Gibt es nur zwei Alibi-Gegenkandidaten bei Tunesiens Präsidentschaftswahl?

Oppositionelle werfen Amtsinhaber Kais Saied vor, seine Konkurrenten vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober aus dem Weg zu räumen. Nur zwei Gegenkandidaten wurden zugelassen, weit mehr verurteilt.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
4 Minuten
Eine Gruppe schwarz gekleideter jüngerer Frauen mit Plakaten. Eine hält ein Schild mit der Aufschrift „Basta“ in der Hand, eine andere bläst in eine Trillerpfeife.

„Das ist doch keine Demokratie, sondern alles nur Fassade“, schimpft ein junger Mann Mitte August bei einer Demonstration im Zentrum der Hauptstadt Tunis. Amtsinhaber Kais Saied habe Angst vor den Wahlen, deshalb lasse er all diejenigen aus dem Weg räumen, die ihm gefährlich werden könnten. Doch lange könne es so nicht weitergehen, glaubt der Kulturschaffende, der seinen Namen aus Angst vor Repressalien nicht in der Zeitung sehen will. Das Land sei wie ein Dampfkochtopf, der jeden Moment in die Luft gehen könne. „Die Leute sind müde. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation ist verheerend.“

Eigentlich demonstrierten die mehr als hundert Menschen anlässlich des nationalen Frauentages. Für die Opposition ein guter Anlass, auf die Missstände in Tunesien aufmerksam zu machen, schließlich sitzen auch mehrere Politikerinnen und Aktivistinnen der Zivilgesellschaft teils seit Monaten in Haft. Chaima Issa hat sich ebenfalls unter die Teilnehmenden gemischt. Die Politikerin hatte wegen mutmaßlicher Umsturzpläne ein halbes Jahr in Untersuchungshaft verbracht. Sie darf eigentlich nach wie vor nicht öffentlich auftreten. „Ich bin hier, um zu zeigen, dass ich keine Angst habe. Wir müssen kämpfen, damit sich die Situation ändert.“

Kritik vom ehemaligen Unterstützer

Dass die Präsidentschaftswahl am 6. Oktober das politische System des Präsidenten erschüttern könnte, scheint derzeit unwahrscheinlich. Nur drei Kandidaten hat die Wahlbehörde ISIE zugelassen, Amtsinhaber Kais Saied inklusive. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren waren es noch 26 gewesen. Neben Saied bewerben sich noch Zouhair Maghzaoui, Vorsitzender der links-nationalen, panarabistischen Partei Echaab, und der liberale Geschäftsmann Ayachi Zammel. Beide waren Mitglieder des Parlaments, das Saied im Juli 2021 bei seiner Machtnahme kaltgestellt und später aufgelöst hatte. Beobachter zweifeln, dass die beiden Gegenkandidaten dem Amtsinhaber gefährlich werden könnten. Weder Maghzaoui noch Mitbewerber Zammel verfügen über großen Rückhalt in der Bevölkerung.

Maghzaouis Partei hatte Kais Saied als einzige lange unterstützt und steht ihm auch ideologisch nahe. Trotz der Kandidatur ihres Vorsitzenden sei man nach wie vor für den 2021 eingeschlagenen Weg politischer Reformen in Tunesien. In einer Videobotschaft äußerte Maghzaoui allerdings deutliche Kritik am amtierenden Präsidenten. „Tunesien kann es sich nicht leisten, noch mehr Zeit mit dem Kampf gegen Windmühlen zu verlieren. Es ist nicht bereit, fünf weitere Jahre in den Labyrinthen der dunklen Hinterzimmer zu verbringen“, sagte er in Anspielung darauf, dass Saied kaum kommuniziert und Entscheidungen hinter verschlossenen Türen gefällt zu werden scheinen. Zuletzt hatte er ohne weitere Erklärung seinen Regierungschef entlassen.

Eilig gefällte Urteile gegen potenzielle Mitbewerber

Ayachi Zammel sah sich unterdessen genötigt zu erklären, dass die Entscheidung der Wahlbehörde endgültig sei und seine Kandidatur nicht mehr annulliert werden könne. Keine zwei Stunden, nachdem er vergangene Woche eine Videobotschaft veröffentlicht hatte, in der er die groben Linien seines Wahlprogramms vorstellte, war er vorgeladen worden. Ihm wird in zwei Verfahren vorgeworfen, dass Mitarbeitende seines Teams für die Kandidatur benötigte Unterstützerunterschriften manipuliert hätten.

Weitere Kandidierende, die mutmaßlich größere Chancen gehabt hätten als Maghzaoui oder Zammel, wurden gar nicht erst zugelassen, darunter der ehemalige Gesundheitsminister Abdellatif El Mekki, der früher Mitglied der konservativ-muslimischen Ennahdha-Partei war, sowie der Medienunternehmer Nizar Chaari. Sie wurden zusammen mit drei anderen potenziellen Kandidaten im Eilverfahren wegen Bestechung von Wahlberechtigten zu je acht Monaten Haft verurteilt. Außerdem wurde ihnen auf Lebenszeit untersagt, bei Wahlen anzutreten. Sie hätten sie sich Unterschriften für ihre Kandidatur erschlichen, urteilte das Gericht. Darüber hinaus war die Vorsitzende einer Nachfolge-Partei des alten Regimes von Ex-Machthaber Zine El Abidine Ben Ali, Abir Moussi, zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Sie hatte sich in den Medien kritisch über die Wahlbehörde geäußert.

Scharfe Kritik aus der Zivilgesellschaft

Schon im Vorfeld der Bekanntgabe der Kandidaten hatte es Kritik aus der Opposition und der Zivilgesellschaft gehagelt. Ihr Vorwurf: Die demokratischen Gegebenheiten seien nicht respektiert worden. Den Kandidierenden würden Steine in den Weg gelegt, der Präsident nutze die Mittel seines Amtes, um seine Kandidatur voranzutreiben. Er hatte auf dem offiziellen Facebook-Auftritt des tunesischen Präsidialamtes angekündigt, dass er sich erneut zur Wahl stellen werde. „Die Freiheiten sind eingeschränkt, der Staat übt Druck aus, die Tunesierinnen und Tunesier sind gespalten“, kritisierte Neila Zoghlami, Vorsitzende des Tunesischen Verbandes Demokratischer Frauen, im Namen einer Reihe Nichtregierungsorganisationen. Außerdem würden die Justiz und ein umstrittenes Gesetz gegen Internetverbrechen dazu genutzt, Kritiker mundtot zu machen. Das alle führe nicht dazu, „dass Leute überhaupt kandidieren wollen oder Unterschriften sammeln“.

Mekki und Moussi sowie vier weitere abgelehnte Bewerber hatten zwar Widersprüche gegen die Entscheidungen der Wahlbehörde beim Verwaltungsgericht eingelegt. Diese wurden jedoch alle zurückgewiesen. Der in Frankreich lebende Mondher Znaidi, Technokrat und Minister unter dem ehemaligen Langzeit-Machthaber Ben Ali, sagte, die Wahlbehörde habe der Bevölkerung die Entscheidung schon vor den Wahlen abgenommen. Diese wies die Kritik zurück. Die Kriterien seien transparent und für alle Kandidierenden gleichermaßen gültig.

Alles schon mal dagewesen?

Der pensionierte Jura-Dozent Saied war im Herbst 2019 demokratisch mit großer Mehrheit gewählt worden. Im Juli 2021 rief er inmitten einer politischen, wirtschaftlichen und Covid-Krise den Notstand aus, entließ den Regierungschef und stellte das Parlament kalt. Seitdem hat er zunehmend Macht auf sich vereint. 2022 ließ er in einem Referendum über eine neue Verfassung abstimmen. Alle sieben Mitglieder der Wahlbehörde wurden 2022 von ihm selbst ernannt.

Die ISIE sei eine Zeitmaschine, kommentierte der tunesische Journalist Sofien Ben Farhat. Sie agiere wie unter Ex-Machthaber Ben Ali. Dieser habe sich 1999 entschieden, den Wahlen „einen demokratischeren Anstrich zu verleihen, um die Kritiker zum Verstummen zu bringen. Er hat zwei seiner ‚Oppositionellen‘ überzeugt, die Komparsen zu spielen und zu kandidieren“. Dieses Szenario wiederhole sich jetzt mit Maghzaoui und Zammel, die Amtsinhaber Saied bewusst oder unbewusst ein demokratisches Alibi liefern würden.

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