Radfahren in Lateinamerika: Auf ins Abenteuer mit unseren mutigen Autorinnen!

Hip, lebensgefährlich, zirkusreif: Radfahren in Lateinamerika ist alles Mögliche, aber nie langweilig. Es ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wir Korrespondentinnen haben einige unserer Erlebnisse mit Fahrrädern in Mexiko, Kolumbien, Peru und Brasilien aufgeschrieben.

10 Minuten
Ein Radfahrer mit einer Plastikkiste schlängelt sich im Stau durch Autos hindurch.

Mexiko: Die Crux mit dem Status

Mexiko kann man nicht wirklich als radnärrische Nation bezeichnen. Die Mexikanerïnnen lieben es bequem. Radeln ist eher was für die Armen, die sich kein Auto leisten können. Selbst zum Picknickausflug fährt man normalerweise motorisiert.

Damit man den ganzen Krempel nicht zu weit tragen muss, haben offizielle Picknickplätze große Parkplätze. Irgendwohin wandern oder radeln und dann mitten in der Natur die Brotzeit aus dem Rucksack holen – das ist ziemlich exotisch.

Leihräder sind Luxus

Aber andererseits sind die Mexikanerïnnen ja auch gerne mit dabei, wenn irgendwas hip und trendy ist. Deshalb gibt es seit 2010 in vielen Städten öffentliche Leihfahrräder und Radwege. Ich war schon mit Freundïnnen in der Hauptstadt mit den Ecobicis unterwegs. Robuste Stadtfahrräder, die man per App an bestimmten öffentlichen Sammelstellen auslösen und dann benutzen kann. Doch das ist eher ein sonntäglicher Spaß, wenn man zwischen acht und 14 Uhr auf der dann für Autos gesperrten breiten Prachtallee Reforma zwischen Rollschuhläuferïnnen und Skaterïnnen herumkurven kann.

Nicht ganz billig ist das Vergnügen allerdings: Eine Tageskarte kostet umgerechnet fünf Euro. So viel wie 23 U-Bahn-Tickets. Jede Fahrstrecke ist auf 45 Minuten begrenzt. Wenn man überzieht, wird es richtig teuer. Also eher nichts für den Alltag oder Pendlerïnnen aus den armen Vorstädten. Dort gibt es ohnehin weder Leihrad-Stellen noch Radwege.


Sandra Weiss von schräg hinten, wie sie unter einem blühenden Jacaranda-Baum an einfachen, ländlichen Häusern vorbeifährt.
Sandra Weiss schwingt sich höchstens am Wochenende aufs Rad und fährt damit die gesperrte Prachtallee Reforma entlang oder wie hier durch die ruhigen Gassen von Cholula in Mexiko.

Radwege für die Wahlkampfkasse?

Tja, und dann macht die Korruption auch nicht vorm Radeln halt. Die Radwege bei uns in Puebla stammen vom vorletzten Gouverneur Rafael Moreno Valle. Der war selbst kein Radfahrer, und die Umwelt hat ihn auch nicht groß interessiert. Deshalb wurden Radwege zum Teil auf Stelzen auf dem Mittelstreifen von Schnellstraßen gebaut. Dafür mussten Dutzende Bäume fallen.

In der kolonialen Innenstadt wurde von der normalen Straße an der Seite einfach ein rund 1, 50 Meter breiter Streifen abgezwackt – fertig. Das Problem: Aus zweispurigen Straßen wurden so einspurige. Und weil oft fliegende Händler oder Restaurants die Gehwege belegen, weichen die Fußgängerinnen auf die Radwege aus – und die Radler müssen sich wieder durch die Autos schlängeln.

Einige meiner Bekannten wurden von einer plötzlich aufgerissenen Autotür vom Rad gefegt, andere von unaufmerksamen Rechtsabbiegern mitgenommen. Wenn man Pech hat, verduften die Autofahrer oder haben keine Versicherung, die für die Schäden aufkommt. Deshalb kommt es immer wieder zu Radfahrerprotesten. Übrigens nicht nur in Mexiko sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern wie Chile.

Abgesehen von ihrer Gefährlichkeit haben die Radwege in Puebla noch einen anderen Rekord: Es sind die teuersten des Landes: 41 Kilometer kosteten umgerechnet 34 Millionen Euro – viermal so viel, wie ein Radweg in Deutschland. Journalisten zufolge wurden damit Scheinfirmen von Vertrauten des Gouverneurs beauftragt. Ein Teil des Geldes sei in den Wahlkampfkassen von Moreno Valle gelandet, der Präsidentschaftsambitionen hegte. Pech für ihn: Er stürzte 2018 mit dem Hubschrauber auf dem Weg in die Hauptstadt ab und starb.

Hätte er doch lieber das Rad genommen.


Kolumbien: Gebrüllte Wut auf dem Radweg

Manchmal denke ich, dass ich ein grundgütiger Mensch bin. Doch dann steige ich in Bogotá aufs Fahrrad und überzeuge mich vom Gegenteil.

Auf dem Rad mutierte ich zu Rambo. Ich muss. Sonst werde ich verrückt.

Die Anderen sind das Problem. Die Autofahrerïnnen, die auf dem Radweg parken. Die Händlerinnen, die ihre Stände auf ihm aufbauen. Die Geschäftsleute, die ihn als Terrasse, Autowerkstatt oder Ladezone nutzen. Die Fußgängerïnnen, die darauf in aller Seelenruhe telefonierend spazieren gehen – gerne mit zwei Freunden als Ziehharmonika über die ganze Breite. Die Leute, die die Kanaldeckel und andere Bodenteile auf dem Radweg klauen.

Motorradfahrer, ihr seid das letzte

Doch die allerschlimmsten sind die Motorradfahrer. Ja, die meisten sind Männer. Mit einem Riesenego und einem Minihirn.

Sie nehmen den Radweg zum Überholen oder als Beschleunigungsspur bis zur Ampel. Sie treiben die Radlerïnnen vor sich her, fahren Parcours. Sie haben als einziges Ziel, zwischen den einzelnen Ampeln die erlaubte Höchstgeschwindigkeit möglichst weit zu reißen – um dann vor der nächsten eine Vollbremsung einzulegen. Sie fahren Wettrennen. Sie schlängeln sich durch die winzigste Lücke. Saugefährlich.

Zorn statt Zen

Ich habe es mit Zen versucht. Einatmen. Ausatmen. Akzeptanz. Aber dieses Ohnmachtsgefühl machte mich fertig. Ich habe keine Lust, mich als das Opfer zu fühlen, das ich bin. Deshalb brülle ich jetzt.

Eeeeeeeehhhhh! Eeeeeyyy!

Idiot!

Arschlöcher!

Vollidioten!

Mein Repertoire ist begrenzt. Ich brülle bevorzugt auf Deutsch. Ein kolumbianischer Freund meinte, es regt die Leute hier besonders auf, wenn man sie auf Ausländisch beschimpft.

Innerlich verfluche ich sie in aller Ausführlichkeit. Ich wünsche ihnen einen langsamen, qualvollen Tod, male mir diverse Krankheiten aus. Und dass ihnen als allererstes ihr Geschlechtsteil abfällt. Dabei trete ich immer rabiater in die Pedale.


Die Autorin in der roten Radlerjacke und mit blauem Helm blickt grimmig in die Kamera, während rechts ein Motorradfahrer auf dem Radweg an ihr vorbeizischt.
Erwischt! Schon wieder nimmt ein Motorradfahrer in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá den Radweg zum Überholen. Da wird Katharina Wojczenko auf ihrem Fahrrad zum Rambo.

„Huch, jetzt wirst du echt zur Hexe“

Einmal, da pochte mir vor lauter Angst das Blut in den Schläfen, hatte ich Erfolg. Von den zwei Motorrädern, die mich zum Überholen der Autoschlange auf dem Radweg geschnitten hatten, blieb eins beim Einschwenken an einem Markierungs-Hubbel hängen. Da lag es auf der Straße, die anderen mussten einen Bogen fahren.

Huch, jetzt wirst du echt zur Hexe, dachte ich mir. Und schämte mich ein bisschen. Dann hob er das Motorrad auf und raste weiter.

Bogotá, die Möchtegern-Weltfahrradhauptstadt

Auf manche bin ich weniger wütend. Zum Beispiel auf die Müllsammlerïnnen, die ihre Karren über den Radweg von Haus zu Haus ziehen. Oft blockieren sie ihn damit komplett. Aber wo sollen sie hin? Die Gehwege sind ein einziges Auf und Ab aus zusammengeschusterten Resten und Löchern.

Für Radlerïnnen, die mir entgegen der offiziellen Fahrtrichtung auf dem Radweg entgegenkommen, habe ich ebenfalls mehr Verständnis. Wir müssen zusammenhalten auf dem bisschen Platz, den sie uns gewähren. (Die 630 Kilometer Radwege der selbsterklärten Fahrradhauptstadt der Welt enden gern im Nirgendwo. Deshalb bin ich die meiste Zeit doch auf der Straße unterwegs.)

Zur Hölle mit den Dieben

Einen besonderen Platz in der Hölle habe ich denen reserviert, die mir mein Rad geklaut haben. Mittlerweile fahre ich das dritte in vier Jahren. Am liebsten würde ich mich gar nicht mehr von meinem Rad trennen. So steht es neben mir im Café. Oder auf einem Parkplatz mit Parkgebühr. Mein aktuelles Schloss heißt Kryptonite. Soll super sein, auch wenn der Name das Gegenteil verheißt. Aber ich übe mich eh darin, nix und niemandem mehr zu trauen.

Mein Rad und ich und die Liebe

Und ja, ich liebe Radfahren. Es macht mir diese riesige Millionenstadt erträglich. Ich bin viel schneller überall, muss mich weder in einen Bus quetschen noch auf ihn warten, habe kein schlechtes Gewissen, weil ich allein im Taxi hocke, spare Geld, trainiere die Beine.

Wenn ich ein bisschen Zeit habe, probiere ich neue Routen aus. So habe ich die Stadt für mich erobert. Bogotá hat richtig schöne Ecken. Oft direkt neben den hässlichen. Dann lächelt Rambo.


Am Amazonas in Brasilien: Termitenhügel und Klapperschlangen umkurven

Als ich vor 23 Jahren das erste Mal in den Oberen Xingu in Brasilien kam, entdeckte ich im Dorf ein paar recht stabile Herrenfahrräder. Sie standen in der Nähe der Großhäuser, ganz als ob sie allen gehörten. Doch als ich es mir nehmen wollte, wurde mir bedeutet, dass das Ausleihen einem kleinen Höflichkeitsprotokoll unterlag. Jedes Fahrrad hatte seinen „Herren“. Den musste man um Erlaubnis fragen, wollte man es benutzen. Es entspann sich ein kleiner Dialog über das Ziel meiner Fahrt und erst anschließend wurde die Erlaubnis erteilt. Dieses Ritual wiederholte sich jedes Mal.

Die Räder dienten den Dorfbewohnern dazu, um den täglichen Weg von etwa anderthalb Kilometer zur kleinen Lagune zu verkürzen und Wasser und Wäsche zu transportieren. Ich erhielt eine Radl-Erlaubnis vom Dorfchef Yumuin. Die Horde kleiner Mädchen, die mich auf meinem täglichen Weg zur Lagune begleitete, freute sich ebenfalls.

Hab mein Radl vollgeladen …

Gleich hatte ich ein paar Kinder auf dem Gepäckträger und auf der Stange sitzen und kurvte los. Alle wollten mit, kicherten und kreischten. Doch schon am zweiten Tag, als sich immer mehr kleine Mädchen auf meinem Fahrrad türmten – unser Rekord waren vier oder fünf Mädchen auf einmal – wurden wir zur Ordnung gerufen. Der Besitzer sorgte sich um sein Rad, und mit unserer Zirkusnummer war es vorbei.

Ich durfte es aber weiter benutzen, auch um die drei Kilometer zur großen Lagune durch den Urwald zu fahren. Dazu musste ich kräftig in die Pedale treten, immer dem Dorfchef Yumuin hinterher, der mit beachtlicher Geschwindigkeit und ziemlich behände durch den Wald brauste.


Eine indigene Frau in Brasilien mit einem Metallbehälter und einem Fahrrad im Schatten unter einem Baum.
Am Oberen Xingu in Brasilien nutzen Frauen die Räder, um beispielsweise die kiloschweren Wasserbehälter zu transportieren, die sie sonst auf dem Kopf hätten tragen müssen.

Immer dem Hintern nach

Er hatte sich mit der roten Urucum-Farbe bemalt, die ihn gegen Moskitostiche schützte, und war nur sehr sparsam mit einem Baumwollgürtel bekleidet. Doch ich durfte mich von dem ungewohnten Anblick vor mir nicht ablenken lassen, denn der Weg forderte meine volle Konzentration.

Wir kurvten die schmalen Pfade durch den Wald, vorbei an verlassenen Termitenhügeln, in denen Schlangen hausen sollten. Sie waren gefährlich. Nicht allein wegen ihres Gifts, sondern weil sie einem eventuell als Totengeister, als schön geschmückte Männer oder Frauen, begegnen und an der Nase herumführen konnten.

Bloß keinen Platten!

Einmal hielt mir ein junger Bursche die Rassel einer Klapperschlange unter die Nase. Er hatte sie mit dem Rad überfahren und dann erschlagen. Über mein erschrockenes Gesicht konnte er sich stundenlang amüsieren. Doch das Gefährlichste waren die vielen Dornen. Die durchbohren Mantel und Schlauch unerbittlich, wenn man sie nicht rechtzeitig erspäht.

Doch wie sollte ich sie entdecken? Meine Augen waren nicht scharf genug. Tatsächlich war ich eine Blindschleiche im Vergleich zu meinen indigenen Begleitern, die alles schon aus der Ferne registrierten und jede Gefahr zu umgehen wussten. Zum Glück hatte ich nie einen Platten, denn mit dem Reparieren ist es schwierig im Urwald. Meist bleiben kaputte Dinge einfach liegen.


Peru: Im Verkehrsdschungel von Lima

Seit 25 Jahren lebe ich in der peruanischen Hauptstadt Lima, und genauso lang bewege ich mich hier mit dem Fahrrad fort. Lima ist die ideale Stadt für Fahrradfahrer: Der größte Teil der Zehn-Millionen-Stadt ist eben, es regnet nie, und die Temperaturen sind fast das ganze Jahr über gemäßigt bis warm.

Doch als Radfahrerin war ich 1999 eine Exotin. Die einzigen Gleichgesinnten, die ich antraf, waren Handwerker, die mit dem Rad ihre Werkzeuge transportierten oder Gasflaschen ausfuhren. Dass ich mir als Radlerin oft anzügliche Sprüche von Autofahrern anhören musste, war zwar lästig, aber nicht lebensgefährlich.

„Ich fühlte mich wie Ungeziefer“

Immerhin nahmen sie mich dann wahr und drosselten ihr Tempo. Schlimmer war die Mehrzahl der Autofahrer, die so tat, als existierte ich nicht oder hätte kein Recht, auf der Straße zu fahren. Oder diejenigen, die auf die Hupe drückten, sobald sie mich erblickten. Im Sinne von: „Mach Platz, hier komme ich!“

Der Verkehr in Lima ist ein Spiegelbild seiner Gesellschaft: Es herrscht das Recht des Stärkeren und Reicheren und das Recht des Gerissenen, der sich nicht an Regeln hält. Als Fahrradfahrerin fühlte ich mich oft wie Ungeziefer, das man ungestraft überfahren durfte.

Mit dem Rohstoffboom kam der Dauerstau

Der Rohstoffboom der 2000-er Jahre brachte Peru Wirtschaftswachstum – und seiner Hauptstadt Lima eine Autoflut. Die engen Straßen waren nun ständig verstopft. Mit dem Rad ging es schneller.

Die ersten Fahrradwege entstanden vor allem in den Reichenvierteln, wo man die von Grünanlagen gesäumte Küstenstraße entlang gondeln kann. Doch die Wege waren oft viel zu schmal, dauernd von rücksichtslosen Autofahrern zugeparkt. Für die meisten Limeños blieb das Rad daher ein Zeitvertreib fürs Wochenende und kein Verkehrsmittel.


Hildegard Willer von vorne auf einem Fahrrad in Lima.
Hildegard Willer ist eine der mutigen Fahrrad-Pionierinnen in Lima. Die Stadt ist auch dank deutscher Entwicklungshilfe fahrradfreundlicher geworden.


Radwende – dank Corona!

Die große Wende für uns Radfahrer in Lima kam mit der Corona-Pandemie. Da Busse Infektionsherde waren, entstanden allenthalben Pop-up-Fahrradwege (wie in Bogotá und sogar Berlin). Sogar an der Küstenstraße der Reichen wagte die Stadt es, den Fahrradweg zu verbreitern und dafür Parkplätze zu opfern. Immer mehr Menschen entdeckten das Fahrrad als Verkehrsmittel.

Seither bauen die Distrikte weiter Fahrradwege, vor allem in den besser situierten Vierteln. Schnell-Fahrradwege in die Außenbezirke, wo die meisten Bewohnerïnnen Limas leben, sind noch immer die Ausnahme.

Deswegen ist es umso erfreulicher, dass die Stadt Lima mit einer Finanzierung der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau vor wenigen Monaten einen neuen Schnell-Radweg in der Satellitenstadt Villa El Salvador eröffnete. Der Bau dieser Radwege mit deutschen Steuermitteln war von den Oppositionsparteien und den streikenden deutschen Landwirten kritisiert worden. Aus dem Blickwinkel einer Fahrradfahrerin in Lima ist das eine willkommene Investition, um die Stadt für Radfahrer sicherer zu machen.

Extremtraining für Busfahrer

Nicht nur die neuen Radwege in den Vororten lassen mein Radlerinnenherz höher schlagen. Die städtische Verkehrsbehörde hat ihre Busfahrer zudem einer ganz besonderen Weiterbildung unterzogen: Sie durften auf Standrädern strampeln, während ein Bus mit 20 Zentimeter Abstand an ihnen vorbei brauste. So konnten sie am eigenen Leib die tägliche Nahtod-Erfahrung der Fahrradfahrerïnnen spüren.

Und nicht nur das: Vor ein paar Wochen sah ich zum ersten Mal einen Polizisten einen Autofahrer verwarnen, der auf einem Radweg parkte. Vielleicht wird aus meiner Stadt doch noch das Amsterdam Südamerikas.


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