren Erfolg.
Spanien habe die Impfung „erlebt wie eine Erlösung“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Kaum ein Land war im Frühjahr 2020 so gebeutelt von der Pandemie wie Spanien. Fast sieben Wochen durften die Spanierinnen und Spanier ihre Wohnungen nur für das Allernotwendigste verlassen. Die Bilder von den überfüllten Leichenhallen haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt. War diese traumatische Erfahrung auch ein Grund für die hohe Impfbereitschaft?
Das hat sicher mit hineingespielt. Ich glaube aber auch, dass die Mentalität großen Einfluss hat. Hier ist Solidarität ein wichtiger gesellschaftlicher Wert. Das sieht man auch beim Blick auf die Statistik der Organtransplantationen, wo Spanien seit vielen Jahren weltweit führend ist.
Laut Gesundheitsministerium haben weniger als ein Prozent der Spanierinnen und Spanier die Impfung bisher verweigert. Und nur ein verschwindend geringer Teil derjenigen, die keine Impfung wollen, negiert die Krankheit. Warum gibt es in Spanien im Vergleich zu Deutschland kaum Impfgegner?
Es gibt generell ein größeres Vertrauen in die Schulmedizin. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden erst einmal akzeptiert und angenommen. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass in Spanien Autoritäten generell weniger hinterfragt werden – im Guten wie im Schlechten. Wenn die Gesundheitsbehörden eine Impfung empfehlen, dann macht man das eben. Dazu kommt, dass wir eine lange Impftradition haben, mit einem Impfkalender für alle Altersgruppen, und in den 1970er Jahren eine Polio-Epidemie mit Impfungen besiegt haben. Und im Gegensatz zu Deutschland haben Homöopathie oder anthroposophische Ansätze in Spanien kaum Fuß gefasst.
Dabei war auch in Spanien die Skepsis gegenüber mRNA-Impfstoffen groß. Noch im Oktober 2020 wollten sich laut einer internationalen Befragung des Markforschungsunternehmen Ipsos lediglich 64 Prozent der Spanierinnen und Spanier impfen zu lassen, europaweit waren es nur in Frankreich weniger. Was ist passiert?
Die Menschen haben einfach gesehen, dass die Impfungen funktionieren: Mit Beginn der Kampagne sanken die Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 rapide. Das konnte man jeden Tag an den Statistiken ablesen. Dass der Nutzen der Impfungen so rasch zu erkennen war, ist wiederum ein Ergebnis der strikten Priorisierung nach Altersgruppen. Wir haben eine der europaweit ältesten Bevölkerungen. Viele Familien haben im Frühjahr 2020 Angehörige durch Covid-19 verloren. In den Altersheimen starben die Menschen wie die Fliegen. Das hat geprägt.
In manchen Ländern wollte man aus wirtschaftlichen Gründen bestimmte Berufsgruppen zuerst impfen. In Spanien gab es solche Debatten – trotz der massiven Abhängigkeiten von der Tourismusbranche – kaum. Warum?
Dass die Alterspriorisierung nie in Frage gestellt wurde, hat mit der katholischen Prägung zu tun. Eltern und Großeltern, die Familie ganz allgemein, haben einen hohen Stellenwert in Spanien.
Hat die hohe Impfquote auch etwas mit den unterschiedlichen Gesundheitssystemen in Spanien und Deutschland zu tun?
Auf jeden Fall. Das spanische System ist steuerfinanziert, öffentlich und deckt das gesamte Staatsgebiet gut ab. Im sehr viel individualistischeren Deutschland setzt man stärker auf Eigeninitiative, Gesundheit wird oft als Privatangelegenheit betrachtet. Es macht einen Unterschied, ob ich im Krankheitsfall meinen Hausarzt in einer Praxis in dessen Eigenheim im Pankow besuche oder ob ich in ein Centro de Atención Primaria gehe, ein Gesundheitszentrum. Dort sehe ich andere Patienten, Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen wuseln um mich herum und ich erlebe ganz unmittelbar, dass Gesundheit wirklich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Um einen Impftermin zu bekommen, musste in Spanien niemand Arztpraxen abtelefonieren. Die Termine wurden komfortabel per SMS, Anruf oder Brief zugewiesen. Welche Rolle spielte die Digitalisierung dabei?
Meiner Ansicht nach eine sehr große. Die für Gesundheit zuständigen Regionen haben ihre Systeme weitgehend digitalisiert und erfassen Patientenakten elektronisch, damit in einem Gesundheitszentrum alle behandelnden Ärzte darauf Zugriff haben. Ein Teil dieser Daten wird an die nationalen Behörden weitergeleitet. Das erleichtert die Organisation von solchen riesigen Kampagnen enorm. Denn die Behörden wussten nicht nur genau, wie viele Vakzine sie wohin schicken mussten, sondern wussten auch, wie und wo sie die Empfänger erreichen. Von der Digitalisierung profitiere ich auch als Forscher. Wenn ich beispielsweise eine wissenschaftliche Studie zu Diabetes erstelle, weiß ich, dass ich über die Daten der Gesundheitszentren Zugriff auf einen verlässlichen Datenpool habe. Das erleichtert vieles.
Können Sie die deutsche Skepsis gegenüber Digitalisierung verstehen?
Nicht ganz. Es geht bei solchen Kampagnen ja nicht darum, die Bürger*innen digital auszuleuchten, sondern um die Lösung eines kollektiven Problems.
Wo besteht in Spanien noch Nachholbedarf?
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Impfquote in ärmeren Vierteln erheblich unter der von wohlhabenderen liegt. Das hat weniger mit einer generellen Impfskepsis in diesen Bevölkerungsgruppen zu tun als vielmehr mit den konkreten Lebensbedingungen dort. Viele haben schlicht Angst, wegen möglicher Nebenwirkungen für ein paar Tage nicht arbeiten zu können und so ihren Job zu verlieren. In vielen Kommunen versucht man jetzt, diese Menschen mit niedrigschwelligen Angeboten wie Impfbussen oder mobilen Impfzentren zu erreichen.