Was ist los in Peru? Sechs Fragen und Antworten zur aktuellen Krise

Die politische Dauerkrise im Andenland hat bereits 18 Todesopfer gefordert. Hauptstadtregierung und ländliche Bevölkerung stehen sich unversöhnlich gegenüber.

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Öffentlicher Platz mit einer Statue und weissen Gebäueden im Hintergrund, darüber blauer Himmel. Der Platz wird von einer Reihe schwer bewaffneter Polizisten abgeriegelt.

1. In Peru herrscht Ausnahmezustand. Was bedeutet dies konkret?

Ausnahmezustand bedeutet, dass die Polizei gewaltsam Menschenansammlungen auflösen, Verhaftungen vornehmen und Häuser durchsuchen kann. In 15 Andenprovinzen herrscht außerdem eine nächtliche Ausgangssperre. Verhängt hat den Ausnahmezustand die Regierung unter der neuen Präsidentin Dina Boluarte.

Vor allem im indigen geprägten Süden des Landes protestieren die Menschen für die Schließung des Parlaments und Neuwahlen. Sie blockieren Straßen und Flughäfen, belagern öffentliche Plätze und liefern sich Straßenkämpfe mit Armee und Polizei. Vandalen zerstören dabei auch öffentliche Einrichtungen. Dabei sind bisher 17 Demonstranten von der Polizei erschossen worden, sieben alleine am Donnerstag im Andenstädtchen Ayacucho. Menschenrechtsorganisationen appellierten an die Sicherheitskräfte, auf den Einsatz von Schusswaffen zu verzichten.

Die Hauptzentren der Proteste sind bisher Cusco, Puno, Ayacucho, Andahuaylas, Arequipa. In der Hauptstadt Lima, wo ein Drittel der peruanischen Bevölkerung lebt, ist die Situation bisher, bis auf wenige Proteste in der Altstadt, weitestgehend ruhig.

Leer Landstrasse, in der Mitte Steine und ein offenes Feuer. Dahinter sieht man entfernt Menschen stehen.
In der südperuanischen Stadt Juliaca haben Demonstranten mit Straßensperren den Verkehr und das öffentliche Leben lahmgelegt.

2. Wie kam es zum Ausnahmezustand?

Hintergrund ist ein Machtkampf zwischen dem linken Präsidenten und dem von oppositionellen Parteien dominierten Kongress. Am 7. Dezember wollte das peruanische Parlament zum dritten Mal über die Absetzung von Präsident Pedro Castillo abstimmen.

Der kam dem zuvor mit der Ankündigung, das Parlament aufzulösen und mittels Notstandsdekreten zu regieren. Doch Castillo bekam keine Rückendeckung von Polizei und Militär und konnte seine Ankündigung nicht wahr machen.

Das Parlament setzte ihn daraufhin wegen moralischer Unfähigkeit ab, und seine Stellvertreterin Dina Boluarte ein. Castillo sitzt seitdem in Untersuchungshaft wegen Rebellion und Verschwörung.

Die Proteste begannen, weil die Parlamentarierïnnen offen ihren Triumph über den Präsidenten feierten – in völliger Unkenntnis der Tatsache, dass das Parlament in der Bevölkerung regelrecht verhasst ist. Viele Parlamentarierïnnen sind in Korruptionsaffären verstrickt.

3. Wer kämpft gegen wen?

Auf der einen Seite stehen die Abgeordneten und die neue Regierung von Dina Boluarte in der Hauptstadt Lima. Da Boluarte keine eigene Fraktion im Rücken hat, wird sie von den Demonstrantïnnen als eine Marionette des Parlaments gesehen. Sie wird unterstützt von Polizei, Militär und einem beträchtlichen Teil der unternehmerischen Elite, die sich Sorgen um die Wirtschaft macht, sollte der Konflikt eskalieren.

Auf der anderen Seite gegenüber stehen ihnen die Bewohnerïnnen der ländlichen Gebiete Perus, oft mit indigenen Wurzeln. Darunter sind Anhängerïnnen des abgesetzten Präsidenten Castillo, der selbst vom Land stammt. Aber auch soziale Bewegungen, Indigenen- und Bauernorganisationen, Landarbeiterïnnen und zahlreiche Opportunisten, die aus dem Chaos Profit schlagen wollen: Provinzpolitikerïnnen, die bei den vorherigen Kommunalwahlen das Nachsehen hatten und jetzt einen Moment wittern, durch Neuwahlen an die Macht zu kommen, illegale Goldschürfer und Kokabauern. Sie alle eint die Ablehnung des Parlaments und die Forderung nach sofortigen Neuwahlen.

Vor allem die Anhänger Castillos und seine ehemalige Partei Peru Libre fordern zudem die Freilassung und Wiedereinsetzung Castillos oder eine verfassungsgebende Versammlung.

Mehr als eine Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts ist es ein Zusammenstoß von Hauptstadt und Land. Obwohl Castillo ein erfolgloser, ungeschickter und in Korruptionsaffären verstrickter Präsident war, identifiziert sich die ländliche Bevölkerung mit ihm, weil er als „einer der Ihren“ wahrgenommen wird.

Menschenansammlung vor einem öffentlichen Platz. Einige tragen die peruanische Flagge auf dem Rücken. Sie lauschen einem Mann, der auf einer Bank steht.
Demonstranten gegen das Parlament und für Neuwahlen auf einem der Hauptplätze Limas. Die heftigsten Proteste ereigneten sich im Süden des Landes. Dort sind 18 Menschen zu Tode gekommen.

4. Wie sieht die Rechtslage aus?

Juristisch gesehen hat Castillo mit der Ankündigung der Parlamentsauflösung gegen die Verfassung verstoßen. Seine Absetzung wegen moralischer Unfähigkeit durch das Parlament war nach peruanischem Recht legal. Castillo sitzt inzwischen für 18 Monate in Untersuchungshaft.

Doch legal bedeutet nicht legitim. Für die meisten Peruanerïnnen ist das Parlament eine Ansammlung politischer Glücksritterïnnen. Die Abgeordneten arbeiten in ihren Augen nur in die eigene Tasche und verschachern ihre politischen Positionen und Stimmen an den Meistbietenden. In den Augen vieler Peruanerïnnen besitzt das Parlament deswegen keine Legitimität, um einen – ebenfalls nicht sonderlich beliebten – Präsidenten abzusetzen.

Castillo stilisiert sich im Gefängnis als Opfer einer rechten Verschwörung, als Opfer einer politischen Hauptstadtclique mit rassistischen und klassistischen Ressentiments gegen ihn, einen einfachen Mann vom Land. Er wird darin von den linken Regierungen von Mexiko, Argentinien, Kolumbien und Bolivien unterstützt, die in ihm einen ideologischen Verbündeten sehen und die neue Regierung nicht anerkennen. Angesichts des deutlichen Verfassungsbruchs durch Castillo ist die Verschwörungsthese kaum haltbar.

5. Was steckt hinter der gewaltsamen Konfrontation?

Peru ist ein Land, das sehr stark von kolonialen Strukturen geprägt ist. Von Lima aus regierten die Spanier einst ganz Südamerika – und das merkt man bis heute: an der rassistischen Kastengesellschaft, die bis heute in Peru unterschwellig funktioniert; an der Verachtung der weißen, mestizischen, modernen und städtischen Peruanerïnnen für ihre Landsleute, die indigen aussehen, auf dem Land arbeiten und vielleicht nicht so gut Spanisch sprechen. Die Minderwertigkeitskomplexe auf Seiten der Unterdrückten und die Arroganz der Oberschicht machen den Dialog sehr schwer.

Dazu kommt die Korruption, die ganz Peru aushöhlt und aus Politikerïnnen Glücksritter macht. Die politische Landschaft ist fragmentiert und opportunistisch. Es gibt praktisch keine Parteien mehr, nur temporäre Wahlbündnisse um mehr oder weniger aussichtsreiche und zahlungskräftige Kandidatïnnen.

Die großen Korruptionsskandale der letzten 20 Jahre haben den Glauben an die Demokratie ausgehöhlt. Peru hatte sechs Präsidenten in den vergangenen sechs Jahren. Drei Ex-Präsidenten, die seit 2000 an der Macht waren, sind wegen Korruption im Gefängnis oder angeklagt. Einer nahm sich das Leben, als die Polizei vor der Tür stand.

Der Rohstoffboom der letzten 20 Jahre und die bis heute guten volkswirtschaftlichen Zahlen haben die soziale Ungleichheit nicht entschärft. Zum Teil ist das politisch gewollt durch entsprechende Steuer- und Arbeitsgesetze, die das Kapital gegenüber der Arbeit bevorzugen. Zudem verhindert systematische Korruption auf allen Ebenen eine gerechtere Verteilung.

6. Wie lässt sich die Krise stoppen?

Peru wird um baldige Neuwahlen und die Bildung einer Übergangsregierung nicht herumkommen. Der Kongress berät derzeit darüber, die Wahlen vorzuziehen. Doch die Vorbereitung von Neuwahlen benötigt rein rechtlich mehrere Wochen. Die Gefahr ist groß, dass die Lage eskaliert oder dass die nächsten Wahlen die politische Dauerkrise nur wiederholen.

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