Kontinent des Wohlstands, der Freiheit und der Demokratie? So nimmt die Welt Europa und die EU wahr
Die Europawahl hat einige Turbulenzen ausgelöst: Für uns Weltreporter ein guter Anlass, sich mal umzuhören, wie man rund um den Globus auf Europa guckt.
Diese Europawahl hat den Kontinent und die EU ganz schön durcheinander gerüttelt und verunsichert. Zwar ging die Mehrheit der Sitze im Europaparlament an die politische Mitte, aber rechte und extrem rechte Parteien haben deutlich an Einfluss gewonnen. Für uns war die Wahl ein Anlass, unsere Kolleginnen und Kollegen rund um den Globus zu fragen, wie Europa und die EU in ihren Ländern wahrgenommen werden.
Herausgekommen ist ein kleines Stimmungsbild, das einerseits zeigt, wie der Rechtsruck in einigen EU-Ländern die Kritik an der Union anheizt, und wie andererseits die immer noch positiv gestimmten Spanier über Grenzen hinausdenken. Besonders spannend ist der Blick nach Afrika oder Asien: Ist Europa noch das „gelobte Land“, zu dem man wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflegen muss? Oder kooperiert man lieber mit Staaten außerhalb der EU? Unsere Korrespondentinnen in Tunesien und Westafrika stellen fest: Die Haltung zu Europa hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Schuld daran ist ein stärkeres Bewusstsein für die Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte, aber auch die Haltung europäischer Länder im Gaza-Krieg. In Indonesien geht man sogar so weit zu sagen: „Wir brauchen Europa nicht mehr!“
Große EU-Skepsis in Österreich
Überraschend ist es nicht, doch tatsächlich sehen laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage nur 42 % der Österreicher*innen die Mitgliedschaft in der EU als etwas Positives an, schreibt Alexander Musik, Weltreporter in Österreich. Schuld daran seien nicht zuletzt die hetzerischen Thesen der rechtsextremen Freiheitlichen Partei (FPÖ), die es vor jeder Wahl aufs Neue mit Erfolg schafft, ihre Parolen unters (Wahl-)Volk zu bringen. „Öko-Kommunismus“, „Kriegstreiberei“, „Corona-Chaos“ und „Asylkrise“, „EU-Wahnsinn stoppen“: In den auflagenstarken Gratisblättern der FPÖ in Österreich sind solche Schlagwörter laut Musik üblich, und sie beeinflussen ihre Leser*innen. Die EU-Skepsis wird sich dadurch in Österreich nicht so leicht legen. Im Gegenteil: Mit mehr als 25 % der Stimmen haben die Österreicher*innen die FPÖ zur stärksten Kraft gemacht und ihr sechs von zwanzig für Österreich vorgesehene Sitze im Europaparlament beschert.
Frankreich: Nach der Wahl ist vor der Wahl
Das sehr hohe Abschneiden der rechtsextremen Partei Rassemblement National, die mit ihrem jungen Spitzenkandidaten Jordan Bardella 31,7 % der Stimmen auf sich vereinen konnte, hat Präsident Emmanuel Macron dazu bewegt, das Parlament aufzulösen. Wie Frankreich-Reporterin Barbara Markert berichtet, wurde seine Entscheidung sehr unterschiedlich aufgenommen: Die Einschätzungen reichen von „notwendig“ bis „zu risikoreich“. Der erste Wahlgang ist schon am 30. Juni, kurz vor Beginn der Sommerferien. Der zweite Wahlgang findet am 7. Juli statt. Die kurze Zeitspanne erschwert das Bilden von Bündnissen.
Griechenland: Extrem niedrige Wahlbeteiligung und Rechtsruck
Wie in vielen Ländern der EU, können in Griechenland die Ergebnisse der Europawahlen als ein Schlag ins Gesicht für die Regierung interpretiert werden, schreibt Rodothea Seralidou, die aus Griechenland berichtet: Zwar hat die konservative Regierungspartei Nea Demokratia mit etwas mehr als 28 Prozent der Stimmen einen großen Abstand zur zweiten Partei, der linken Syriza, aber diesen beiden folgt eine rechtspopulistische Partei, die „Griechische Lösung“ mit etwa 9 Prozent der Stimmen – noch vor der sozialistischen Pasok. Außerdem erreichte die Wahlbeteiligung ein Rekordtief: Lediglich vier von zehn wahlberechtigten Griechinnen und Griechen sind wählen gegangen. Hinzu kommt auch in Griechenland der Faktor „Euroskeptizismus“: Laut dem letzten Eurobarometer haben nur 38 Prozent der Griechen ein positives Bild von der EU.
Spanien: Treue Europäer*innen
Ganz anders sieht es in Spanien aus: Den meisten Spanier*innen gilt die Europäische Union als Garant für Wohlstand und Chancengleichheit. Laut einer Befragung des staatlichen Meinungsforschungsinstitut CIS vom April 2024 glauben knapp 64 Prozent, Spanien würde es ohne die EU wirtschaftlich schlechter gehen. Das Land hat in den 1980er und 90er Jahren nicht nur von Infrastrukturpaketen profitiert. Auch die in Brüssel beschlossene gemeinsame Agrarpolitik und die Milliardenprogramme für regenerative Energien haben großen Einfluss auf den Alltag. Auf spanischem Boden findet sich zudem eines der wenigen Kooperationsprojekte aus dem Bereich Gesundheit: Das 2014 eröffnete Grenzkrankenhaus Hospital de Cerdanya steht sowohl spanischen wie auch französischen Patient*innen offen, wie Weltreporterin Julia Macher in Deutschlandfunk Kultur berichtete.
Tunesien: Gelobtes Europa? Nicht (mehr) für alle
Tunesien ist in den letzten Jahren zum wichtigsten Transitland der zentralen Mittelmeer-Route geworden: Immer mehr Menschen aus dem Afrika südlich der Sahara versuchen, von dort aus nach Europa zu gelangen. Gleichzeitig versucht die EU mit umstrittenen Deals mit Tunesien, die Grenzen dicht zu machen. Bei einigen Tunesier*innen zeigt sich jedoch gerade ein anderes Bild: Aktivist*innen der Zivilgesellschaft, die ihrem Land angesichts des zunehmenden Autoritarismus des Präsidenten eigentlich den Rücken kehren wollten, nehmen seit dem Krieg gegen Gaza und der europäischen Unterstützung der israelischen Regierung von ihren Plänen Abstand. Lieber zu Hause für den Kampf für mehr Demokratie Gefängnis riskieren als in Länder auswandern, in denen die universellen Menschenrechte nur ein Lippenbekenntnis seien, so ihr Credo. Darüber berichtete Weltreporterin Sarah Mersch für die Zeit.
Westafrika: Viele Staaten gehen zu Frankreich und Europa auf Distanz
Vor allem in vielen Staaten Westafrikas hat sich die Haltung zu Europa in den vergangenen Jahren grundlegend geändert, wie Weltreporterin Bettina Rühl unter anderem aus Mali für den Deutschlandfunk berichtete. In Mali und anderen westafrikanischen Ländern denken viele Menschen beim Stichwort „Europa“ vor allem an die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die in der europäischen Afrika-Politik ein großes Gewicht hatte. Nun begehren viele Menschen gegen neo-kolonialen Strukturen auf, fordern ein Ende der Ausbeutung ihrer Rohstoffe zu unfairen Bedingungen und den Bruch mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Seit 2020 gab es auf dem afrikanischen Kontinent neun Militärputsche, gleich zwei davon in Burkina Faso und zwei in Mali, einen weiteren in Niger. Die neuen Regierungen haben sich Russland angenähert und sich von Frankreich und Europa distanziert. Trotzdem bleibt Europa für viele ein Sehnsuchtsort, den sie auf lebensgefährlichen Wegen zu erreichen versuchen.
Indonesiens nächster Präsident: „Besser von China und Indien lernen“
„Wir brauchen Europa nicht mehr wirklich“, sagte der designierte indonesische Präsident Prabowo Subianto vergangenen November bei einem Forum des Centre for Strategic and International Studies in Jakarta. Wie Christina Schott schreibt, kritisierte er ein ab Dezember 2024 geltendes EU-Importverbot für Produkte, die zur Abholzung von Regenwäldern beitragen: „Wir öffnen unseren Markt für Sie, aber Sie erlauben uns nicht, Palmöl zu verkaufen, und jetzt haben wir auch noch Probleme mit Kaffee, Tee, Kakao.“ Als noch amtierender Verteidigungsminister des Landes forderte er stattdessen, enger mit anderen asiatischen Staaten zusammenzuarbeiten. Auch in Sachen Menschenrechte liefe Europa Gefahr, aufgrund doppelter Standards die moralische Führung zu verlieren. Subianto, der selbst teils in Europa aufwuchs, sprach von einem Wandel in der Welt: Indonesien sei besser dran, wenn es von „anderen Ländern im Osten“ wie China und Indien lerne.