Wie ich das Verständnis für Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung verlor
Julia Macher in Barcelona zweifelt am Separatismus
Zum katalanischen Nationalfeiertag Diada schwenkten vor meiner Haustür wieder Hunderttausende ihre Fahnen. Mich erfüllt die Unabhängigkeitsbewegung inzwischen mit Befremden.
Meine erste journalistische Annäherung an den katalanischen Separatismus war eine rein satirische. Für einen April-Scherz im Deutschlandfunk erfand ich 2006 einen katalanischen Einbürgerungstest für europäische Expats. Den komplizierten Reigentanz Sardana zu beherrschen war ebenso Voraussetzung für die ersehnte Urkunde wie die Kenntnis möglichst vieler prominenter Katalanen, deren Nachname auf „í“ endet (Gaudí, Dalí…). Ich lebte damals knapp anderthalb Jahre in Barcelona und das Stück war zugegebenermaßen ziemlich albern. Doch in den 15 Jahren seither hat die Realität meine Vorstellungskraft weit übertroffen.
Millionen, die glaubten mit Menschenketten und Performances einen eigenen Staat gründen zu können. Eine Sezessionserklärung, die genau acht Sekunden dauerte, gefolgt von einer, die nach ein paar Flaschen Cava wieder verpuffte. Ein Regionalpräsident, der im Kofferraum seine „Republik“ verließ. Das waren nur einige Highlights der vergangenen Jahre.
Gleich vorneweg: Persönlich ist mir die Einheit Spaniens schnuppe. Staaten kommen und vergehen. Aber mich ärgert, wie naiv sich viele in Katalonien haben verführen lassen und wie schamlos sich die Politik das zunutze gemacht hat. Mit unhaltbaren Versprechen hat sie Millionen manipuliert und das Land in eine schwere Verfassungskrise gestürzt.
Ein Land nach Wunsch
Dabei war mir die Unabhängigkeitsbewegung zunächst sogar sympathisch: Die Merchandising-Industrie, die vom Briefbeschwerer bis zur Unterhose jedes Objekt mit der Estelada, der Fahne der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung verzierte, hat mich amüsiert. Die Gespräche mit Katalaninnen und Katalanen, die von der Unterdrückung während der Franco-Zeit berichteten, haben mich berührt. Ich verstand auch die Begeisterung vieler junger Leute, für die der Traum von der eigenen Republik eine „weiße Utopie“ war: So eine Republik ganz nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu basteln, ist eine charmante Idee.
Aber wenn – wie in Katalonien – vor allem mit Emotionen Politik gemacht wird, entwickelt sich eine ganz eigene Dynamik. Und häufig geht die Sache dann gründlich schief.
Zweifel werden wach
Ein erstes Aha-Erlebnis hatte ich im September 2015. Damals setzte die Regionalregierung, „plebiszitäre Wahlen“ an und versprach, Katalonien bei entsprechendem Votum in 15 Monaten in die Unabhängigkeit zu führen. Gemeinsam mit einem Kollegen vom ARD-Hörfunk interviewte ich kurz vor der Wahl die Nummer 7 der gemeinsamen Wahlliste der großen Pro-Unabhängigkeitsparteien, einen Wirtschaftswissenschaftler, der bis dato mit Politik wenig am Hut hatte. Wir fragten nach dem Sezessionsszenario, nach möglichen Konflikten mit Spanien. Der Kandidat beruhigte: Gar nichts werde passieren, statt einer eigenen Republik werde man höchstwahrscheinlich einfach ein neues Autonomiestatut verabschieden.
Ich war baff. Was davon wohl die Menschen halten würden, die bereits angekündigt hatten, in nicht allzu ferner Zukunft ihren spanischen Personalausweis öffentlich zu verbrennen? Nach jahrelangen Massenmobilisierungen? Die Online-Zeitung Eldiario.es veröffentlichte damals Auszüge aus dem Interview. Es gab Dementi und Gegen-Dementi.
Die Eigendynamik des „procés“
Der „procés“, wie der Weg zur Sezession genannt wird, nahm an Fahrt auf. Meine Befremdung wuchs. Der wirtschaftsliberale Kandidat Artur Mas war nicht mehr tragbar, weil die separatistische Wahlliste Junts pel Si auf die Stimmen der antikapitalistischen CUP angewiesen war. Statt ihm sollte ein relativ unbekannter Bürgermeister aus Girona das Land in die Unabhängigkeit führen: Carles Puigdemont. Der war damals auch Vorsitzender der proseparatistischen „Associació de Municipis per la Independència“ („Vereinigung der Kommunen für die Unabhängigkeit“).
ARD-Hörfunkkorrespondent Marc Dugge und ich hatten ihn wenige Monate zuvor gefragt, wie er sich denn den Weg in die Unabhängigkeit vorstelle. „Wir werden von einer Legalität zur nächsten wechseln“, antwortete Puigdemont verschmitzt. Das habe Spanien nach Francos Tod schließlich auch gemacht. Damals lösten sich die Cortes, das franquistische Ständeparlament, selbst auf, um einem demokratisch gewählten Parlament und einer neuen Verfassung Platz zu machen. Für eine Sezession eine dünne Strategie.
Keinen Plan, aber volle Kraft voraus
Doch zwei Jahre später versuchte das katalanische Parlament genau das: Im September 2017 boxten die Unabhängigkeitsparteien die sogenannten Diskonnektionsgesetze durch. Sie sollten zum einen den gesetzlichen Rahmen für das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober schaffen, zum anderen die Loslösung von Spanien ermöglichen. Statt auf die spanische Verfassung berief man sich auf einen vagen völkerrechtlichen Rahmen. Sämtliche Juristen, mit denen ich damals sprach, hielten das für hanebüchen. Die kommenden Wochen zeigten: Sie hatten Recht – und die katalanische Regionalregierung keinen Plan.
Doch das spielte keine Rolle. Das Referendum wurde vom Verfassungsgericht verboten, die Vorbereitungen liefen weiter. Auf Polizeidurchsuchungen folgten Demonstrationen und hochemotionale Pressekonferenzen. Ich war damals vor allem als Producerin für die ARD unterwegs. Die Laune der Politiker, mit denen wir sprachen, sank von Tag zu Tag. Sie hatten auf internationale Unterstützung spekuliert, doch die kam einfach nicht. Das änderte sich auch nicht nach dem 1. Oktober 2017.
Mit Kanonen auf Spatzen schießen
Die Bilder der Polizisten, die mit Schlagstock in der Hand Wahlurnen konfiszierten, erschütterten zwar die Öffentlichkeit, bewegten aber weder das Europäische Parlament noch einen anderen politischen Akteur dazu, sich auf die Seite der katalanischen Regionalregierung zu schlagen. Warum auch? Man kann mit Menschen, die ruppig von Ordnungskräften weggetragen oder gar verprügelt werden, mitfühlen, aber das Projekt, für das sie kämpfen, dennoch für untragbar halten.
Gegen ein „Referendum“, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht mehr war als eine gut inszenierte Demo, die Polizei zu mobilisieren, war unverhältnismäßig und ein großer strategischer Fehler des damaligen spanischen Premiers Rajoy (nur noch übertroffen von den drakonischen Haftstrafen, die der nationale Gerichtshof gegen die inzwischen begnadigten Organisatoren verhängte). Aber dass sich die katalanische Regionalregierung nicht vor die eigene Bevölkerung stellte und dieses Szenario überhaupt zuließ, war unverantwortlich. Und wozu überhaupt, wenn man für das Danach keinen Plan hat?
Verbrannte Erde
Mein Unverständnis für die separatistischen Politiker ist geblieben, vom „procés“ selbst nicht viel. Die katalanische Politik dümpelt vor sich hin. Das Gezerre am und um den Verhandlungstisch, den der spanische Premier Pedro Sánchez auch diesen Monat wieder einberufen hat, entlockt deutschen Redaktionen nur ein müdes Gähnen. Und die Estelades vor den Fenstern unserer Nachbarn sind inzwischen ziemlich ausgebleicht.
An der Schule meines Sohnes gibt es einen Vater, der nicht mehr mit mir spricht, weil ich seiner Meinung nach nicht energisch genug gegen das „faschistische Spanien“ anschreibe. Andere haben sich aus gemeinsamen Whatsapp-Gruppen verabschiedet. Der Herbst 2017 hat verbrannte Erde hinterlassen.
Im Rückblick erscheinen mir die letzten Jahre manchmal wie ein Remake der Geheimdienst-Farce „Burn after reading“ von den Coen-Brüdern: Keiner weiß, was eigentlich genau passiert ist. Aber alle sind sich einig, dass sich ‚solche Vorkommnisse‘ nie mehr wiederholen dürfen.