Russland, das eigentlich die Ukraine war

Francesca Melandri seziert in ihrem neuen Roman den Krieg als menschlichen Ausnahmezustand und räumt mit Mythen europäischer Geschichte auf

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Halbporträt einer brünetten Frau mit offenem, langen Haar vor einem dunklen Hintergrund.

Der Roman Kalte Füße von Francesca Melandri erzählt von Krieg und Frieden, von Faschismus und Kommunismus, von einer unbekannten Ukraine. Im fiktiven Dialog mit dem Vater, der als junger Mann die Uniform der italienischen Faschisten trug, verknüpft sie Gedanken über Vergangenheit und Gegenwart zu einem Plädoyer für eine Revision alter Gewissheiten.

Was wissen wir über Charkiw, die ukrainische Metropole im Osten des Landes, wo wieder täglich russische Bomben einschlagen? Sehr wenig, wie wir überhaupt wenig über dieses Land wissen, das sich verzweifelt gegen die russische Übermacht wehrt, das händeringend um die Aufnahme in die Nato bittet. Woher kommt dieser Widerstandsgeist, diese Kraft? Darauf gibt der neue Roman der italienischen Schriftstellerin Francesca Milandri eine Antwort.

Der Schlüssel liegt in der Vergangenheit. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges geriet beispielsweise ein Gebäudekomplex namens Slowo („Wort“) ins Fadenkreuz der russischen Truppen. Stalin hatte es einst in Charkiw für die ukrainische Schriftsteller und Dichter bauen lassen – um sie besser zu kontrollieren. Als sie nicht auf den Sowjetkurs einschwenkten, war es ein Leichtes, sie zu eliminieren. Für dieses dunkle Kapitel der sowjetischen Gewaltherrschaft haben die Ukrainer einen Namen. Sie sprechen von der Hingerichteten Renaissance.

Im westlichen Europa wissen wir zu wenig von den Ländern zwischen Berlin, Wien und Moskau, stellt Milandri fest. Sie beginnt nachzuforschen, nennt ukrainische Autor:innen des 19. Jahrhunderts, den Maler und Dichter Taras Schewtschenko, die Feministin und Dichterin Lessja Ukrajinka und den Schriftsteller Iwan Franko. Der russische Dramatiker Gogol, eigentlich ein ukrainischer Autor, schrieb auf Russisch. Im Einflussbereich des Zaren war das die Sprache, die etwas galt.

Wie blind und taub der Mensch gegenüber den schlimmsten Gräueltaten sein kann, solange sie nur im Namen einer angeblich guten Sache begangen werden.

Francesca Milandri

Wo Kultur unterdrückt wird, ist die Gesellschaft als Ganzes betroffen. Nur Wenigen wird das Wort Holodomor ein Begriff sein. Es steht für die um 1930 von der Sowjetunion gezielt verursachte Hungerkatastrophe in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Bestraft werden sollten Bauern, „reiche Kulaken“, die sich der Zwangskollektivierung verweigerten. Diese Bauern waren jedoch nur in seltenen Fällen reich und verhungerten, weil man ihnen bis auf die Kleider am Leib alles nahm und das in der Ukraine in Hülle und Fülle vorhandene Getreide in die Sowjetunion abtransportierte.

Wie zuvor in ihrem Roman Alle außer mir schildert die Schriftstellerin Lebenswege eng verzahnt mit dem Kontext der Geschichte. Bei ihren Recherchen für Kalte Füße stieß sie auf einen Brief des italienischen Konsuls Sergio Gradenigo, der 1933 aus Charkiw schrieb: „Der Hunger richtet unter der Bevölkerung weiterhin großen Schaden an, dass es völlig unerklärlich ist, wie die Welt angesichts der bevorstehenden Katastrophe gleichgültig bleiben kann.“ Man hat es gewusst, aber nichts getan. Keiner der westlichen Beobachter, so Milandri, wollte wahrhaben, was in dem Land geschah. Sie konstatiert: „Wie blind und taub der Mensch gegenüber den schlimmsten Gräueltaten sein kann, solange sie nur im Namen einer angeblich guten Sache begangen werden.“

Mit anderen Worten: Wer die Geschichte der Ukraine nicht kennt, kann den erbitterten Widerstand des Landes gegen den Machthunger Putins nicht verstehen. Und dann sind da noch einige andere Komplikationen, die mit Italien und persönlichen Dinge zusammenhängen. Der mit geballten Fakten ausgestattete Roman schildert eigentlich eine mentale Reise. Auslöser war der russische Angriffskrieg in der Ukraine im Februar 2022, die aus den umkämpften Gebieten und Orten dringenden Berichte, deren Namen der Autorin aus den Erzählungen ihres Vaters „aus Russland“ kannte. Eine alte Wunde riss auf, die Frage, was der junge Faschist Franco Melandri zu Beginn der 1940er Jahre als Offizier der italienischen Alpini-Brigade Julia in „dem großen Bogen am Don“ getan und erlebt hatte.

Filzstiefel gegen die Kälte

Die Tochter überprüft, ob er an Massakern oder anderen Gräueltaten beteiligt gewesen sein kann. Sie vergleicht seine Schilderungen des Krieges, die er in der Nachkriegszeit in einem wenig beachteten Roman niedergelegt hat, mit Ergebnissen der neuesten Geschichtsforschung. Sie sucht nach Hinweisen, warum der einstige Soldat, Besatzer und Verbündete des nationalsozialistischen Deutschlands bis ins hohe Alter nie die volle Wahrheit sagte, aber „die russischen Frauen“ pries, die ihm auf seinem Rückzug aus der eisigen Steppe zu essen gaben und warme Filzstiefel, so dass er ohne bleibende körperliche Schäden nach Italien zurückkehrte.

Es entspinnt sich ein Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen vermeintlich historischen Gewissheiten und einer – unserer – schwer zu begreifenden Zeitgenossenschaft. Aus der Befragung Milandris resultiert unter anderem die Erkenntnis, dass all diejenigen, die keinen Krieg erlebt haben, nicht wirklich nachempfinden können, was im Krieg leben eigentlich bedeutet. Die verschont gebliebenen Europäer sind schockiert, bleiben aber Zaungäste eines ungeheuerlichen Geschehens.

Mit ihrem Roman durchbricht Francesca Milandri eine Schallmauer, die unsichtbare Grenze zwischen den Betroffenen und denen, die mit gemischten Gefühlen die Nachrichten aus einer ihnen unbekannten Welt verfolgen. Anhand ihrer Familiengeschichte und einer profunden historischen Recherche gelingt es ihr, sich über Widersprüche des Lebens und aus heutiger Sicht falsche Narrative nationaler Geschichtsschreibung klar zu werden. So wurde die Beteiligung der Italiener an der deutschen Besatzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg vom Duce als „Brotkrieg“ legitimiert. Mussolini hatte es auf die Kornkammer Ukraine abgesehen, wie vielleicht jetzt auch Putin.

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