Kopf an Kopf am Bosporus
Präsident Recep Erdoğan muss um seine Wiederwahl fürchten. In dem polarisierten Land, das noch unter den Folgen des Erdbebens vom Februar leidet, könnte am 14. Mai nach langer Zeit wieder ein liberaler Kandidat die Mehrheit bekommen. Wir sprachen mit der Weltreporterin Susanne Güsten über die Themen, die den Wahlkampf bestimmen, und über den möglichen Wahlausgang.
Laut Umfragen zeichnet sich am Sonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei den Präsidentschaftswahlen zwischen dem Amtsinhaber, Recep Erdoğan, und Kemal Kılıçdaroğlu ab. Doch wie verlässlich sind Umfragen in der Türkei? Haben viele Befragten nicht Angst, sich gegen Erdoğan zu äußern?
Die Umfragen sind jeweils für sich genommen nicht sehr aussagekräftig, denn wegen der extremen Polarisierung der türkischen Gesellschaft neigen die meisten demoskopischen Institute dem einen oder anderen Lager zu. Die einzelnen Institute mit ihren personellen und politischen Eigenheiten zu kennen und einordnen zu können gehört zu meinem Job als Türkei-Korrespondentin. Nimmt man alle Umfragen zusammen, lässt sich ein Trend ablesen, wobei der eine breite Fehlerspanne hat – nicht nur wegen des Drucks auf die Meinungsfreiheit, die manche Befragte vielleicht mit der Wahrheit zögern lässt, sondern auch wegen der hohen Zahl der noch unentschlossenen Wähler. Bisher ist bei der Wahl am Sonntag jedenfalls noch alles drin.
Der Wahlkampf war überschattet von derErdbebenkatastrophe. Haben die Diskussionen über die schlecht koordinierte Erdbebenhilfe und Korruption am Bau Erdoğan eher genutzt oder geschadet?
In den ersten Tagen nach dem Beben haben die Bilder und Berichte von der schwerfälligen Erdbebenhilfe dem Ansehen der Regierung geschadet. Auch die Diskussion um die Bau-Amnestie, mit der vor einigen Jahren hunderttausende Schwarzbauten in der Region gegen Zahlung legalisiert wurden, ließ die Regierung schlecht aussehen. Inzwischen geht es aber um den Wiederaufbau der Region, und da schlägt das Pendel zurück, denn schnell bauen kann die Regierung nachweislich: Beton ist quasi das Markenzeichen der AKP, die das ganze Land damit zugeschüttet hat – das könnte im Katastrophengebiet jetzt nützlich werden, glauben viele Türkinnen und Türken. Umfragen zeigen zudem, dass die meisten Wähler nach den Erschütterungen durch die Beben inzwischen wieder zu ihrer vorherigen Einstellung zurückgekehrt sind – die meisten Menschen wählen nach den Beben, wie sie vor den Beben gewählt haben.
Welche weiteren Themen spielen im Wahlkampf eine Rolle?
Die Opposition thematisiert die miserable Wirtschaftslage. Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr nach offiziellen Daten mehr als 80 Prozent; nach Berechnungen unabhängiger Experten war sie sogar doppelt so hoch. Die Lira hat seit der letzten Wahl 2018 gegenüber dem Euro rund 75 Prozent an Wert verloren. Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu tritt gerne mit einer Zwiebel in der Hand auf, um den Anstieg der Lebensmittelpreise zu geißeln, unter denen Millionen Türken stöhnen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan fährt im Wahlkampf schweres Gerät auf: Drohnen, Flugzeugträger und ein Elektroauto aus türkischer Produktion, außerdem neu entdeckte Erdgas- und Ölvorkommen sollen der Türkei unter seiner Führung einen Platz am Tisch der Weltmächte sichern, verspricht er. Es werde das „Jahrhundert der Türkei“. Kaum eine Rolle spielen im Wahlkampf dagegen die fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land, die größte Flüchtlingsbevölkerung der Welt – denn hier sind sich alle Parteien einig: Sie sollen so schnell wie möglich nach Syrien zurückgeschickt werden.
Welche Wählerschichten könnten Kılıçdaroğlu zum Sieg verhelfen? Jungwähler, urbane Wähler, die Kurden?
Die Kurden sind Königsmacher bei den Wahlen, sie haben ein Stimmenpotenzial von zehn bis zwölf Prozent. Der inhaftierte Kurdenführer Selahattin Demirtas ruft sie zur Wahl von Kılıçdaroğlu auf, doch das Parteienbündnis hinter dem Kandidaten könnte manche Kurden zögern lassen. Zweitstärkste Kraft in dem Bündnis hinter der linksnationalen Partei von Kılıçdaroğlu und vor einigen islamisch-konservativen Splitterparteien ist eine rechtsnationalistische Partei, deren Vorsitzende als Innenministerin in den 90er Jahren für Gräueltaten an den Kurden mitverantwortlich war – und jede Zusammenarbeit mit der Kurdenpartei bis heute vehement ablehnt.
Spielt derUkrainekriegeine Rolle im Wahlkampf?
Nein, überhaupt keine.
Die Wahlgesetzgebung wurde im vergangenen Jahr noch einmal zugunsten der regierenden Parteien geändert. Kann man überhaupt von demokratischen Wahlen reden?
Das hängt davon ab, wie man demokratische Wahlen definiert. Wenn man damit faire und gleiche Wahlen meint, dann sicher nicht. Beispiel Medien: Die Regierung kontrolliert rund 90 Prozent der Medien im Land und nutzt das auch. Der Staatssender TRT berichtete im Wahlkampf in einem Monat fast 33 Stunden über Erdoğan und nur 32 Minuten über Kılıçdaroğlu. Viele kritische und kurdische Journalisten wurden festgenommen, einige inhaftiert. Geht man vom Mindestkriterium aus, dass jeder abstimmen kann und jede Stimme zählt, dann ja – die Wahlbeteiligung könnte bis zu 90 Prozent erreichen. Über die korrekte Auszählung wachen Vertreter der Parteien und unabhängige Wahlbeobachter in den Stimmlokalen mit Argusaugen, damit haben sie viel Erfahrung.
Gleichzeitig mit dem Präsidenten wird auch das Parlament neu gewählt. Ist es denkbar, dass die Türkei einen Präsidenten bekommt, der keine parlamentarische Mehrheit hat?
Ja, das ist durchaus möglich. Sollte Präsident Erdoğan wiedergewählt werden und mit einer oppositionellen Mehrheit im Parlament konfrontiert sein, wäre er mit einem blauen Auge davongekommen. Denn dank des Superpräsidialsystems, das vor fünf Jahren eingeführt wurde, ist er auf das Parlament nicht angewiesen und kann notfalls auch ohne die Volksvertretung durchregieren.
Wichtig wird der Ausgang der Parlamentswahl auch, wenn im ersten Wahlgang am Sonntag kein Präsidentschaftsbewerber über 50 Prozent kommt und die Präsidentenwahl am 28. Mai in eine zweite Runde geht. Das könnte geschehen, weil außer Erdoğan und Kılıçdaroğlu noch zwei weitere, chancenlose Kandidaten im Rennen sind. Experten glauben, dass Erdoğan dann im Vorteil wäre: Erobert die Opposition die Mehrheit im Parlament, wird er sich als Gegengewicht präsentieren. Dominiert die AKP wieder das Parlament, wird er dafür plädieren, alles in eine Hand zu legen.