Corona: Wenn Berichte über Impfschäden Unfug transportieren

Impfgegner oder vermeintlich Geschädigte ungeprüft zu Wort kommen zu lassen, ist gefährlich

vom Recherche-Kollektiv Corona:
9 Minuten
In einer großen Halle: Menschen mit Kameras und Mikrofonen umringen eine ältere Frau auf einem Stuhl, die sich von einem Mann eine Spritze in den rechten Oberarm verabreichen lässt.

RiffReporter arbeitet bei diesem Beitrag mit Übermedienzusammen, dem unabhängigen Magazin für Medienkritik.

Neues macht Angst. So ist es auch bei den Impfungen gegen das Coronavirus. Das Sars-CoV-2 ist auch nach über einem Jahr Pandemie noch ein neuer Erreger. Impfungen mit der sogenannten Messenger-RNA, bei denen der Körper ein Protein des Erregers produziert, hat es in der Geschichte der Medizin noch nie gegeben. All das wirft bei vielen Menschen Fragen auf, die viele Medien aufgreifen: Das neue Wissensmagazinpieks hat sein erstes Heft sogar komplett dem Thema Impfen gewidmet. Die Pandemie erweist sich als Geburtshelferin neuer journalistischer Produkte.

Aber: Einige Antworten, die Medien auf zentrale Fragen geben, tragen allerdings erheblich zur Verunsicherung bei. Vor allem, wenn über Impfschäden berichtet wird.

Wirklich ein Impfschaden?

Die Dokumentation „Immun gegen Fakten? – Impfangst in Zeiten von Corona“ in der ZDF-Sendung Zoom vom 17. Februar 2021 ist so ein Fall: Ein Mann und eine Frau spazieren einen schneebedeckten Waldweg entlang. Die Sprecherin aus dem Off erzählt, die beiden hätten vor zehn Jahren ein Erlebnis gehabt, „das ihr Leben für immer verändern sollte“: Die beiden lassen ihre damals zweieinhalbjährige Tochter impfen. „Etwa drei Jahre später treten unerklärliche Symptome auf.“

Die Mutter berichtet: „Die hat dann diesen Fieberkrampf gehabt.“ Wer Kinder hat, kann nachfühlen, dass das ein schreckliches Erlebnis war: „Du denkst, dein Kind stirbt.“ Das Mädchen hat wiederholt solche Krämpfe. Die Sprecherin berichtet, wie es weitergeht: „Die Bauers sind verunsichert. Sprechen mit unzähligen Ärzten und Heilpraktikern. Was hat es mit diesen unerklärlichen Symptomen auf sich? Nach vielen Jahren der Spurensuche und unterschiedlichsten Aussagen von Ärzten ist für die Familie klar: Das muss ein Impfschaden sein.“

Das ZDF hat über Twitter viel Häme einstecken müssen für diese Passage. Was die Kritikerïnnen vor allem bemängeln: Fieberkrämpfe treten häufig bei Kindern auf, ob mit oder ohne Impfung. In den USA und Westeuropa erleiden zwei bis fünf von 100 Kindern in den ersten fünf Lebensjahren solch einen Krampf. Bei 30 Prozent dieser Kinder wiederum wiederholen sich Fieberkrämpfe. Vermutlich spielen genetische Veranlagung und Umweltfaktoren eine Rolle.

Zwei Doppelseiten aus dem Magazin „Pieks“ und ein Bild aus der Dokumentation: ein Mann mit grauem Vollbart und Brille in Holzfällerjacke und eine Frau mit blauer Mütze und blauem Schal.
Negativbeispiele für Berichterstattung über Impfskeptiker und Impfschäden: eine Dokumentation aus der Reihe „Zoom“ (ZDF) und ein Artikel im Magazin „pieks“.

Was den Zusammenhang mit der Impfung besonders unwahrscheinlich macht, ist der Abstand von drei Jahren. Die Arzneimittelaufsichtsbehörden gingen davon aus, das keine Nebenwirkungen später als sechs bis acht Wochen nach einer Impfung aufträten, sagt die US-amerikanische Professorin für Biostatistik, Medizinethik und Gesundheitspolitik an der University of Pennsylvania in Philadelphia Susan Ellenberg: „Ich wüsste von keinem Beispiel, wo Impfungen ein Problem ausgelöst hätten, das sich erst Monate oder Jahre später manifestiert hat.“

Mann beißt Hund

Selbstverständlich müssen Medien über Impfschäden und -nebenwirkungen berichten. So machen wir das auch bei RiffReporter. Denn so selten solche Fälle auch sind, es gibt sie. So wie bei Ramona Gerlinger, der Vorsitzenden des „Bundesvereins Impfgeschädigter“. Ihre Tochter erlitt nach Impfungen epileptische Anfälle und ist heute schwerstbehindert. Gerlinger berichtet im neuen Magazin pieks über dieses schreckliche Erlebnis und erzählt, wie schwierig es ist, dass die Versorgungsämter einen Impfschaden anerkennen.

Es ist auch normal, dass Journalistïnnen ihrem Publikum Informationen nahebringen, indem sie etwas über die subjektiven Erlebnisse von Menschen erzählen. Meine Kollegin Edda Grabar und ich haben das bei diesem Feature im Deutschlandfunk über Impfschäden auch gemacht. Journalismus bildet schließlich nicht den Durchschnitt durch die Bevölkerung ab, sondern lebt von besonderen Geschichten. An den Journalistenschulen wird gelehrt: Beißt ein Hund einen Mann, ist das höchstens eine kleine Meldung. Beißt ein Mann einen Hund, ist es eine große Geschichte.

Über Impfschäden zu berichten und Betroffene ihre Geschichten erzählen zu lassen, ist absolut richtig. Denn es gibt Menschen, die wegen einer Impfung bleibende Schäden erlitten haben. Genaue Zahlen dazu zu bekommen, ist schwierig: Zwar haben die Versorgungsämter in den einzelnen Bundesländern oder Kreisen die Zahlen für ihren Beritt, aber sie werden nirgends zentral gesammelt. Die Versorgungsämter von elf Bundesländern haben auf unsere Anfrage geantwortet. Sie haben seit dem Jahr 2009 gerade einmal 215 Impfschäden anerkannt. Das sind Menschen, die bleibende Beeinträchtigungen erlitten haben und eine Rente erhalten. Im selben Zeitraum gingen bei diesen Versorgungsämtern 1206 Anträge auf Anerkennung eines Impfschadens ein – bei insgesamt 386 Millionen Impfungen, die Medizinerïnnen in der Zeit verabreicht haben.

Das Protokoll als Mittel zur Recherchevermeidung

Es ist sehr schwierig, über Menschen mit Impfschäden, über Impfskeptiker und -kritiker zu berichten. Denn wenn Journalistïnnen jede Behauptung hinterfragen und einordnen, sind die Geschichten häufig ganz schnell „kaputtrecherchiert“. So heißt es im Medienjargon, wenn zu viel Recherche die schöne Arbeitshypothese zerstört oder wenn alternativ zu viel Wissen den Blick für das Wesentliche versperrt. Letzteres ist lediglich ein Problem für das „Storytelling“. Ersteres aber ist ein medienethisches Problem, zumal wenn es um Leben oder Tod geht.

Darum wenden manche Medien einen Kniff an: Sie lassen Impfkritikerïnnen selbst sprechen, sie protokollieren also lediglich deren Aussagen. Diese Darstellungsform hat den Vorteil, dass sie gar keine Gegenstimmen, keine Einordnung vorsieht. So macht es auch das Magazin pieks. Unter der Überschrift „Der Kampf um Anerkennung“ lässt die Autorin vier Menschen „ihre Ängste und Sorgen vor Risiken und Folgen der Impfung“ erklären.

Einer der Protagonisten behauptet zum Beispiel: „Bei der Masernimpfung wurde offiziell angegeben, dass sie zu 30 Prozent nicht wirkt.“ Woher diese Zahlen stammen, lässt der Text offen. Auf der Seite des Robert-Koch-Instituts steht hingegen: „Die Wirksamkeit der zweifachen Impfung gegen Masern liegt in Deutschland bei 98% bis 99%.“ Die Autorin und das Magazin pieks lassen also eine Falschbehauptung stehen.

Eine „studierte Gesundheitsberaterin“ aus Schleswig-Holstein sagt: „Für mich ist kein Nutzen erkennbar, wenn die Weltbevölkerung als Versuchslabor für halb erforschte Impfstoffe fungiert.“ Auch diese Behauptung ist falsch. Es stimmt zwar, dass es nie zuvor Impfungen mit mRNA-Methode gab. Allerdings sammeln seit mehr als zehn Jahren verschiedene Gruppen weltweit Erfahrungen damit, der Hersteller BioNTech zum Beispiel in der Krebsforschung. Nur deshalb war es überhaupt möglich, so schnell Impfstoffe mit diesem Mechanismus für Sars-CoV-2 zu entwickeln – das fehlt in diesem Text. Und dass die Behörden die Mittel genauso gründlich geprüft haben wie andere Impfungen zuvor, erfahren pieks-Leserïnnen auch erst in einem ganz anderen Text im Heft.

Dass sowohl im ZDF-Zoom-Beitrag als auch im pieks-Artikel die Protagonistïnnen Unfug reden dürfen, ist das Tragische oder das Ärgerliche: Denn die Autorinnen liefern insgesamt gut recherchierte Fakten über das Impfen und über die Risiken, die damit verbunden sind.

Auf 96 von 100 Seiten gut informiert

Pieks wird vom Hamburger Verlag Jahr-Media herausgegeben. Jedes Heft soll ein einzelnes Thema beleuchten. Eine zweite Nummer sei in Planung, heißt es auf Anfrage. Ob und wann sie erscheine, hänge aber vom Erfolg des ersten Hefts ab. „Unter dem Motto ‚Ehrlich. Sachlich. Kompetent‘ wollen wir Themen ‚anpieksen‘, die Menschen interessieren, aufregen oder ängstigen“, schreibt Chefredakteur Thomas Borchert im Editorial. Heft 1 biete „100 Seiten neutrales Impfwissen“, wirbt der Verlag.

Zumindest für 96 Seiten stimmt das: Das Heft beleuchtet fundiert alle möglichen Aspekte des Impfens. Lange Artikel beschäftigen sich detailliert mit Unsicherheiten und Ängsten und lassen Fachleute zu Wort kommen. Sie stellen die sechs Corona-Impfstoffe vor, die im Januar in Aussicht standen, berichten, wie Impfungen allgemein und die mRNA-Vakzine im Speziellen funktionieren und warum die Entwicklung so schnell geklappt hat. Der Text über die Impfgegnerïnnen fällt allerdings völlig aus dem Rahmen.

Pieks arbeitet mit vier Redakteurïnnen und sieben Autorïnnen und Mitarbeiterïnnen. Mindestens zwei davon gehören zur Content-Agentur Hopp und Frenz, die nach eigenen Worten den Verlag bei dem Magazin „unterstützt“. Wenn allerdings allein die beiden Autorïnnen für 58 der 100 Seiten des Hefts verantwortlich zeichnen, ist „unterstützen“ eine ziemliche Untertreibung. So eine Praxis ist bei vielen solcher Hefte Usus. Auch der Text über die Impfskeptiker kommt von der Agentur.

Clickbaiting mit Impfungen

Noch leichter als pieks bei diesem Text machen es sich jedoch Medien, wenn sie wie der Weser-Kurier oder die Schwäbische Zeitung arbeiten. Der Weser-Kurier titelte am 14. Januar 2021: „89-Jährige verstirbt rund eine Stunde nach Corona-Impfung“. Bild und B.Z. haben Berichte darüber mit ähnlichen Überschriften inzwischen gelöscht, wie Meedia damals in seinem Newsletter berichtete.

Demonstrantinnen und Demonstranten. Eine Frau hält ein Pappschild hoch, auf dem steht: „Wir sind mündig für echte Demokratie – Keine Lügenpresse. Kein Impfzwang“. Neben ihr steht ein Mann, dessen untere Gesichtshälfte mit einem Tuch verdeckt ist, auf dem ein Totenschädel zu sehen ist. Daneben eine Person in Sträflingskleidung.
Wer über Impfskeptiker und -gegner berichtet, muss ihre Behauptungen gründlich überprüfen.

Die Schwäbische Zeitung meldete am 23. März 2021 auf ihrer Seite, dass ein Krankenpfleger aus Ravensburg „in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung“ verstorben sei. In der Bildunterschrift steht gar, dass der Krankenhaus-Mitarbeiter „infolge einer Corona-Impfung verstorben“ sei. Schön mehrdeutig. Der Hintergrund sei unklar, heißt es dann im Vorspann des Artikels. Um die Aufklärung zu erfahren, müssen Leserinnen und Leser bezahlen. Soviel sei verraten: Hinter der Bezahlschranke finden sich keine näheren Informationen.

Wer so titelt, betreibt billigstes Clickbaiting, denn – und das steht auch in den Artikeln – ein Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Tod der Impflinge war und ist nicht erwiesen. Nur weil zwei Ereignisse kurz nacheinander geschehen, heißt das halt nicht, dass sie etwas miteinander zu tun haben. Jeden Tag sterben in Deutschland 2.500 Menschen. Einige von ihnen werden am selben Tag eine Impfung erhalten haben. Das kann Menschen dazu verleiten, eine falsche Verbindung zu ziehen. Aber: Wenn jemand an einem Herzinfarkt stirbt, käme auch niemand auf die Idee, dafür das Frühstücksei verantwortlich zu machen, das der Verstorbene am selben Tag gegessen hat.

Journalistïnnen müssen in diesen Tagen sehr aufpassen, nicht in diese Falle zu tappen. Zugleich müssen wir natürlich realen Problemen auf den Grund gehen.

Ärztïnnen, Apothekerïnnen und Hersteller müssen Verdachtsfälle melden

Dafür ist es wichtig, zu wissen, dass Todesfälle nach einer Impfung grundsätzlich untersucht werden: Ärztïnnen, Apothekerïnnen und die Hersteller der Impfstoffe sind verpflichtet, es dem Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), zu melden, wenn sie den Verdacht haben, dass Menschen nach einer Impfung schwere Nebenwirkungen oder Gesundheitsbeeinträchtigungen erlitten haben oder sogar gestorben sind. Auch Bürgerïnnen können das über die Website tun.

Das PEI sammelt und untersucht diese Verdachtsmeldungen und vergleicht sie mit der Häufigkeit von Vorfällen, die normalerweise in einer Vergleichsgruppe registriert werden – genau wie andere Arzneimittelüberwachungsbehörden auf der ganzen Welt. Als in einem Altenheim in Norwegen binnen sechs Tagen nach einer Impfung 33 Menschen starben, meldeten die norwegischen Gesundheitsbehörden nach einer Untersuchung, die Todesfälle stimmten mit der Sterberate überein, die in dieser Altersgruppe zu erwarten ist.

Wie und dass die Arzneimittelüberwachung funktioniert, ließ sich auch bei den Fällen schwerer Thrombosen in Österreich, Deutschland und andern EU-Staaten beobachten. Das PEI registrierte, dass die Zahl dieser Erkrankungen nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Präparat höher als erwartet war und untersuchte, ob es einen Zusammenhang gibt. Eine Reihe von Staaten setzten die Impfungen mit dem AstraZeneca-Präparat aus bis die Europäische Arzneimittelbehörde EMA den Impfstoff weiter als sicher einstufte. Die Behörden untersuchen die Hintergründe weiter. Guter Journalismus wird an diesen Studien dranbleiben.

Wie groß ist eigentlich das Risiko ohne Impfung?

Ein weiterer Faktor macht die Einschätzung der Impfungen und damit die Berichterstattung kompliziert: Um zu beurteilen, wie groß das Risiko durch eine Impfung ist, darf man nicht (nur) die Gesundheit heranziehen, sondern muss auch die Gefahr durch die Krankheit in Betracht ziehen, vor der die Impfung schützt. Um beim Beispiel der Thrombosen zu bleiben: Die Gefahr, als Komplikation einer Covid-19-Erkrankung eine Thrombose zu erleiden, ist um ein Vielfaches höher, als sich bislang bei der AstraZeneca-Impfung abzeichnet.

Für die Bekämpfung der Pandemie sind Impfungen gegen Sars-CoV-2 das wichtigste Mittel – darin sind sich alle Experten einig.

In der Zoom-Sendung im ZDF sagt der Vater des Mädchens mit dem vermeintlichen Impfschaden: „Wenn die Politik nicht aufklärt, oder wenn die Medizin nicht aufklärt, und wenn die Wissenschaft nicht aufklärt, dann entsteht eine Bewegung aus der Mitte heraus, dass einfach die Leute und die Menschen sich selber damit auseinandersetzen. Und dann sich versuchen, ihre Informationen zu holen.“

Auch für Menschen wie ihn sollten die Medien verlässliche und überprüfte Informationen verbreiten. Denn korrekte und wissenschaftlich fundierte Informationen zu Impfungen sind unabdingbar. Wer Unfug – oder falsche Tatsachenbehauptungen – unkommentiert stehen lässt, liefert Impfgegnern Munition. Die können sich darauf berufen – schließlich stammten diese Informationen aus seriösen Medien.

Es genügt nicht, die korrekten Informationen an irgendeiner anderen Stelle im Heft oder in der Sendung nachzuliefern. Unfug bleibt Unfug, auch wenn man ihn seine Protagonistïnnen sagen lässt. Es mag Themen geben, bei denen sich eine Redaktion das leisten kann. Bei Impfungen – und gerade während einer Pandemie – geht das sicher nicht.

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