Ostafrika: Menschenhändler locken immer mehr Opfer mit Versprechen auf Jobs in die Falle
Durch die Coronapandemie und den Preisanstieg bei Energie und Lebensmitteln hat die wirtschaftliche Not auch in Ostafrika zugenommen. Internationale Kartelle profitieren.
Die Wirtschaftskrise treibt immer mehr Menschen in Ostafrika in die Verzweiflung. Kartelle nutzen das aus, locken ihre Opfer mit Versprechen auf Jobs in die Falle. Sie sind in immer mehr Ländern aktiv.
Hoffnung ist das, was sie alle verführt. Die Hoffnung darauf, ihre Kinder endlich vernünftig ernähren zu können. Die Hoffnung auf Arbeit. Auf ein besseres Leben. Auch bei Michael Johnson war das so. „Was sagst du denn, wenn deine Kinder vor dir stehen und dich fragen, was es am Abend zu essen gibt – und du eigentlich keine andere Antwort hast als: ‚nichts‘“, fragt Johnson, der rund acht Monate in der Gewalt von Menschenhändlern war und unter seinen traumatischen Erlebnissen immer noch leidet. Johnson, der nun wieder in Kenia wohnt, heißt eigentlich anders, möchte seinen richtigen Namen aber nicht gedruckt wissen.
Bis zum Beginn der Corona-Krise konnte der heute 35-Jährige immer wieder in einem Hotel aushelfen. Mit dem Lockdown, der den Tourismus in Kenia über Monate zum Erliegen brachte, verlor er jegliches Einkommen. Einen Job im Ausland hielt er für seinen letzten Ausweg. Im Frühjahr 2022 flog Johnson mit einem Touristenvisum und dem Versprechen auf eine fair dotierte Stelle im Online-Verkauf und Marketing für ein vermutlich chinesisches Unternehmen nach Thailand. Stattdessen hätten Menschenhändler ihm gleich nach der Landung in Bangkok den Pass abgenommen und ihn durch eine mehrtägige Autofahrt über die Grenze nach Myanmar verschleppt.
„Die Männer im Auto waren bewaffnet, mir war klar, dass ich ihnen ausgeliefert bin und war lieber still“, erinnert sich der Vater von zwei Kindern im Alter von neun und drei Jahren an den Beginn seiner mehrmonatigen Gefangenschaft. In Myanmar zwangen die Kriminellen ihn – und nach seiner Schätzung hunderte weitere afrikanische Gefangene – mit Gewalt und der Drohung von Organentnahmen zu Online-Betrug. Dass er mit dem Leben davonkam, verdankt er etwas Glück und der Unterstützung durch die kenianische Botschaft in Thailand. Die Menschenhändler hatten ihm zwar sein Handy abgenommen, es war ihm aber gelungen, sein zweites Handy vor ihnen zu verstecken. So konnte er sich bei der kenianischen Botschaft in Thailand melden. Die Mitarbeitenden nahmen seinen Anruf ernst und glaubten ihm, halfen ihm, die Flucht zu organisieren.
Das Verhalten der Botschaft in Bangkok sei vorbildlich gewesen, lobt Winnie Mutevu. Sie arbeitet für die kenianische Menschenrechtsorganisation HAART, auf Deutsch bedeutet die Abkürzung: „Aufklärung über Menschenhandel“. Leider seien nicht alle Botschaften über Menschenhandel zu gut informiert und so hilfsbereit, meint Mutevu. Um zu erreichen, dass möglichst viele Diplomaten im Notfall das Richtige tun, bemüht sich HAART um die Zusammenarbeit mit der kenianischen Regierung und Diplomaten aller ostafrikanischen Länder.
Seit seiner Rückkehr nach Kenia im Herbst 2022 bekommt Johnson dank HAART psychologische Unterstützung, Hilfe bei der Finanzierung von Lebensmitteln und Miete, medizinische Versorgung und etwas Geld, um beruflich auf eigene Beine zu kommen. Johnson ist einer von vielen, die nach derart traumatischen Erlebnissen auf Hilfe angewiesen sind.
Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO lebten 2021 weltweit 50 Millionen Menschen in Sklaverei oder sklavenähnlichen Verhältnissen: in Zwangsarbeit geknechtet oder in Kinderehen gefangen. Viele von ihnen geraten durch Menschenhandel in die Hände ihrer Peiniger. Nach der jüngsten, 2020 veröffentlichten Studie des UN-Büros für Drogen und Verbrechensbekämpfung zum Thema Menschenhandel wurden alleine im Jahr 2018 weltweit rund 50.000 Fälle entdeckt und von 148 Ländern gemeldet. Die Autoren erwarteten damals für die kommenden Jahre eine Zunahme der Fälle, weil sich bereits abzeichnete, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die wirtschaftliche Not vieler Menschen weiter verschärfen würde.
Diese Sorge hat sich laut Mutevu bestätigt: „Vor dem Beginn der Corona-Pandemie haben wir jährlich etwa 80, höchstens 100 Überlebende unterstützt“, sagt Mutevu. „Aber allein im vergangenen Jahr waren es 160 – die Zahl hat sich also etwa verdoppelt.“ Mutevu arbeitet für HAART. Die derzeit gut 20 Mitarbeiterïnnen der Organisation informieren in den Dörfern und Städten über Menschenhandel, versuchen in Behörden und bei politischen Entscheidungsträgerïnnen das Bewusstsein für das Thema zu schärfen. Sie helfen bei der Repatriierung von Überlebenden, unterstützen sie nach der Rückkehr in die Heimat. Ihr Arbeitsalltag ist wie ein Fieberthermometer für die wirtschaftliche Lage im Land: Nehmen Not und Arbeitslosigkeit zu, suchen die Menschen immer verzweifelter nach einem Job, gehen größere Risiken ein, werden häufiger Opfer dieses Verbrechens – und HAART hat immer mehr Überlebende zu betreuen.
Wie wenig über das reale Ausmaß des Menschenhandels bekannt ist, lässt eine Erfahrung von HAART aus dem Jahr 2021 ahnen. Wie Mutevu erzählt, retweetete die kenianische Polizei damals einen Hinweis von HAART, die Organisation könne Überlebenden von Menschenhandel bei der Repatriierung nach Kenia helfen. „Innerhalb eines Monats wandten sich 4000 Überlebende an uns, die irgendwo im Ausland feststeckten und uns um Unterstützung baten.“ Die Hotline und Accounts der Organisation waren schnell völlig überlastet, HAART musste neue Mitarbeiterïnnen einstellen, um die Hilfegesuche auch nur annehmen zu können. Geschweige denn, für alle etwas tun zu können. Mutevu befürchtet, dass Leidensgeschichten wie die von Johnson noch häufiger werden.
Preissteigerungen erhöhen wirtschaftliche Not
Auch in Kenia und anderen ostafrikanischen Ländern sind die Lebenshaltungskosten drastisch gestiegen. „Für viele Menschen hier wird es immer schwerer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten“, hat auch Mutevus Kollegin Mercy Otieno beobachtet. Die Psychologin ist bei HAART für die Unterstützung der Überlebenden zuständig. Auch sie vermutet, dass sich wegen der Wirtschaftskrise immer mehr Menschen von kriminellen Anwerbern täuschen lassen. Solche Rekrutierer arbeiten für internationale Kartelle, die oft von wohlhabenden Geschäftsleuten geleitet werden, „von denen manche sogar mit Behörden in Verbindung stehen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind“, schildert Mutevu.
Die Anwerber versprechen Jobs in den Golfstaaten und immer häufiger auch in asiatischen Ländern oder den USA – Ländern, die für arbeitsuchende Kenianerïnnen noch vor wenigen Jahren keine Rolle gespielt haben. Aber Menschenhandel liegt nicht nur vor, wenn internationale Kartelle profitieren. Sondern beispielsweise auch dann, wenn Eltern ihr Kind zu Verwandten in die Stadt schicken, damit es dort im Haushalt hilft. Kinderehen gelten in Kenia ebenfalls als eine Form von Menschenhandel. Nicht zuletzt, weil entsprechend der Kultur vieler Ethnien die Eltern der Mädchen bis heute einen Brautpreis bekommen, seien es Rinder, Ziegen oder ein Geldbetrag. Für verarmte Familien auf dem Land kann das ein starker Anreiz sein, die Tochter möglichst bald zu verheiraten, statt sie als zusätzliche Esserin noch länger im Haus zu haben oder womöglich sogar Schulgeld bezahlen zu müssen.
Aktivistïnnen riskieren viel
Seit der Gründung von HAART im Jahr 2010 hat die Organisation viel dafür getan, das Bewusstsein für die verschiedenen Formen von Menschenhandel zu schärfen. Durchaus mit einigem Erfolg, meint Otieno. Sie glaubt, dass sich auch deshalb mehr Menschen mit der Bitte um Hilfe an sie und ihre Kollegïnnen wenden, weil sie mittlerweile besser wissen, was Menschenhandel ist – und damit im Ernstfall erkennen, dass sie Opfer eines Verbrechens wurden. Und wissen, dass es Organisationen und Regierungsstellen gibt, die ihnen womöglich helfen können. So wie es die kenianische Botschaft in Thailand. Dieses Beispiel ermutigt die Mitarbeiterïnnen von HAART, mit ihrer nicht ungefährlichen Arbeit fortzufahren. Hin und wieder seien Mitarbeiterïnnen schon bedroht worden. Der Gedanke an die eigene Sicherheit gehöre zum Alltag, erzählt Mutevu. Die Frage zum Beispiel: Wo wäre ein zweiter Fluchtweg, wenn ich dieses Haus betrete? Welche Information über mich braucht mein Gegenüber wirklich, was könnte für mich oder die Überlebenden, die wir betreuen, gefährlich werden? Mit derlei Vorsichtsmaßnahmen, so Mutevu, sei das Risiko bislang für alle beherrschbar. So können sie Menschen wie Johnson auch in Zukunft helfen.
Dieser Artikel erschien zunächst im Amnesty-Journal 02/2023.