Frauenleben am Amazonas: Lebende Tote im Fluss und Frauen, die sich selber töten

Stephanie Boyd und Patricia Wiesse zeigen in ihren Dokumentarfilmen das Leben im peruanischen Amazonasgebiet. Ihre Filme „Karuara – die Menschen des Flusses“ und „El Huaro“ gewannen beim diesjährigen Internationalen Filmfestival in Lima mehrere Preise.

13 Minuten
Abendrot ueber einem Fluß, man sieht eine Holzhütte, die in den Fluss hinausragt, und ein Mensche, der meditierend am Ufer sitzt.

Es sei eine Risikoschwangerschaft, und sie müsse zum Gebären rechtzeitig ins Krankenhaus gehen. So hat es der Arzt Mariluz Canaquiry gesagt, als sie mit ihrem vierten Kind schwanger war. Nun lebt Mariluz nicht in einer Stadt oder einem Dorf mit Zug- und Busanschluss. Von ihrem Dorf Shapajilla sind es mehrere Stunden mit dem Boot nach Nauta und von dort wiederum mehrere Stunden bis in die Amazonas-Hauptstadt Iquitos, wo das Krankenhaus steht.

Als sie merkte, dass die Wehen einsetzten, machte ihr Mann den Pequepeque – ein langes Holzkanu mit einem Außenbordmotor – startklar, und half seiner hochschwangeren Frau in das schmale Boot. Es war Nacht und es schüttete wie aus Kübeln.

Doch das Kind wollte nicht warten. Mitten auf dem Fluss Marañón flutschte die kleine Juanita problemlos aus Mariluz hinaus. Ihr erster Kontakt mit der Welt war der Boden des Bootes, der Regen und das Rauschen des Flusses.

Frau sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Boden eines Holzhauses und füllt ein braunes Getränk in eine Flasche ab.
Die Kukama-Frau Mariluz Canaquiry steht mit ihren Erzählungen im Mittelpunkt des Films „Karuara“.

Mariluz erzählt aus ihrem Leben

„Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist, in der Regenzeit mitten auf dem Fluss zu gebären“, sagt Stephanie Boyd viele Jahre später. „Wenn ich bei meinen Besuchen im Dorf nachts die Toilette suchen musste, war das mir schon Abenteuer genug.“

Mit Mariluz’ Erzählung von der Geburt ihrer Tochter beginnt Stephanie Boyd ihren Film „Karuara – Menschen des Flusses“. Es ist ein Film über das Leben an und im Fluss Marañón, der wenige Kilometer weiter mit dem Fluss Ucayali zusammenfließt, und ab dann als Amazonas seinen Lauf quer durch Südamerika nimmt.

Eine Frau mit Tropenhut und Tuch, daneben ein Mann mit Vollbart hinter einer Kamera. Stehen im Regenwald.
Zehn Jahre lang haben Stephanie Boyd und Miguel Araoz an ihrem Dokumentarfilm „Karuara – die Menschen des Flusses“ gearbeitet.

Zehn Jahre für einen Dokumentarfilm

Karuara nennen die Kukama-Indigenen die Menschen, die im Fluss umgekommen sind und deren Leiche nie gefunden wurde. In der Mythologie der Kukama führen sie ihr Leben unter Wasser in einer Parallelwelt fort, in einer eigenen Stadt.

Stephanie Boyd ist gebürtige Kanadierin und lebt seit 27 Jahren in Peru. Bisher hat sie sich mit Filmen über Umweltverbrechen vor allem in den Anden einen Namen gemacht. Doch als sie hörte, dass es im Amazonasgebiet eine ganze Stadt am Grund des Flusses gibt, wusste sie, dass sie das Thema für ihren neuen Film gefunden hatte. Denn Stephanie hatte selbst einen Cousin und dessen Vater im Ontario-See in Kanada verloren, deren Leichen nie geborgen wurden.

Zehn Jahre sollte es von der ersten Idee bis zum fertigen Film dauern. Immer wieder mussten Stephanie Boyd und ihr Partner Miguel Araoz Geld auftreiben. Dazwischen kam die Corona-Pandemie, die Peru praktisch zwei Jahre lang stilllegte. Doch am meisten Zeit brauchten die Trickfilm-Teile des Films. Zwar war sehr schnell klar, dass Mariluz Canaquiry die Hauptperson des Films sein würde. Aber wie die Mythologie der Kukama darstellen?

Zeichnung: ein erdfarbener Mensch ohne Gesichtszüge aber überlangen Beinen, in der Hand Pfeil und Bogen, schaut in den blauen Himmel.
In der Mythologie der Kukama hat ein Wesen mit seinen Bogenschüssen die Flüsse erschaffen.

Vom Malen zur Trickfilm-Animation

Ein erdbraun gezeichnetes geschlechtsloses Wesen nimmt einen Pfeil, legt ihn an seinen Bogen und schießt ihn kilometergerade in die Weite. Dort, wo der Pfeil aufkommt, bildet sich ein Fluss aus dem Nichts. Mit weiteren Pfeilen schafft die Figur kleine mäandernde Flüsse, bis schließlich die ganze Leinwand mit großen und kleinen Gewässern bedeckt ist.

Rund 1000 Zeichnungen haben Miguel Araoz, ein ausgebildeter Maler, und seine Kollegen von der Kunstschule in Cusco dafür erstellt, sie danach wie in einem Daumenkino zusammengemischt und digitalisiert. Es war ihr erster Animationsfilm und sie mussten die Herstellung von der Pike auf lernen. Ein Jahr haben sie für jede Animation gebraucht. 14 Minuten des 76-Minuten-Films bilden in Animationen die Seelen- und Unterwasserwelt der Kukama ab.

Das Ergebnis hat sich gelohnt. Als Stephanie, Miguel und Mariluz den fertigen Film den Dorfbewohnerïnnen von Shapajilla und Nauta vorführten, kam danach eine junge Frau zu ihnen und sagte, genauso habe sie es geträumt. Und dass sie noch nie jemandem von ihrem Traum erzählt habe.

Zeichnung: vier Fabelwesen sitzen im Schneidersitz im Kreis und reden, über ihnen mehrere Schlangen.
In der Mythologie der Kukama leben Menschen, die im Fluss ertrunken sind und deren Leichname nie gefunden wurden, in einer Stadt am Grund des Flusses.

Während der Dreharbeiten gelangte Mariluz Canaquiry, deren Geschichten und Erinnerungen den roten Faden des Films bilden, zu einer gewissen Berühmtheit. Als Vorsitzende des Frauenvereins der Kukama hat sie beim Gericht in Loreto auf die Anerkennung eines Eigenrechts für den Marañón geklagt.

Am 15. März dieses Jahres kam dann die Nachricht, die um die Welt ging: Der Fluss Marañón erhält eine eigene Rechtspersönlichkeit. „Diese Anerkennung gibt uns die Möglichkeit, im Namen des Flusses Klage einzureichen, zum Beispiel, wenn der freie Fluss des Marañón bedroht wird“, ist Mariluz Canaquiry überzeugt.

Wie leben junge Kukama?

Nicht nur der Fluss, sondern auch die traditionelle Lebensweise der Kukama ist längst bedroht. Diesen Konflikt sieht man bei den jungen Kukama sehr deutlich. Im verschmutzten Fluss tummeln sich immer weniger Fische und die nahe Stadt lockt mit falschen Konsumversprechungen, die für indigene Jugendliche meist unerreichbar sind.

Dies erlebt auch Juanita, die auf dem Fluss geborene Tochter von Mariluz Canaquiry. Juanita lebt heute mit ihrer eigenen Familie in Iquitos.

Fluss, an beiden Seiten üppige Vegetation. Zwei Stahlseile führen über den Fluss. Daran hängt eine einfache Kabine mit Holzboden und rotem Metallgeländer, die Menschen über den Fluss transportiert.
Der Seilzug-Lift „El Huaro“ gibt dem Dokumentarfilm von Patricia Wiesse seinen Namen. Er führt über den Fluss Chiriaco im nordperuanischen Amazonasgebiet.

Ein Seilzug verbindet Welten

Von diesem Zwiespalt zwischen traditionellem Gemeinschaftsleben und der Sehnsucht der jungen indigenen Frauen, diese einfache und patriarchale Welt zu verlassen, handelt der Film El Huaro von Patricia Wiesse.

Der Huaro, das sind mehrere Holzbretter umgeben von einem Metall-Geländer, die von den Mitfahrenden an zwei Stahlseilen über den Fluss Chiriaco gezogen werden und damit die Fähre ersetzen. Auf der einen Seite des Flusses liegt die Kleinstadt Chiriaco, laut, chaotisch, voller Geschäfte und die erste Station auf dem Weg in die Hauptstadt Lima. Auf der anderen Seite des Flusses beginnt das indigene Gebiet der Awajún. Dort steht auch die Mädchenschule Fe y Alegria 62, in denen Awajún-Mädchen ihre Sekundarschule absolvieren können.

Frau mit Schildmütze, Gummistiefeln und Tuch über dem Kopf blickt von hinten in den Sucher der Kamera. Neben ihr sitzen zwei junge indigene Frauen.
Wochenlang hat die peruanische Regisseurin Patricia Wiesse mit den jungen Awajún-Frauen Gespräche geführt, bevor sie schließlich drehen konnte.

Am Anfang stand ein Massaker

Die in Lima geborene und lebende Patricia Wiesse kam erstmals im Jahr 2009 mit dem Huaro über den Fluss Chiriaco. Kurz zuvor waren bei einer Indigenen-Revolte gegen einen von der peruanischen Regierung geplanten Verkauf indigenen Landes an Investoren, dem sogenannten Baguazo, zahlreiche Awajún-Indigene, aber auch peruanische Polizisten ermordet worden.

Der Staat klagte daraufhin die Anführer des Aufstands wegen Mordes an. Die Angeklagten flüchteten auf die andere Seite des Flusses und versteckten sich in ihren Gemeinden.

Patricia Wiesse recherchierte als Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation zu den Vorfällen des Baguazo. Dabei kam sie erstmals mit der von Nonnen geführten Mädchenschule in Kontakt. „Ich war sofort beeindruckt von der guten Organisation und dem Niveau der Schule“, erzählt Patricia Wiesse, wie die Idee für ihren dritten Film entstand.

Zwei Dokumentarfilme hatte sie bereits gedreht, den letzten über indigene Frauen in den Anden, die während des Bürgerkrieges vergewaltigt worden waren. Doch erst 2022 konnte sie für ihr Dokumentarfilmprojekt „El Huaro“ wieder nach Chiriaco zurückkehren.

Üppige Pflanzenwelt, davor ein quer liegender Baumstamm. Fünf weibliche indigene Teenager sitzen darauf und reden.
Die Awajún-Schülerinnen verbringen ihre Freizeit im Internat in der sie umgebenden Natur.

Wenn indigene Teenager zusammenkommen

Der Film zeigt einerseits den Schreiner Alberto Tawi. Er gehörte 2009 zu den wegen Mordes angeklagten Indigenenführern. 15 Jahre lang lebte er unter der Anklage halb versteckt, bis er 2023 schließlich freigesprochen wurde.

Doch der Hauptfokus des Films liegt auf den jungen Awajún-Frauen und ihrem Leben im Internat der Schule: wie sie zusammen lernen, tanzen, essen. Vor allem aber, wie sie zusammen in ihrer Sprache Awajún reden, kichern, von ihrem Leben erzählen.

Patricia Wiesse war es wichtig, dass die Kamera keine Interviews zeigt, sondern wie eine außenstehende Beobachterin die Gespräche unter den Mädchen aufnimmt. Wochenlange Gespräche und Besuche waren notwendig, bis das Vertrauen geschaffen war, mit der Kamera zu drehen.

Die Selbsttötung als Ausweg aus Liebeskummer oder Gewalt in der Familie ist ihnen allen geläufig (Patricia Wiesse)

Selbsttötung als Rache und letzter Ausweg

Auf den ersten Blick zeigt der Film kichernde Teenager, die im Schlafsaal und im Speisesaal ihre kleinen Geheimnisse und Schwärmereien teilen, wie dies überall auf der Welt so geschehen mag. Doch bald enthüllt das Lachen der Mädchen eine ernste und grausame Wahrheit.

Die Selbsttötung als Ausweg aus Liebeskummer oder Gewalt in der Familie ist ihnen allen geläufig, so Patricia Wiesse. Nella, eines der Mädchen, erzählt, wie sie selbst versucht hat, sich mit Waschpulver zu vergiften. Janni, die 16-jährige Hauptdarstellerin, zählt alleine 17 Frauen und Mädchen aus ihrem Umfeld auf, die versucht haben, sich selbst zu töten oder es tatsächlich getan haben.

Patricia Wiesse hatte im Vorfeld gehört, dass Selbsttötung bei Awajún-Frauen oft vorkommt. Doch wie alltäglich sie im Leben der jungen Frauen war, hat sie dann doch überrascht. „Oft ist es wegen Liebeskummer oder wegen Gewalt in der Familie. Der Suizid ist Rache und Vergeltung“, sagt Patricia Wiesse.

Das Reden über ihre Toten hat bei den Mädchen eine befreiende Wirkung. Der Film endet damit, wie sie zusammen zum Grab einer jungen Frau gehen, die sich selbst getötet hat, dort Blumen niederlegen und gemeinsam trauern.

Rotes Metallgeländer, dahinter stehen sechs Menschen, in der Mitte eine junge indigene Frau. Sie schaut in die Ferne.
Die 16-jährige Jenny verlässt mit dem Huaro ihr Heimatdorf, um in der Provinzhauptstadt Bagua eine Ausbildung zu machen. Nur wenige Awajún-Mädchen schaffen dies.

Der traditionellen Frauenrolle entfliehen

Die Geschlechterrollen sind bei den Awajún sehr traditionell verteilt. Mädchen werden jung schwanger, wurden zumindest früher von der Familie verheiratet. Einige suchen ihr Heil deswegen in der großen Stadt, wo sie als Hausmädchen in sklavenähnlichen Verhältnissen Arbeit finden.

Nur eine ganz kleine Minderheit schafft es, diesem Los zu entkommen und einen Beruf zu erlernen. Janni, die 16-Jährige mit dem ernsten Blick, gehört dazu. Mit dem Huaro überquerte sie den Chiriaco und macht nun eine Ausbildung zur Krankenschwester in der Provinzhauptstadt Bagua.

Hoffentlich finden beide Filme auch in Deutschland einen Platz auf Filmfestivals und in Kinos.

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