Katastrophe in Syrien und der Türkei: Was macht ein Erdbeben so tödlich?

Schlechte Gebäudesubstanz, weiche Bodenbeschaffenheit und geringe Tiefe der Erschütterung: Was das Erdbeben in der Grenzregion so verheerend macht.

4 Minuten
Eine Luftaufnahme zeigt die zerstörten Gebäude nach dem Erdbeben im tükischen Hatay.

Bestimmt die Magnitude allein das volle Ausmaß der Schäden?

Die Einheit, in der die Stärke eines Erdbebens angegeben wird, heißt Magnitude. Die Erdbebenskala gibt an, wie stark ein Erdbeben ist: von unter 2 Magnituden (Erdbeben ist nicht spürbar) bis über 10 Magnituden (globale Katastrophe, bisher nicht gemessen). Die Magnitude allein reicht jedoch nicht aus, um Aussagen über Schäden zu treffen. Daneben ist die Tiefe des Bebens, das sogenannte Hypozentrum, ein wichtiger Faktor.

„Vor allem die wirtschaftliche Lage eines Landes bestimmt das Ausmaß“, erklärt GEOMAR-Professorin Dr. Heidrun Kopp aus Kiel. „Tragisches Beispiel aus den letzten Jahren ist das Erdbeben in Haiti mit einer Magnitude 7, 0 im Jahr 2010, das über 300.000 Tote zur Folge hatte.“

Welche Faktoren sind hauptsächlich verantwortlich für die Zerstörung?

„Nicht die Erdbeben töten Menschen, sondern die Gebäude“, heißt es oft. Das können wir auch in der Türkei und in Syrien mit den hohen Opferzahlen sehen. Je näher sich menschliche Siedlungen zum Erdbebenzentrum befinden, desto mehr Schäden treten auf.

Wie die San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien verläuft die ostanatolische Verwerfung – also die Naht, entlang dieser das Erdbeben brach – unter dicht besiedelten Gebieten.

„Ist eine Region dünn besiedelt und sind alle Gebäude für eine zu erwartende Erdbebenstärke bebensicher gebaut, dann sind die zu erwartenden Schäden bei einem Erdbeben gering im Vergleich zu einer Region, die dicht besiedelt ist und keine bebensicheren Gebäude hat“, sagt Prof. Dr. Torsten Dahm. Der Geophysiker ist Sektionsleiter Erdbeben- und Vulkanphysik am Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ).

Die Gebäudestruktur ist also der entscheidende Faktor in Bezug auf die Zerstörung. Viele Gebäude in der aktuell betroffenen Region sind nicht erdbebensicher errichtet und haben daher der Bodenbeschleunigung während des Erdbebens nicht standgehalten.

In Syrien hat der jahrelange Krieg die Baustruktur massiv zerstört und geschwächt.

Hat die Türkei erdbebensicher gebaut?

Was bedeutet erdbebensicheres Bauen? Die meisten Todesopfer bei solchen Katastrophen hängen nicht mit der Erdbewegung an sich zusammen, sondern sind die Folge einstürzender Gebäude. Vereinfacht ausgedrückt, müssen Gebäude so gebaut werden, dass sie die Bewegungen der Erde „mitmachen“, ohne dabei einzustürzen und ihre Bewohner unter sich zu begraben. Sie müssen also das ruckartige Hin- und Herschwingen des Bodens aushalten können.

In Europa gelten dafür die Normen zum Eurocode 8. Deren Ziel ist, sicherzustellen, dass bei Erdbeben menschliches Leben geschützt ist, Schäden begrenzt bleiben und wichtige Bauwerke zum Schutz der Bevölkerung funktionstüchtig bleiben.

Die türkische Regierung erließ nach dem Erdbeben von Gölcük 1999, bei dem über 18.000 Menschen starben, strengere Bauvorschriften. Doch zum einen bestehen viele ältere Gebäude aus Ziegelwänden oder minderwertigem Beton. Zum anderen hinterfragen Expertïnnen, ob die Vorschriften bei den Neubauten tatsächlich eingehalten wurden. Daran bestehen jetzt Zweifel.

Erdbeben treten häufig an den Grenzen tektonischer Platten auf.
Tektonische Platten um das Erdbebengebiet

Welche geophysikalischen Faktoren spielen eine Rolle?

Hinzu kommt, das sich das Beben relativ nahe an der Oberfläche ereignete, was zu viel stärkeren Erschütterungen am Boden führte. „Ein sehr starkes Erdbeben in 300 km Tiefe wird kaum oder keine Schäden an der Oberfläche auslösen“, sagt Heidrun Kopp, Professorin für Marine Geodäsie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Das Hauptbeben fand aber nur 18 Kilometer unter der Oberfläche statt, und ein schweres Nachbeben der Stärke 7, 5 war mit 10 Kilometern unter Tage noch flacher.

Die eigentliche Ursache des Bebens ist eine komplexe geologische Situation der Erdkruste: Im Osten Anatoliens drückt die riesige afrikanische Platte gegen die asiatische Platte, beide Platten zwängen dabei mehrere kleinere tektonische Platten ein. Die entstehenden Spannungen entladen sich immer wieder ruckartig durch Erdbeben.

Daneben spielt die Beschaffenheit des Bodens für die Schwere von Schäden eine Rolle. Weiche Sedimente wie Tonmineralien können die Schwingungen von Erdbeben verstärken. Sie verhalten sich dann kurzzeitig eher wie eine Flüssigkeit als wie ein Feststoff. Das ist ein Grund, warum beispielsweise die Erdbeben in Mexiko-Stadt so verheerend sind. Die Böden in den betroffenen Gebieten in der Türkei sind ebenso weich.

Welche Auswirkungen haben Nachbeben auf die Zerstörung?

Nach dem ersten schweren Erdbeben wurden mehr als 200 Nachbeben gezählt. GEOMAR-Forscherin Heidrun Kopp spricht von einer „sehr ungewöhnlichen Nachbebensequenz“. Das Hauptbeben hatte eine Magnitude von 7.8. Nur 11 Minuten später trat ein Nachbeben mit einer Magnitude von 6, 7 auf. Weitere Nachbeben wiesen eine noch höhere Magnitude auf.

Auch diese Beben tragen zur Zerstörung und den hohen Todeszahlen bei, da weitere Gebäude einstürzen und die Rettungsarbeiten unterbrochen werden müssen.

Wirkt sich die Klimakrise auf Erdbeben aus?

„Grundsätzlich besteht eine kausale Verbindung zwischen klimatischen Änderungen und Erdbeben“, erklärt Heidrun Kopp vom GEOMAR. So hebt sich etwa durch das Abschmelzen der Eisdecke nach der letzten Eiszeit in Skandinavien die Erdkruste um wenige Zentimeter im Jahr, was schwache Erdbeben auslöst. Für den aktuellen Fall in der Türkei und in Syrien spielen klimatische Änderungen allerdings keine Rolle.

Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!