Wo es in Lima grünt: Der harte Kampf um Limas bedrohte Hügel-Oasen
Ascencio Vásquez und Mitstreiterïnnen schützen ein Naherholungsgebiet in der peruanischen Hauptstadt – und bekommen dafür Todesdrohungen von Grundstückspekulantïnnen. Auf Tour in einem bedrohten Wüsten-Ökosystem.
Lima, die Zehn-Millionen-Stadt am Pazifik, scheint kein Ende zu nehmen. Seit zwei Stunden schon ruckelt der Bus über staubige Straßen auf dem Weg zu den Außenbezirken der peruanischen Hauptstadt. Händler schreien mit den Hupen der Autos um die Wette und bieten Säfte, Zeitungen oder Gebäck feil. Ein junger Mann lehnt sich aus der Tür, ruft die Stationen auf und versucht, Fahrgäste in seinen Bus zu locken.
Je mehr sich der Bus Richtung Peripherie bewegt, desto grauer werden die Straßen, unfertiger die Häuser und desto mehr Müll liegt an den Rändern. Ganz am Ende der Stadt schnauft der Bus einen steilen, trockenen Hügel hoch. Es wird ruhiger. Zwischen den Häusern stehen Bäume oder sogar ein kleiner Garten. Man hört sogar vereinzelt Vögel zwitschern.
Die jüngste Siedlung im Viertel Carabayllo im äußersten Norden Limas nennt sich „Primavera“ – Frühling. Und das völlig zurecht.
Unten in Lima ist Winter: 14 Grad Celsius, ständig Küstennebel, den kein Sonnenstrahl durchdringt, hohe Luftfeuchtigkeit und eine klamme Kälte, die einem nicht aus den Knochen weicht. In Primavera hingegen lässt sich die Sonne hinter einer viel dünneren Nebelschicht erahnen.
Ein Wanderweg in die Lomas
Diesen Flecken Erde hat sich Ascencio Vásquez vor 14 Jahren ausgesucht, um sein Häuschen zu bauen. Nicht wegen des milderen Klimas oder der Aussicht auf die darunterliegende Großstadt. Sondern weil die Grundstücke in Primavera die billigsten waren, ohne Stromanschluss, ohne Wasser und ohne eine geteerte Straße. Nur ein Fleckchen Land an einem kargen Hügel. Als armer Zuwanderer aus der nördlichen Provinz Cajamarca hat er hier billig Land erwerben können. Vasquez ist in der nordperuanischen Region Cajamarca geboren und liebt die Berge und die Natur. Viele Jahre hatte er als Bauer auf dem Land gearbeitet. Daneben schrieb er Gedichte und Erzählungen, die er selbst verlegte und in Schulen und Gemeinden verkaufte.
Nach Lima zog er mit seiner Familie auf der Suche nach einer besseren Arbeit. Er wurde Maurer, baute sein Häuschen in Primavera.
Der 48-Jährige tritt in Wanderschuhen und Anorak vor die Tür und zeigt mit dem Finger auf die Hügel hinter seinem Haus: Dort beginnen die noch unbebauten Lomas de Primavera. Es sind Hügel, die mitten in der Wüste im Winter zu blühen beginnen. Vor zehn Jahren hat es sich Ascencio Vásquez zum Ziel gesetzt, sie zu schützen und sie als Naherholungsgebiet bekannt zu machen. Davon erhofft er sich Unterstützung, um weiteren illegalen Landinvasionen vorzubeugen.
Der drahtige Mann steigt behände die Stufen hinter seinem Haus hoch. Seine Schwester Rosa begleitet ihn. „Willkommen bei den Hügeln von Primavera“ steht auf einem selbst bemalten Holzschild. Hier beginnt der Wanderweg, den die Geschwister mit ein paar Mitstreiterïnnen aus der Nachbarschaft entworfen haben. Ökologischer Loma-Verein von Primavera nennt sich ihr Verein. In einem Buch trägt sich jeder Besucher ein und entrichtet den Eintrittspreis von umgerechnet 1, 50 Euro.
In die Erde sind kleine Stufen gehauen, die den Aufstieg erleichtern. Nach zweihundert Metern trifft man auf ein Orientierungsschild mit Wanderkarte. Die Stadtverwaltung von Lima hat es zusammen mit dem Ökologischen Loma-Verein von Primavera aufgestellt. Doch bisher finden nur wenige Ausflüglerïnnen hierher.
Die Wüste lebt
Als Vásquez sich hier niederließ, waren die Hügel einfach unnützes, karges Land. Heute weiß man: Die Küsten-Lomas sind einzigartige Ökosysteme. Sie bilden kleine Inseln, die während der Wintermonate aufgrund eines einzigartigen Klimaphänomens ergrünen: Immer dann, wenn der Küstennebel, die Garúa, aufgrund des kalten Humboldt-Stroms so dicht vom Pazifik aufsteigt, dass man keinen halben Meter weit sehen kann.
An den Hügeln bleibt er hängen und sorgt für genügend Feuchtigkeit, sodass auf einmal Pflanzen wachsen. Dann tritt man hier auf grünes Moos und Kräuter. Vögel zirpen, Eidechsen huschen, und wenn man Glück hat, findet man sogar ein paar Blumen. In Peru gibt es 67 dieser Lomas, die 783.000 Hektar bedecken und sich von der Meereshöhe bis auf 800 Höhenmeter erstrecken.
Obwohl es in den Lomas nie regnet, nässt der feuchte Nebel den Boden und lässt Gräser, Sträucher und sogar die gelbe Amancaes-Blume während weniger Monate erblühen.
Auf der Suche nach der gelben Blume
Vor über 50 Jahren pilgerten die Hauptstadtbewohner, die Limeños zur Amancaes-Blüte. So besingt es die berühmte Sängerin Chabuca Granda in ihrem Lied „Jose Antonio“. Die touristische Erschließung des Ökosystems begann 1977. Die ersten Wanderrouten wurden in Lomas de Lachay errichtet, 80 Kilometer südlich von Lima. Das ist vor allem ein Naherholungsgebiet für Menschen der Mittelschicht – denn man kommt nur mit dem Auto dorthin.
Für die Armen gab es erst 30 Jahre später etwas Vergleichbares. 2003 errichteten die Bewohnerïnnen des Dorfes Quebrada Verde einen Loma-Rundweg in dem Vorort Pachacámac. Da er gut mit dem Bus zu erreichen ist, wurde er zum Ausflugsziel für Limeños, die sich am Sonntag in der Natur bewegen wollten, anstatt in eines der beliebten Schlemmerlokale zu gehen.
Ascencio Vásquez sucht Mitstreiterïnnen
Schon bald nach seinem Einzug in Primavera, bemerkte Ascencio Vásquez, dass die Hügel hinter seinem Haus in den Wintermonaten von Juli bis September immer grüner werden. Nachdem er auf einer Veranstaltung der Stadt von der Bedeutung der Lomas gehört hatte, begann er, seine Nachbarïnnen für den Erhalt der Lomas von Primavera zu organisieren. Viele machten mit, weil sie in dem einzigartigen Ökosystem das Potzential als Naherholungsgebiet für die Bewohnerïnnen von Lima erkannten.
Doch von 14 Nachbarïinnen sprangen neun ab, als sie merkten, dass sie keinen schnellen Gewinn machten. Ascencio Vásquez und seine Familie blieben dabei. Sie liebten die Natur und waren überzeugt, langfristig damit auch die Gegend attraktiver zu machen und Geld verdienen zu können.
2016 gründeten sie den Ökologischen Verein Lomas von Primavera. Mittlerweile sind sie zu zehnt. Sie legen Wege an und stellen Hinweisschilder auf. Dabei arbeiten sie mit der Stadtverwaltung und anderen Behörden zusammen. All dies ist Freiwilligenarbeit. Sie verdienen nur etwas, wenn Gäste sie für eine Führung bezahlen oder Getränke kaufen. Vom Eintrittspreis von umgerechnet 1, 50 Euro halten sie die Wege instand.
Dank der Werbung auf Facebook sind nach und nach immer mehr Ausflüglerïnnen gekommen. Ascencio Vásquez führt gewissenhaft Buch: 450 Besucherïnnen waren es im Jahr 2015; 4000 im Jahr 2019. Bis Corona kam und sie schließen mussten. Erst 2022 lief der Betrieb langsam wieder an – mit 1000 Besucherïnnen.
Die Initiative in Primavera machte Schule: Inzwischen haben sich auch in anderen Teilen Limas Bürgerinitiativen zum Schutz der Lomas gebildet. 14 von ihnen haben sich in einem Netzwerk der Lomas zusammengeschlossen. Ascencio Vásquez ist dessen Vorsitzender.
Es geht um viel Geld
Viel Kopfschmerzen bereiten Ascencio Vásquez die Grundstücksspekulantïnnen. In dem Maße, wie Lima wächst, steigt auch der Siedlungsdruck auf die Lomas. Einige Nachbarïnnen unterstellen ihm, er würde sich nur für die Lomas engagieren, um sich die Grundstücke unter den Nagel zu reißen und sie später gewinnbringend zu verscherbeln, berichtet er.
Die Hügel gehören dem Staat und sind seit einigen Jahren städtisches Naturschutzgebiet. Doch das stört die Grundstücksspekulanten nicht. Sie nutzen die Wohnungsnot der Menschen aus, um sich zu bereichern. Bei seinen Besuchen in den Lomas sieht Vásquez immer wieder abgegrenzte Grundstücke, manchmal mit einer Hütte drauf.
Die Menschen, die dort wild siedeln, haben einer Schwindelfirma Geld bezahlt für ein Grundstück, das gar nicht im Grundbuch eingetragen ist. Oder sie haben von Spekulantïnnen Geld erhalten, um Land zu besetzen.
Ein Gesetz befeuert den Landraub
Damit nutzen sie schamlos eine Besonderheit des peruanischen Gesetzes aus: Landbesetzerïnnen können nach einigen Jahren ihr Grundstück legalisieren und dann legal weiterverkaufen. Bürgermeisterïnnen sind oft nicht erpicht auf die negative Werbung, wenn sie Landbesetzerïnnen mit Gewalt vertreiben. Dass die leeren Hügel nicht bebaut werden, sondern als Ökotop geschützt werden sollen, ist vielen Grundstücksspekulanten ein Dorn im Auge.
„Wir wissen, wo du wohnst“, „Wir werden dich töten“: Mehrfach wurde Ascencio Vásquez bei Gemeindeversammlungen bedroht. Er bekam es mit der Angst zu tun, bat um Polizeischutz. Doch die Behörden können ihn nur begrenzt schützen. Sie haben zu wenig Mittel oder auch kein Interesse, sagt er.
Die Grundstückspekulantïnnen sind nicht die einzigen, die sich die Hügel einverleiben wollen: Firmen bauen Ton und Sand ab für die nie abnehmende Bauwut in Lima.
Die Wüste blüht nicht mehr
„Da, hast du die Eidechse gesehen? Und dort ist ein wilder Tomatenstrauch.“ Ascencio Vásquez und seine Schwester Rosa gehen schnellen Schrittes die Hügel hoch. Sie kennen die Flora und Fauna der Lomas. Uhus gibt es dort, blaue Wespen, Wildkartoffeln und schwarze Brennnesseln.
Doch im Juli 2022 sind die Lomas braun. Allenfalls ein wenig dunkelgrün schimmert es dort, wo sonst um diese Jahreszeit grüne Büschel wachsen. „Nach 2020 ist es schon das zweite Jahr, dass die Lomas zu trocken sind“, sagt Ascencio Vásquez. Der Winternebel enthält nicht genug Feuchtigkeit, um die Wüste zum Blühen zu bringen. Noch sei die Datenlage zu gering, um sagen zu können, dass dies dem Klimawandel geschuldet ist . Besorgniserregend ist es auf jeden Fall.
Über den Wolken
Ascencio Vásquez hat seinen Anorak ausgezogen. Je höher er steigt, desto kräftiger dringt die Sonne durch die nur noch hauchdünne Wolkenschicht. Noch 200 Meter und er ist am Ziel: Er hat die Wolkendecke hinter sich gelassen. Der Himmel ist strahlend blau. Ascencio Vásquez schaut hinunter auf die zum Greifen nahen Wolken.
„Für diesen Moment“, sagt er, „lohnt sich all der Ärger und all die Mühe“.
Dieser Artikel erschien auch auf www.infostelle-peru.de.