Die Situation von Juden in Tunesien: „Die Leute sind misstrauisch geworden“
Welchen Einfluss hatte das Attentat auf die La Ghriba-Synagoge auf Djerba vor zwanzig Jahren auf die jüdische Gemeinde?
Vor zwanzig Jahren verübte Al-Qaida einen Anschlag auf die La Ghriba-Synagoge, eines der bekanntesten Wahrzeichen der Insel Djerba. Die Terrororganisation hat nicht nur das damalige Regime destabilisiert, sondern auch dem Tourismus geschadet und die jüdische Gemeinde tief verunsichert, sagt René Trabelsi. Er ist Reiseunternehmer, Sohn des Gemeindevorstehers der La Ghriba und war von 2018 bis 2020 Tourismusminister seines Landes – der erste jüdische Minister in Tunesien seit den 1950er Jahren und damals das einzige jüdische Regierungsmitglied in der arabischen Welt.
Wie haben Sie damals von dem Anschlag erfahren?
Ich habe einen Anruf von meiner Mutter erhalten, morgens gegen 11 Uhr, die mir sagte, dass sie meinen Vater nicht erreichen konnte. Er ist der Vorsitzende der La Ghriba-Synagoge und sie hatte gehört, dass ein Bus in der Nähe explodiert sei. Ich war zu dem Zeitpunkt in Paris. Ich hatte meinen Pass bei mir und nahm sofort ein Taxi zum Flughafen Orly. Dort sagte man mir, dass die einzige Möglichkeit sei, mit einem Linienflug nach Tunis zu fliegen und von dort nach Djerba. Doch alle Inlandsflüge von Tunis aus waren bereits gestrichen worden und für Medikamente, für Ärzte, für Gesundheitsversorgung in Beschlag genommen. Ich bin also zum anderen Pariser Flughafen, Charles de Gaulle, um einen Flug zu nehmen, der direkt nach Djerba ging. Die Fluggesellschaft hat den Flug extra für mich eineinhalb Stunden warten lassen. Ich hatte nicht einmal einen Koffer dabei. Als ich in Djerba ankam, sah es bereits am Flughafen aus wie im Krieg, mit Militärhubschraubern und Sanitätsflugzeugen, die schon auf dem Rollfeld des Flughafens standen. Ich wurde direkt von der Landebahn mit einem Auto zur La Ghriba gebracht. Die Fahrt dorthin war beeindruckend. Die Stadt war tot. Alle Geschäfte waren geschlossen. Als ich dort ankam, etwa 500 Meter von der Synagoge entfernt, konnte man noch schwarzen Rauch sehen. Dann die Überreste des Anschlags. Ich kam ja erst gegen 18 Uhr an, während das Attentat schon gegen 9.30 Uhr morgens stattgefunden hatte. Alle waren sehr besorgt. Das ist etwas, was man sonst nur im Fernsehen sieht. Wir hatten nie erwartet, dass so etwas bei uns passieren würde. Ich bin reingegangen, habe meinen Vater angesehen, ihn umarmt. Er hatte fünf Minuten vor der Explosion an der Stelle des Lastwagens gestanden.
Wann wurde Ihnen klar, dass es sich um einen Anschlag handelte?
Als ich ankam, hörte ich im Radio, dass ein Lastwagen explodiert sei, vielleicht ein Tanklaster. Aber wir haben auch gehört, dass das deutsche Fernsehen bereits die Identität des Selbstmordattentäters bekannt gegeben habe. Außerdem wurde mir gesagt, dass auch die Israelis diese Information in den Medien bekannt gegeben haben. Am Abend waren auch diejenigen davon überzeugt, dass es ein Anschlag war, die am Morgen noch gezögert hatten. Die das nicht hatten glauben wollen, dass es ein Attentat war. Aber ich hatte das Gefühl, dass inzwischen alle, selbst die Politiker und die Polizei, davon überzeugt waren.
Aber offiziell kommuniziert wurde es in Tunesien zu diesem Zeitpunkt nicht.
Offiziell nicht. Es stimmt, dass Tunesien Deutschland die Ermittlungsarbeit machen ließ. Aber alle hatten verstanden, dass es ein Attentat gewesen war. Aber aus Angst wollte niemand darüber reden.
Erst nach der Revolution und dem Ende der Diktatur, zum zehnten Jahrestag hat der damalige Präsident dies öffentlich zugegeben, als eine Gedenkveranstaltung stattfand?
Tunesien hatte es vorher politisch anerkannt, schon unter Ben Ali. Aber es stimmt, dass die angebrachte Gedenktafel diese Anerkennung offiziell gemacht hat. Auf offizielle Weise die Verstorbenen zu ehren, das ist wichtig. Wir wollen nicht an den Anschlag erinnern, sondern an die Menschen, die gestorben sind.
Nur wenige Wochen nach dem Anschlag fand die jährliche Pilgerfahrt zur Synagoge statt. Sie hatten sich entscheiden, sie trotzdem durchzuführen. Wie war die Stimmung während der Wallfahrt?
Es kamen etwa 50 Pilger aus Frankreich, während wir normalerweise Tausende empfangen. Gleichzeitig bewachten 300 oder 400 Polizisten die La Ghriba-Synagoge. Ich denke, dass die Botschaft angekommen ist – wir wollten uns nicht der Angst, nicht dem Terrorismus beugen. Aber es war eine sehr, sehr besondere Atmosphäre, denn während der Pilgerfahrt feiert man eigentlich, aber gleichzeitig haben wir getrauert.
Wie war die Situation in Tunesien zu diesem Zeitpunkt, gab es Spannungen zwischen jüdischen und muslimischen Tunesierïnnen?
Ich denke das Attentat zielte darauf ab, die Regierung von Ben Ali zu destabilisieren. Al-Qaida hat mit der Synagoge einen der wichtigsten Orte auf Djerba getroffen. Das Ziel war das ganze Land. Denn die Bedeutung der jüdischen Gemeinde auf Djerba und vor allem das Leben dieser Gemeinde, die sich mit der muslimischen Bevölkerung mischt, war weithin bekannt. Diese beiden Gemeinschaften waren das Symbol der Koexistenz auf Djerba.
Aber in den 1980ern hatte es Spannungen hier in der Region gegeben. 1982, nach dem Massaker von Sabra und Shatila…
Ja, da wurde in Zarzis (eine Stadt ca. eine Stunde südlich von Djerba, Anm.d.Red) eine Synagoge angezündet. Das hat dazu geführt, dass ein großer Teil der jüdischen Gemeinde von Zarzis wegzog, ein Teil nach Tunis und Djerba, aber auch viele nach Marseille. Zarzis hatte damals eine sehr große jüdische Gemeinde, eine sehr schöne. Heute sind es vielleicht noch 200 Personen.
1985 hat hier auf Djerba…
Ein Polizist hat während des Laubhüttenfests auf Gläubige in der La Ghriba geschossen. Es war der 5. Oktober 1985 und es gab drei Tote. Ein älterer Herr und ein Junge von 16 Jahren und mein Neffe. Er war fünf Jahre alt. Man hat damals erzählt, dass dieser Polizist einen Bruder hatte, der bei dem israelischen Angriff auf Tunis, auf Hammam Chott (wo sich damals das Hauptquartier der PLO befand, Anm.d.Red) eine Woche vorher ums Leben gekommen ist. Wir Juden von Djerba haben nichts mit den Israelis oder den Palästinensern zu tun. Es soll ein Akt eines Polizisten im Wahn gewesen sein, ein Massaker. Er hat sogar einen Muslim getötet, um sein Auto zu klauen. Seitdem gab es keine Zwischenfälle mehr. Es hatte 1967 und 1973, während der Kriege im Nahen Osten, Probleme in Tunis gegeben, aber nicht auf Djerba.
Wie hat sich der Anschlag von 2002 auf die jüdische Gemeinde ausgewirkt?
Er hat Angst gemacht. Er hat allen Angst gemacht, aber vor allem der jüdischen Gemeinschaft. Wir haben auf Djerba gesehen, was wir sonst nur im Fernsehen sahen, weit weg. Niemals hätte sich jemand vorstellen können, dass so etwas hier passiert. Alle waren sprachlos. Seitdem sind die Leute misstrauisch geworden. Wenn sie jemanden im Café sehen, den sie nicht kennen, melden sie es der Polizei. Die Leute sind sehr vorsichtig, wen sie einstellen.
Fühlen Sie sich heute sicher?
Ja, ich persönlich fühle mich sicher. Obwohl ich ein ehemaliger Minister bin und eigentlich einen Personenschützer dabeihaben müsste. Auf Djerba fühle ich mich sicher.
Mein Eindruck in Gesprächen mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde war, dass viele sich wenig zu politischen Fragen oder zu eventuellen Problemen äußern wollen. Warum ist das so?
Ich denke, das ist nur natürlich. Wir sind eine Minderheit. Und wenn man eine Minderheit ist, folgt man den politischen Machthabern, ob man sie mag oder nicht. Unser Wahlrecht erlaubt uns keine politischen Begierden. Dabei sind die Juden in Tunesien, vor allem auf Djerba, seit mehr als zweitausend Jahren hier. Sie sind keine Mieter, sie sind die Eigentümer ihres Landes. Aber es stimmt, dass die Leute ungern öffentlich über Politik sprechen oder ihre Meinung äußern, weil es immer kompliziert ist. Es wird immer falsch interpretiert. Obwohl sie tunesische Bürger sind wie jeder andere auch und das Wahlrecht haben wie jeder andere auch. Dann haben sie auch das Recht, ihre Meinung zu sagen wie jeder andere auch. Ich denke, das ist eine Gewohnheit. Viele sind ziemlich zurückhaltend.
Hat sich mit der Revolution von 2011 etwas an der Situation der Gemeinde geändert?
Nein, es hat sich nichts geändert. Natürlich konnte man dann freier reden als zu Zeiten der Diktatur. Aber die hat man im Alltag nicht gespürt, solange man aufgepasst hat, nicht öffentlich über Politik zu sprechen. Dass die Menschen heute offen reden, ist für die jüdische Minderheit oft unangenehm. Die Leute nehmen sich das Recht heraus, einen zu beleidigen. Es gibt keine Gesetze gegen Antisemitismus. Man kann auf Facebook beleidigt werden, ohne dass irgendjemand ein Problem bekommt. Ich denke, dass Tunesien allmählich in den Geist der Demokratie eintritt. Aber es mangelt im Bereich der Freiheiten noch an vielen Dingen. Minderheiten werden in dieser neuen Demokratie in Tunesien noch nicht wirklich geschützt.
Die Unterstützung für Palästina ist in der tunesischen Bevölkerung und in der tunesischen Politik ein wichtiges Thema. Wird dabei Ihrer Meinung nach etwas vermischt in Bezug auf Israel und die tunesischen Juden?
Wenn man Israel betrachtet, gibt es diese Vermischung seit der Rede von Jamel Abdel Nasser 1968 zur Einheit der arabischen Welt. Ich denke, es gibt heute – und das habe ich auch schon in tunesischen Medien gesagt – keine palästinensische Sache mehr. Für mich ist die Unterstützung der palästinensischen Sache, die Politiker heute in Tunesien leisten, ein Geschäft. Es ist ganz einfach ein Produkt, das man den Menschen verkauft, um zu versuchen, an sie heranzukommen. Heute werden Treffen von einigen politischen Bewegungen oder Gewerkschaften oder Vereinen organisiert, um über Tunesien zu sprechen. Dann sieht man dort palästinensische Flaggen, palästinensische Schals. Das ist ein Bluff, ein Geschäft.
Es wird instrumentalisiert, weil es das einzige Thema ist, bei dem sich in Tunesien alle einig sind?
Leider, und es kommt immer wieder hoch, wenn Wahlen sind. Aber es ist nicht das, was die Zukunft und den Lebensstandard, die Zukunft der tunesischen Bevölkerung verbessern wird. Es ist nichts, das Arbeitskräfte bringen wird. Es ist nicht das, was Investoren nach Tunesien bringen wird.