Wahlen in Peru: Harter Start für Sieger Pedro Castillo
Der linke Outsider Pedro Castillo verspricht einen politischen Neuanfang. Doch die unterlegene Gegnerin Keiko Fujimori blockiert mit allen Mitteln.
Der Dorflehrer Pedro Castillo hat knapp die Präsidentschaftswahl in Peru gewonnen. Doch offizieller Wahlsieger ist er immer noch nicht – und das Land tief gespalten.
„Wir sind hier, um unser Land vor dem Kommunismus zu bewahren, damit es nicht das Schicksal von Nordkorea, Kuba oder Venezuela erleidet“, schreit Gustavo Mirano. Nur so kann er sich im ohrenbetäubenden Lärm von Musik aus dem Lautsprecher und Tröten verständlich machen. Es ist Samstagnachmittag, und die Anhänger von Keiko Fujimori protestieren auf dem sogenannten „Campo de Marte“, einem großen Park am Rande der historischen Altstadt von Lima.
Im Kreuzzug gegen den Kommunismus
Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihre Kandidatin die Wahl – wenn auch sehr knapp – verloren hat, und sind überzeugt, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. „Wahlbetrug“ schallt es allenthalben. Gustavo Mirano, ein junger großer Mann, schwingt dazu ein Holzschild mit dem Carlistenkreuz – dem Symbol einer rechtskatholischen monarchistischen Bewegung in Spanien.
Mirano und seine rund 15 Burschen, alle in dunklen Jacken, einige mit Motorradhelmen auf dem Kopf, sind auf Kreuzzug. Nicht gegen die Muselmanen des Mittelalters, sondern gegen die Kommunisten des 21. Jahrhunderts in Peru. Die neofaschistische Bewegung ist nur eine von vielen Gruppen, die fest überzeugt sind, dass Wahlbetrug vorliegt und dass der Wahlsieger Pedro Castillo unmöglich peruanischer Präsident werden darf.
Hauchdünner Vorsprung für Pedro Castillo
Am 6. Juni haben die Peruanerïnnen ihn in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt. Ein polarisierter Wahlkampf ging damit zu Ende. Viele hofften, dass nun Ruhe einkehren würde. Die Wahlbehörde ONPE hatte nach einigen Tagen die Auszählung abgeschlossen und bekannt gegeben, dass Pedro Castillo mit 44.000 Stimmen bzw. 0,25 Prozent Vorsprung die Wahl gewonnen hatte. Doch zum offiziellen Wahlsieger konnte er nicht ausgerufen werden – denn Keiko Fujimori legte Widerspruch ein und beantragte die Annullierung von rund 200.000 Wählerïnnenstimmen.
Seitdem ist in Peru ein Krieg ausgebrochen, der früher einmal kalt genannt wurde und der seit 30 Jahren beendet schien. Aus Sicht der Fujimori-Anhänger geht es um einen Kampf zwischen Freiheit – die sie verkörpern – und Kommunismus, verkörpert durch Pedro Castillo. Aus der Sicht der Castillo-Anhänger geht es darum, ihre Wählerïnnenstimmen zu verteidigen und sich den Sieg nicht nehmen zu lassen.
Keiko Fujimori macht es wie Donald Trump
Fujimori steht vor allem für die Mittel- und Oberschicht in Lima und den Küstenstädten; Castillo für die indigene Mehrheit im Hochland. Nie zuvor war die Spaltung Perus so sichtbar. Keiko Fujimori weigert sich, ihre Niederlage einzugestehen, und bemüht stattdessen in Trump-Manier jeden juristischen Trick, um Wahlbetrug nachzuweisen.
Doch je mehr Zeit vergeht, desto geringer sind die Aussichten, dass die Wahlbehörden Fujimoris Begehren nachkommen. Viele Einwände hat das zuständige Wahlgericht wegen Formfehlern zurückgewiesen. Zudem haben hochrangige Wahlbeobachtungsmissionen wie die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Rechtmäßigkeit der Wahl bestätigt.
Inzwischen haben auch die EU und die USA Peru zu den sauberen Wahlen beglückwünscht. Frei, gerecht, zugänglich und friedlich sei die Wahl gewesen, verkündete der Pressesprecher des Weißen Hauses am 23. Juni. Die Europäische Union nannte die Wahlen einen Tag später frei und demokratisch. Doch die Fujimori-Anhängerïnnen wollen das nicht hören. „Die Beobachtermissionen sind alle voreingenommen“, sagt Rosaura Pelaez, eine Kleinunternehmerin, die ebenfalls für Fujimori auf die Straße ging.
In einer gesunden Demokratie wären die beiden Kandidaten gar nicht in die Stichwahl gekommen. Denn beide zusammen erhielten beim ersten Wahlgang im April nicht einmal 33 Prozent aller Stimmen. Anders gesagt: 67 Prozent der Peruanerïnnen mussten sich in der Stichwahl für jemanden entscheiden, den sie nie als zukünftige Präsidentin oder Präsident wollten.
Keiko Fujimori wird Präsidentin oder Häftling
Keiko Fujimori ist mit ihren 46 Jahren schon eine altgediente Politikerin. Mit 19 Jahren wurde sie zur First Lady an der Seite ihres Vaters Alberto Fujimori. Der Diktator hatte zuvor ihre Mutter aus dem Präsidentenpalast gejagt. Die Kinder blieben beim Vater.
Im Jahr 2000 setzte sich Alberto Fujimori nach einem Korruptionsskandal nach Japan ab, das Land seiner Vorfahren. Die 25-jährige Keiko ließ er im Palast in Lima zurück. Dort musste sie sich den erzürnten Bürgerinnen und Bürgern stellen. Seitdem ist Keiko Fujimori die Statthalterin ihres Vaters Alberto Fujimori, der seit 2007 in Peru eine Haftstrafe wegen Menschenrechtsverbrechen absitzt.
Zwei Mal hat Keiko Fujimori die Präsidentschaftswahl knapp verloren. Das dritte Mal muss es nun klappen. Denn für Keiko Fujimori steht mehr auf dem Spiel als ein Wahlsieg: Die Staatsanwaltschaft fordert 30 Jahre Haft mit einer Anklage wegen Geldwäsche und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Mehrere Monate war sie deswegen bereits in Untersuchungshaft.
Inhaltlich steht Keiko Fujimori für einen neoliberalen Populismus. Sie verspricht der Wirtschaft offene Grenzen und wenig Staat und den Armen Almosen und Hilfsprogramme. Vor allem aber hat sie es geschafft, die Angst zu schüren vor dem Mann, der die Wahl gewonnen hat und der aller Wahrscheinlichkeit nach am 28. Juli das Amt des peruanischen Präsidenten antreten wird.
Pedro Castillo sprach von Recht auf Gesundheit und Bildung
Pedro Castillo tritt immer mit einem hohen Strohhut auf, der typisch ist für die Bauern aus der nordperuanischen Region Cajamarca. Er stammt aus einem kleinen Dorf. Seine Eltern sind einfache Bauern, die nie schreiben und lesen gelernt haben. Er selbst ist Lehrer geworden, hat auf dem Land unterrichtet und war danach Funktionär der Lehrergewerkschaft Sutep. Die ist peruweit sehr gut organisiert und wird von der marxistischen Splitterpartei Patria Roja dominiert.
Castillo war jedoch nicht Mitglied von Patria Roja, sondern bis 2012 Mitglied der Mitte-links-Partei Peru Posible des früheren peruanischen Präsidenten Alejandro Toledo (2001 bis2006). 2012 verlor Castillo die Bürgermeisterwahl in seinem Heimatdistrikt. Landesweit wurde Castillo 2017 als Anführer eines Lehrerstreiks bekannt, geriet danach aber wieder in der Vergessenheit – zumindest für die große Mehrheit der Peruanerïnnen.
Erst 2021 erschien er wieder auf die nationale Bühne: Auf der Liste der marxistischen Partei Peru Libre kandidierte er für die Präsidentschaft. Eher zufällig, denn der vorgesehene Kandidat und Parteigründer Vladimir Cerron durfte wegen eines Korruptionsvergehens nicht selbst antreten. Bei seiner ersten Fernsehdebatte vor der ersten Wahlrunde zog er die Aufmerksamkeit auf sich: Als einziger sprach Pedro Castillo vom Recht auf Gesundheit und vom Recht auf Bildung für alle Peruanerïnnen.
Peru ist trauriger Covid-Champion
Damit können die Peruanerïnnen viel anfangen. Ihr Land hat mit über 5.000 Toten pro 1 Million Einwohnerïnnen die höchsten Corona-Todeszahlen weltweit. Fast alle im Land haben Familienangehörige verloren an das Virus. Nicht, weil das Virus in Peru stärker wütete als woanders, sondern weil das prekäre, ungerechte öffentliche Gesundheitssystem nie reformiert wurde und öffentliche Gesundheit keine Lobby hat.
Auch Marina Cardenas Mutter starb an Covid. „Das Krankenhaus hat die alten Leute gar nicht mehr aufgenommen“, erzählt sie bitter. Die 47-jährige Schneiderin ist an jenem Samstag vor zwei Wochen in die Altstadt gekommen, um ihren Kandidaten Pedro Castillo zu unterstützen. Aus dem ganzen Land sind Bauern und Bäuerinnen in verschiedenen Trachten angereist. Auch die Ronderos mit ihren Geißeln sind aus der Region Cajamarca gekommen. Diese Bürgerwehr ging einst gegen Viehdiebe vor, hielten aber auch die Terroristen des Leuchtenden Pfades in Schach. Pedro Castillo ist Rondero.
Streit um die Rohstoffe
Marina Cardenas ist aus einem Vorort von Lima angereist. „Ich bin hier, weil ich einen Wechsel will“, sagt sie selbstbewusst. „Wir haben so viele Rohstoffe in Peru und sehen keine Früchte davon.“ Eine neue Verfassung will sie, wie Pedro Castillo sie fordert. Eine, in der die global agierenden Rohstofffirmen nicht mehr sakrosankt sind, sondern mehr Abgaben an den Staat zahlen, damit dieser in Gesundheit und Bildung investieren kann.
Am 24. Juni haben die Anden ihr Inti Raymi gefeiert, die Sonnenwende. Mit der Wahl Castillos finde in Peru eine Zeitenwende statt, behauptet der Soziologe Guillermo Nugent. Die historischen Ereignisse Perus ließen sich immer in Phasen von 30 Jahren abbilden: Von 1960 bis 1990 seien dies die großen Revolten, die Agrarreform, der Terrorismus des Leuchtenden Pfades und das wirtschaftliche Debakel gewesen. Von 1990 bis 2020 sei die Zeit des Neoliberalismus, der totalen Marktöffnung und des Ausverkaufs peruanischer Rohstoffe gefolgt. Und in den vergangenen Jahren sei es der Ausverkauf der peruanischen Demokratie durch einen Korruptionsskandal nach dem anderen gewesen, sagt Nugent.
Gewinne gehen nach Lima und ins Ausland
Für einige waren dies fette Jahre – aber eben für viele auch nicht. Gerade in den Rohstoff-Förderregionen haben zum Teil bis zu 90 Prozent der Bevölkerung für Castillo gestimmt. Die Menschen, die direkt an den Open Pits und den Abraumhalden im peruanischen Hinterland wohnen, haben den Eindruck, dass sie vom peruanischen Wirtschaftswunder der vergangenen 20 Jahre vor allem das Schlechte abbekommen haben: Umweltverschmutzung, weniger Wasser und kaum Verbesserungen der staatlichen Dienstleistungen.
Die Gewinne aus dem Rohstoffboom dagegen flossen vor allem nach Lima und ins Ausland. Cajamarca, die Heimatregion von Pedro Castillo, ist das beste Beispiel dafür. Seit 20 Jahren befindet sich vor den Toren der Stadt Cajamarca eine der größten Goldminen Südamerikas. Zugleich gehört Cajamarca weiterhin zu den Regionen mit den höchsten Armutszahlen Perus.
Dagegen will Pedro Castillo vorgehen. Zu Beginn des Wahlkampfs hatte er noch von Verstaatlichung gesprochen, sich danach aber gemäßigt. Mittlerweile hat er Wirtschaftsfachleute aus dem gemäßigt linken Lager in sein Team geholt und spricht davon, dass er die Verträge mit den Rohstofffirmen neu aushandeln und dabei bessere Konditionen für Peru herausschlagen will – ähnlich wie dies Evo Morales zehn Jahre vorher in Bolivien gemacht hatte.
Wird die Wahl annulliert?
Die Frage ist, ob sie Pedro Castillo denn lassen: Für viele Peruanerïnnen der weißen Mittel- und Oberschicht ist es unvorstellbar, dass ein indigener Bauer in den Präsidentenpalast einzieht. Mit einer Hinhaltetaktik und juristischen Spitzfindigkeiten versucht die Clique um Keiko Fujimori die Ausrufung des offiziellen Wahlergebnisses so lange hinauszuzögern, bis Castillo womöglich am 28. Juli das Amt nicht antreten, und ein neuer Parlamentspräsident die Wahl annullieren könnte.
Dazu braucht es eine den Fujimoristas gewogenes Parlamentspräsidentin und ein Verfassungsgericht mit einer Mehrzahl von Fujimori gewogenen Richtern. Da das Parlament mehrere Sitze im Verfassungsgericht in Kürze neu besetzen muss, ist das Ränkeschmieden im Kongress in vollem Gange. „Golpe blando“, einen weichen Putsch, nennt man diese Strategie in Peru.
Geringe Chancen für die Fujimoristas
Da die Wahlbehörden ONPE und das Wahlgericht JNE bisher dem Ansinnen auf massive Stimmen-Annullierung widerstanden haben, ist damit zu rechnen, dass das Oberste Wahlgericht in den kommenden Tagen Pedro Castillo auch offiziell zum Wahlsieger ausruft.
Daran dürfte auch der jüngste Vorstoß der Fujimoristas nichts ändern: Eine Delegation fuhr nach Washington, um von der Organisation Amerikanischer Staaten eine internationale Überprüfung der Wahlen zu fordern. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Antrag angenommen wird, hat doch die Beobachtermission der OAS keine Anzeichen für Wahlbetrug gefunden.
Blockade trotzdem möglich
Wenn Castillo das Amt am 28. Juli antritt, so wird er mit einer Blockade im Kongress rechnen müssen und mit neuen Ränken der Opposition. Er selbst verfügt über keine Mehrheit im Parlament, dessen 130 Mitglieder sich auf zehn Parteien verteilen.
Bei so vielen Unwägbarkeiten ist nur eines sicher: Die politische Zeitenwende in Peru wird auf großen Widerstand stoßen.