Tunesische Digital Farming-Lösung für Kleinbauern: dank KI den Anbauplan direkt aufs Smartphone
Mit einer Software-basierten Lösung machen tunesische Agronomen digitale Lösungen der Präzisionslandwirtschaft für alle zugänglich.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Serie über nachhaltige Entwicklungsziele und Tech-basierte Lösungen aus Afrika, die wir mit einer afrikanisch-deutschen Community diskutieren. You can find an English version of this article for download here. Vous trouverez ici une version française de l'article à télécharger.
„Der größte Nachteil ist, dass ich meine Berater jetzt gar nicht mehr sehe, sondern fast alles übers Telefon läuft.“ Amine Cherif lacht. Vor sechs Jahren hat der 37-jährige Buchhalter angefangen, in die Landwirtschaft zu investieren. Äpfel, Trauben, einige Pfirsichbäume und Oliven stehen auf den acht Hektar Feldern seines Kleinstbetriebs in Zaghouan, rund eine Stunde südlich der Hauptstadt Tunis. Doch hinter dem Lachen versteckt sich Anspannung. Im Mai und Juni hat es viel geregnet, der Mai war so regenreich wie seit 1950 nicht mehr. Normalerweise sind diese Monate in Tunesien sehr trocken. Der Regen hat zwar dazu beigetragen, die leeren Stauseen des Landes aufzufüllen, doch für die Trauben könnte er fatal sein, da er Pilzerkrankungen begünstigt. Das könnte ihn die Ernte kosten.
Die Empfehlungen direkt aufs Smartphone
Cherif hat frühzeitig angefangen, die Pflanzen zu behandeln. Er hat ein Pilzmittel eingesetzt, dass ihm die Smartphone-App Crop's Talk vorgeschlagen, um seine Pflanzen zu schützen. Die App sei sein persönlicher Landwirtschaftsberater in der Hosentasche, scherzt er. Früher kamen Rabeb Fersi und Samir Chebil, die Erfinder von Crop's Talk, zu ihm aufs Gelände, um ihn zu beraten. Heute kommen ihre Empfehlungen direkt und automatisiert auf Cherifs Smartphone. Ereignisse wie die außerplanmäßigen Niederschläge im Frühsommer sind ein Härtetest für die Algorithmen der Anwendung.
Amine Cherif ist Teil einer Generation junger Tunesierïnnen, die neu in die Landwirtschaft investieren und dort trotz den Herausforderungen des Klimawandels Gewinnmöglichkeiten sehen. Im Gegensatz zu den älteren Generationen steht diese digitalen Lösungen sehr offen gegenüber. Was ihnen jedoch oft fehlt ist das überlieferte Wissen der Älteren oder eine landwirtschaftliche Ausbildung. „Ich hatte viele Probleme mit der Bewässerung. Die Landarbeiter in Tunesien sind oft wenig qualifiziert. Da wurde dann entweder zu viel oder zu wenig bewässert.“ Dadurch hätte er immer wieder Ernteeinbußen hinnehmen müssen.
Auf der Suche nach modernen, smarten Bewässerungslösungen wurde er zunächst auf eine Sensor-basierte Lösung aufmerksam, die ebenfalls von den Gründern von Crop's Talk entwickelt worden war. Doch für einen kleinen Betrieb wie seinen lohnten sich die hohen anfänglichen Investitionskosten nicht. Als dann die rein Software-basierte Lösung auf den Markt kam, war er sofort begeistert. „Das ist besser, als viele tausend Dinar auszugeben und nicht zu wissen, ob es sich rentiert. Und günstiger als die personalisierte Beratung ist es auch.“ Der Erfolg habe sich schnell eingestellt. „Ich sehe wirklich gute Fortschritte bei der Ernte und der Eindämmung von Krankheiten. Man kann besser behandeln, wenn man rechtzeitig anfängt. Gleichzeitig reduziert es die Kosten und steigert den Ertrag.“ Seit ihm die App täglich zur Seite stehe, sei er viel entspannter.
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Gründerin Rabeb Fersi zeigt, wie die App eingerichtet wird. Dies ist bewusst einfach gehalten: Die Landwirtïnnen müssen nur ihre Telefonnummer angeben, um sich zu registrieren. Ein Foto der Pflanze reicht, um eine neue Kultur anzulegen.
Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz erkennt die App automatisch, um was für eine Pflanze es sich handelt.
Die Details werden einmalig manuell eingegeben.
Die Nutzerïnnen bekommen dann einen täglich aktualisierten Wochenplan aufs Handy: Für jedes Feld und seine Kultur empfiehlt ihnen die App, ob und wieviel sie am Tag bewässern, düngen und spritzen soll. Ändert sich das Wetter, wird der Plan automatisch aktualisiert.
Damit Landwirte wie Amine Cherif ihren personalisierten Arbeitsplan tagesaktuell aufs Handy bekommen, laufen im Hintergrund unzählige Algorithmen. Die Idee, smarte Lösungen für die Landwirtschaft zu entwickeln, kam der Gründerin Rabeb Fersi während ihrer Masterarbeit. Die Agronomin stellte fest, dass es „eine enorme Lücke“ gibt zwischen dem, was in der wissenschaftlichen Forschung geschieht, und dem, was die Landwirte tatsächlich anwenden. 2017 gründete sie gemeinsam mit Samir Chebil, der damals ihre Arbeit betreute, die Firma iFarming. „In der Regel folgen die Landwirte der Erfahrung, die sie sich über Jahre hinweg angeeignet haben. Sie sind nicht auf dem Laufenden über neue Erkenntnisse der Forschung, über Resistenzen, neue Sorten oder ihre Anpassung an veränderte klimatische Gegebenheiten.“ Diese Lücke wolle sie mit Crop's Talk schließen. Mit ihrem Partner habe sie „25 Jahre Know-How, das wir in Algorithmen, mathematische und agronomische Gleichungen übersetzen.“
Empfehlungen quasi in Echtzeit statt nach starren Plänen
Das Besondere an ihrer App: dass sie eine ganze Reihe Parameter quasi in Echtzeit in Betracht zieht und nicht einfach starr einem vorgegebenen Plan folgt. „Ausgehend von den Geodaten berücksichtigen wir das Mikroklima jeder Anbaufläche, dazu die Sorte, das Alter der Pflanzen und so weiter. Und dann lassen wir unsere Algorithmen laufen, die all diese Daten jeden Tag in Echtzeit nutzen, um Simulation durchzuführen und den Bedarf zu berechnen.“ So werden zum Beispiel Niederschlagsvorhersagen tagesaktuell in den Bewässerungsplan eingerechnet. Und sollte es dann doch nicht geregnet haben, wird der Ausgleich für den nächsten Tag miteingeplant. So sei eine Präzisionsbewässerung auch ohne teure Bodensensoren und eigene Wetterstationen der Landwirte möglich.
Außerdem kalkuliert die Anwendung Düngemittel und Pestizide „in Abhängigkeit vom Entwicklungsstadium der Pflanzen, dem sogenannten physiologischen Stadium. Das bedeutet, dass wir weniger, aber effektivere Behandlungen durchführen und nur dann behandeln, wenn es wirklich notwendig ist.“ So werde weniger und umweltschonender gedüngt und gespritzt.
Je nach Kulturen sei es ihnen bisher gelungen, 40 Prozent Wasser einzusparen, den Ertrag um rund ein Drittel zu steigern und die Produktionskosten um ein Viertel zu senken. „Wir haben unser geballtes Wissen und unsere Erfahrungen in mathematische Gleichungen übersetzt. Und diese Variablen adaptieren sich jetzt dank der Algorithmen. Das heißt, sie lernen dank der Nutzung künstlicher Intelligenz.“ Weit über neunzig Prozent der Start-Up-Gründer im Agritech-Bereich kämen aus der Informatik, so Rabeb Fersi. „Wir sind den umgekehrten Weg gegangen und wissen genau, was die Landwirte benötigen.“ Dies sei ihre Stärke.
Mit Crop's Talk eine Nische der Landwirtschafts-Apps besetzt
Während die meisten anderen smarten Lösungen für Farmmanagement entweder sensor-basierte IoT-Lösungen sind oder Satelliten-Daten nutzen, hätten sie sich mit ihrer rein software-basierten, aufs Entwicklungsstadium der Pflanzen basierenden Lösung eine Nische geschaffen, in der es kaum Konkurrenz gebe.
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29 Hektar groß ist der Landwirtschaftsbetrieb Dar El Khir in Khelidiya, rund eine halbe Stunde südlich der Hauptstadt Tunis.
Dort werden verschiedene Sorten Zitrusfrüchte angebaut, unter anderem Clementinen, Mandarinen und Grapefruit. Einige Sorten reifen schon im Frühherbst, andere erst im Winter. Letztes Jahr ist fast die ganze Mandarinenernte wegen einer Hitzewelle im Mai und Juni kaputtgegangen.
Houcine Salhi ist der technische Direktor des Betriebs. Seit er 1990 dort angefangen hat, sind die Regenfälle massiv zurückgegangen und das Klima hat sich verändert.
„Die Jahreszeiten sind nicht mehr das, was sie mal waren: Winter und Herbst zu trocken und warm, der Sommer viel zu heiß. Der Zyklus der Pflanzen ist völlig durcheinandergekommen. Sie verstehen nicht mehr, welche Jahreszeit es gerade ist.“
Hanene Manai arbeitet seit mehr als 15 Jahren in dem Betrieb. Sie ist für die Bewässerung und den Einsatz von Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel zuständig.
Seit zwei Jahren nutzen sie dafür die App Crop's Talk. Für jede Sorte Zitrusfrüchte und jeden Tag gibt es einen eigenen Plan. Da Hanene kein Französisch kann, erklärt Houcine Salhi seiner Mitarbeiterin des Vertrauens, was ansteht.
„Früher haben wir im Durchschnitt sechs Stunden am Tag bewässert, heute sind es noch dreieinhalb, vier. Das Ganze hat System – und der Unterschied ist an den Bäumen und Früchten mit bloßem Auge sichtbar.“ Hanene Manai
Die Farm hat drei Brunnen. Das zusätzliche Speicherbecken brauchen sie trotz Rekordtemperaturen nicht mehr, seit sie die App nutzen: Der Wasserverbrauch ist um ein Drittel gesunken – und damit auch die Stromkosten für die Pumpen.
„Wir haben in den letzten zwei Jahren auch rund 15 Prozent weniger Dünger eingesetzt. Nur der Pestizidverbrauch ist ungefähr gleich geblieben.“
Houcine Salhi
Salhi wartet darauf, dass die App ins Arabische übersetzt und noch weiterentwickelt wird. „Am Besten wäre es, wenn Hanene einfach abhaken könnte, was sie erledigt hat, und ich bekäme eine Benachrichtigung.“ Doch bereits die jetzige Version sei eine große Erleichterung bei der Arbeit.
Angefangen haben die Gründer von Crop's Talk mit Obstbäumen. In einem Pilotprojekt im Senegal wird die Anwendung außerdem im Kartoffel-, Paprika- und Tomatenanbau verwendet. Die Stiftung des umstrittenen Saatgut- und Pestizid-Giganten Syngenta bezahlt dort rund 3000 Kleinbauern im Großraum Dakar die Kosten für die Nutzung der App. Ein weiteres Projekt in der Elfenbeinküste ist in Vorbereitung, genauso wie eine Version für den Getreideanbau. Neben den nord- und westafrikanischen Staaten wolle man auch den südeuropäischen Markt erobern, der klimatische Ähnlichkeiten aufweise und ebenso wie der Maghreb massiv unter den Folgen der Klimakrise leide. „Der Vorteil unserer Algorithmen ist, dass sie sich nach kurzer Zeit an jede Kultur in jedem Land anpassen.“
Wenn Amine Cherif zu Hause auf dem Sofa in Tunis die App öffnet, muss er allerdings immer noch telefonisch seinen Arbeitern Bescheid geben, was sie jeden Tag machen sollen. „Ich warte immer noch auf die arabische Version. Die Arbeitskräfte verstehen kein Französisch, also bin ich gezwungen, ihnen jedes Mal zu sagen, was sie tun sollen.“
Denn während zwar rund drei Viertel der tunesischen Landwirte ein Smartphone besitzen, sprechen längst nicht alle Französisch. Die App neben Französisch, Englisch und Wolof, der lingua franca im Senegal, auch in anderen Sprachen anzubieten ist eine der dringendsten Punkte auf der To-Do-Liste des jungen Start-Ups. Auch über eine Möglichkeit, sie offline oder mit Sprachnachrichten nutzbar zu machen, denken sie nach. Damit könnten sie die Kosten für die Endnutzer weiter reduzieren und gleichzeitig auch die Analphabetïnnen unter den rund 300 Millionen Kleinbauern auf dem afrikanischen Kontinent erreichen. Diese seien ein Grundpfeiler der Lebensmittelversorgung viele afrikanischer Länder, gleichzeitig aber besonders verwundbar durch die Klimakrise und Ernteausfälle.
Ein kleiner Beitrag zur Sicherung der Produktionsketten
Deswegen soll der smarte Bewässerungsplan in der App auch dauerhaft kostenlos bleiben. „Dies ist unser kleiner Beitrag vor dem Hintergrund der Wasserknappheit, von der die meisten Länder betroffen sind. Wenn man das schwächste und verletzlichste Glied der landwirtschaftlichen Kette mit den richtigen Werkzeugen ausstattet, kann man die ganze Produktionskette stärken, “ sagt Rabeb Fersi. Lediglich die Empfehlungen für den Einsatz von Düngemitteln oder Pestiziden – bei denen die App jeweils nur solche vorschlägt, die in den Ländern der Nutzern auch zugelassen sind – sind kostenpflichtig, aber online und wöchentlich bezahlbar, ohne komplizierte Abo-Strukturen. Während eine personalisierte Beratung in Tunesien im Jahr mit umgerechnet rund 5000 Euro und Hardware-Lösungen mit bis zu 20 000 Euro zu Buche schlagen, kostet die App monatlich nur zehn bis fünfzehn Euro.
Amine Cherif schaut zuversichtlich auf seine Traubenernte im Spätsommer. Die späten Regenfälle und die anschließende extreme Hitzewelle scheinen seine Früchte dank frühzeitiger Behandlung gut überstanden zu haben. Ohne die App hätte er wahrscheinlich dieses Jahr große Einbußen verzeichnet.
Das Projekt wurde gefördert von dem European Journalism Center, durch das Programm Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird unterstützt von der Bill und Melinda Gates Foundation.