Krieg in der Ukraine: Die Hunde, die blieben – und die Menschen, die sie retten

In einer Welt aus Feuer, Staub und Einsamkeit opfern Freiwillige ihre eigene Sicherheit, um vierbeinigen Gefährten eine Flucht zu ermöglichen. In der Frontstadt Kupjansk zurückgelassen und dennoch nicht vergessen: Wie die Organisation Nor Dog Tiere aus dem Kriegsgebiet evakuiert.

9 Minuten
Zwei Frauen befreien einen Hund von seinen Ketten in einem zerstörten Hinterhof.

Das Schluchzen ist kaum zu hören. Zwischen dem Brüllen eines Automotors und brennenden Häusern ringt eine alte Frau mit ihrem Schäferhund und weint. Das Fauchen und Knacken der Feuer, der Motor, das Heulen des Windes – all das übertönt, was sich vor dem blassgelben Wohnhaus in Kupjansk abspielt: Eine Frau trauert, weil sie ihr Haustier nicht abgeben will. Ein Hund kämpft, von Angst geplagt. Doch die Entscheidung ist gefallen.

Die Frau schweigt, ihre Gesichtszüge schmerzverzerrt, die Lippen zittern. Ruß vermischt sich mit Tränen. Terra, ihr Schäferhund, drängt sich eng an sie, als suche er Schutz. Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke – ein stiller Abschied, eine unausgesprochene Bitte. Die Frau will, dass Terra in Sicherheit kommt, doch sie selbst will ihr Zuhause nicht verlassen – trotz der eskalierenden Situation in Kupjansk, ihrer Heimatstadt im Osten der Ukraine. Die Angriffe werden häufiger, die Brände breiten sich aus.

Druck auf Kupjansk steigt: Gleitbomben und Artillerie bringen Zerstörung

Panik. Terras Augen sind weit aufgerissen. Sein Atem geht stoßweise, seine Nackenhaare sind gesträubt, Speichel tropft aus den Lefzen. Verzweifelt versucht er, sich aus dem Halsband zu winden, aber die kleine Frau mit dem kurzen, grauen Haar hält stand. Die Freiwilligen von Nor Dog greifen ein. Mit einem Toyota Tundra, einem massiven Pick-up, sind sie gekommen, um Terra zu evakuieren. Noel Tock, Svitlana Bachurina und Frederik Guttormsen agieren schnell. Guttormsen greift den Hund von hinten, während Tock beruhigend sagt: „Ich halte die Box.“ Der Wind peitscht, die Frau weint, und Terra gibt nach, verstummt in der Transportbox.

Rauch liegt über der Stadt, dringt in die Lungen derer, die den Hund in den Pick-up verladen. Nur zwanzig Meter entfernt sitzt ein Soldat wortlos auf dem Boden, die Knie angezogen, den Blick auf eine brennende Ruine gerichtet – was einmal ein Haus gewesen sein soll.

Und der Tundra rast weiter.

Ein Hund wird in einer Transportbox auf den Pick-up geladen.
Ein Hund wird in einer Transportbox auf den Pick-up geladen.

Kupjansk, eine Stadt in der Oblast Kharkiv, wurde zu Beginn des Krieges von russischen Truppen schnell überrannt, auch weil der damalige Bürgermeister, Gennadi Matsegora, die Administration kampflos übergeben hatte. Im Herbst desselben Jahres wurde die Region durch eine groß angelegte Gegenoffensive der ukrainischen Armee befreit. Heute kämpfen Moskaus Truppen darum, die Stadt erneut zu erobern. Artillerie und Gleitbomben erschüttern Kupjansk regelmäßig, und entlang der südlichen Frontlinie rücken die Russen immer weiter vor. Die Stadt selbst hat sich in wenigen Monaten dramatisch verändert: Zerstörte Häuser und zerschossene Brücken prägen das Bild, während Trockenheit und Wind die Flammen nach Angriffen schnell verbreiten.

Rettung inmitten der Zerstörung

Noel Tock ist einer der vier Vorstände von Nor Dog, einer Organisation, die sich auf die Evakuierung und Vermittlung von Haustieren spezialisiert hat. Tock, ein 43-jähriger Schweizer und Inhaber einer weltweit tätigen Digitalagentur, engagiert sich neben Frederick Guttormsen, dem Gründer aus Norwegen, und den beiden ukrainischen Teammitgliedern, Hundetrainerin Svitlana Bachurina und Jäger Pavel Khramtsov. In Kupjansk sind sie an diesem Tag unterwegs, um vier Hunde zu retten. Kritiker, die meinen, man sollte eher Menschen als Tieren helfen, hört Tock oft. Und er versteht die Argumente.

„Mir ist klar, dass Tiere eine niedrigere Priorität haben“, sagt er. „Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass Tiere, wie auch Kunst und Kultur, einen sehr großen Teil vom Ganzen ausmachen.“ Für ihn ist es ein Ökosystem, in dem alles zusammenhängt. Es gebe eben nicht bloß den Menschen darin. Kultur, Geschichte, Wissenschaft, die Tiere – all das müsse geschützt werden. „Organisationen, die den Menschen helfen, gibt es mittlerweile sehr viele hier im Land – und die sind mit der Zeit sehr professionell geworden.“

Ein zerstörtes Gebäude in der Frontstadt Kupjansk.
Ein zerstörtes Gebäude in der Frontstadt Kupjansk.
Zerstörte Hütten und Schuppen in Kupjansk.
Das Stadtbild von Kupjansk hat sich binnen weniger Monate verändert. Zerstörung und Brandflächen prägen nun das Antlitz der Stadt im Osten der Ukraine.
Rauch steigt auf - davor ein Kinderspielplatz in der ostukrainischen Stadt Kupjansk.
Rauch steigt auf - davor ein Kinderspielplatz in der ostukrainischen Stadt Kupjansk.
Ein Gebäude in der ukrainischen Stadt Kupjansk steht in Flammen.
Eines von vielen brennenden Gebäuden an diesem Tag in Kupjansk.

Etwa fünf Minuten Fahrt. Guttormsen, der Fahrer, schießt mit dem Geländewagen über die brüchigen Straßen. Über Sandwege, die von kleinen Hügeln und tiefen Löchern gezeichnet sind. Vorbei an verkohlten Holzbalken, die wie Skelette die Grundrisse von etwas andeuten, das hier einmal stand. Ein beißender Geruch, süßlich scharf, vermischt mit chemischem Stechen. Die Sicht ist getrübt. Dann Vollbremsung. Der Weg, vielleicht drei Meter breit, ist durch einen tiefen Raketenkrater blockiert. Rückwärtsgang. Umweg.

Hund ohne Schutz

Ein vielleicht 15 Jahre alter Junge steht vor einem Haus, bei dem schon auf den ersten Blick klar wird: Hier ist nichts mehr zu retten. Dennoch versucht das Kind den Brand zu löschen – mit einem Gartenschlauch, aus dem das Wasser eher sickert, als fließt. Stumm starren die Freiwilligen auf diese Szene. Kein Wort. Keine Reaktion. Als hätte jemand für einen Moment die Zeit angehalten. Schweres Schweigen. Bis eine Frau mit kurzen blonden Haaren und Blumenbluse zu der Gruppe dazu stößt. Keine Regung in ihrem Gesicht. Nur ein starrer Blick und schnelle russische Sätze, die sie herunter rattert. Sie will den Freiwilligen zeigen, wo die nächsten Hunde sind, die evakuiert werden sollen.

Im Hintergrund sind immer wieder entfernte Einschläge zu hören. Wind und Feuer rauschen um die Wette. Die erste Adresse in dieser Straße ist ein leerstehendes Gebäude. Auf einem rostigen Schild am Tor steht „Nekrasova Straße 26“. Die Frau führt Bachurina in den Hinterhof, vorbei an Wellblechzäunen und Schutt. Bachurinas Fäuste sind geballt, umklammern die rote Leine, die sie mitgebracht hat. Kurz bleibt sie stehen und beobachtet das Bild, das sich hier zeichnet. Am Hintereingang, ohne Unterstand, ohne Wasser oder Futter, ist ein Schäferhund-Mix angekettet. Einen, vielleicht zwei Meter. So viel Bewegung ist dem Tier gestattet. Die Hausbesitzer – offenbar geflohen. Ohne den Hund. Etwas, das viele Menschen nicht nachvollziehen können. Doch selbst die Tierretter haben bei so etwas ein wenig Verständnis.

Ein verängstigter Schäferhund-Mix wird auf dem Pick-up verladen.
Ein verängstigter Schäferhund-Mix wird auf dem Pick-up verladen.

„Es gibt viele Gründe, warum die Leute ihre Tiere zurücklassen“, erklärt Tock. „Wir kennen die Vorgeschichte nicht, also urteilen wir auch nicht.“ Er berichtet von einem Erlebnis, als ein Mann in der Stadt Wowtschansk panisch zur Straße gerannt kam, nachdem sein Nachbarhaus beschossen wurde. „Er hatte nur das bei sich, was er trug“, erzählt Tock, „und sprang in das erste Auto, das ihn mitgenommen hat.“ Kurze Zeit später habe sich der Mann mit Nor Dog in Verbindung gesetzt, damit die Gruppe seinen Hund evakuiert und die beiden wieder vereint.

Ob das auch hier passieren wird? „Solche Happy Ends sind nur sehr selten“, erklärt Tock. Meistens, sagt er, interessieren sich die Menschen nicht wirklich. „Auch das gehört zur traurigen Wahrheit.“

Magie der Hundeflüsterin

Die Frau mit der Blumenbluse führt die Gruppe weiter. Die nächste Adresse ist ebenfalls in der Nekrasova Straße. Nur wenige Häuser weiter. Wieder bringt die Anwohnerin Bachurina in einen Hinterhof. Vorbei an einem zerstörten Unterstand für Brennholz. Davor prangt das Loch eines Granateneinschlags. Kein großes Kaliber, 60 bis 75 Millimeter vielleicht. Nicht mehr. Bachurina wird vorgewarnt: Dieser Hund ist aggressiv. Nur ganz kurz ist er zu sehen, bevor er sich in einem kleinen Schuppen versteckt.

Die Hundetrainerin lässt sich nicht einschüchtern. Schritt für Schritt. Langsam, aber mit dem Ziel vor Augen, nähert sie sich dem Schuppen. Der braun-schwarze deutsche Schäferhund bleckt die Zähne, das Knurren ist trotz der Geräuschkulisse des brennenden Stadtviertels deutlich zu hören. Bachurina zögert nicht. Steigt die drei Treppenstufen empor, das Zuzieh-Halsband in der einen, ein Leckerli in der anderen Hand. Kurz scheint alles still. Dann zieht die Frau mit den rot gefärbten Haaren und der Camouflage-Hose den widerspenstigen Hund aus der dunklen Ecke. Auf dem Weg zum Auto versucht das Tier hin und wieder, Bachurina anzugehen. Doch die lässt sich nicht beeindrucken. „Sie haben Angst“, wird sie später sagen. „Manche sind dann aggressiv, ich wäre es vielleicht auch.“

Zu wissen, wie ein Hund wann reagiert und daraufhin richtig zu handeln – im Umfeld der Organisation sprechen viele von „Svetas Dog Magic“. „Viele der Schüler von Pavel und Sveta meinen, dass sie diesbezüglich irgendeine göttliche Macht haben“, erklärt Tock. „Sie können Hunde in ihren Mikroexpressionen lesen und verstehen.“ Sowohl Bachurina als auch Pavel Khramtsov, der bei der heutigen Mission nicht dabei ist, wissen, dass das nicht der Fall ist. Keine Magie, keine Zauberei. „Sie haben das einfach gelernt, sind durch und durch Hundemenschen“, sagt Tock dazu. Er arbeite auch seit Jahren mit Hunden, sehe aber bei weitem nicht das, was sie sehen. Ist der Hund aggressiv? Hat er Angst? Will er das Territorium beschützen? Bachurina und Khramtsov hätten den Blick dafür. „Und deshalb sind sie unersetzbar.“

Svitlana Bachurina holt einen aggressiven Hund in einem zerstörten Hinterhof ab.
Svitlana Bachurina holt einen aggressiven Hund in einem zerstörten Hinterhof ab.

Mittlerweile ist der aggressive Schäferhund auf dem Pick-up verladen. Die Anwohnerin möchte die Gruppe noch zu einem weiteren Hund führen, der in einer anderen Straße lebt. Dieses Mal handelt es sich wohl um einen Straßenhund – was eher ungewöhnlich für Nor Dog ist, da sie sich auf Haustiere konzentrieren. „Straßenhunde – so hart es klingt – wissen besser, wie sie zurechtkommen“, erklärt Tock. Bei Haustieren sei das anders. Zudem sei die Vermittlungschance bei ihnen weitaus höher.

Trotzdem entschließt sich die Gruppe, den Hund zu überprüfen. In dem Auto ist für Hundetrainerin Svitlana Bachurina kein Platz mehr, daher steigt sie kurzerhand auf die Ladefläche des Tundras. Guttormsen presst das Gaspedal, es wirkt als würde der Pick-up durch die Straßen stolpern. Harte Bremsung. Gas. Fünf Meter. Vollbremsung. Hügel, schweben, Aufprall. Gas, Gas, Gas. Noel Tock schreit: „Sveta ist auf der Ladefläche!“ Keine Reaktion. Hügel, schweben, Aufprall. Gas, Gas, Vollbremsung. Svitlana krallt sich am Auto fest, schwankt. Brennende Häuser rauschen vorbei. Die Reifen wirbeln den Sand der Wege auf. Gas und wieder Gas – dann Stopp.

Hund zurückgelassen: „Kaum eine Chance, sie zu vermitteln“

Bachurina steigt ab, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, während Tocks Stirnfalten tiefer werden und sein Blick ernster wirkt. Doch es bleibt keine Zeit für Diskussionen. Die Tiere – wo sind sie?Unter einem verrosteten, von Unkraut überwucherten Traktor kläfft ein kleiner Hund, ein anderer rennt auf Bachurina zu und zeigt aggressives Verhalten. Sie schüttelt jedoch nur den Kopf. Die Anwohnerin führt sie in einen Schuppen. Noch ein Hund. Doch auch hier ein Kopfschütteln. Warum nimmt die Gruppe diese Hunde nicht mit? „Kaum eine Chance, sie zu vermitteln“, erklärt Tock knapp. Die Fahrt geht weiter. Im Wagen spricht der 43-Jährige darüber, wie schwer es fällt, solche Entscheidungen zu treffen. Doch es sei unmöglich, alle Tiere mitzunehmen. Besser, man nehme nur die mit, denen man wirklich eine Zukunft bieten könne.

Ein Mann hält einen Hund in die Kamera, während zwei Menschen in Schutzkleidung daneben stehen. Die trauernde Besitzerin des Hundes versucht weinend mit der Frau in schutzkleidung zu sprechen..
Svitlana Bachurina (l.) und Norel Tock (hinten) evakuieren einen Hund von der Frontstadt Kupjansk.

Verkohlte Häuser, Rauchschwaden wie Geister

Der letzte Stopp liegt auf dem Rückweg. Noch immer auf der östlichen Seite des Flusses, doch hier herrscht eine merkwürdige Ruhe. Ein alter Mann auf einem Fahrrad zeigt der Gruppe den Weg zum Haus einer alten Dame. Sie trägt ein rosa T-Shirt und hat kurzes graues Haar. Tränen rinnen über ihre Wangen, als sie die Helfer anfleht. Sie will bleiben, will das, was sie ihr Zuhause nennt, nicht verlassen. Trotz der Gefahr, trotz der Angst. Ihrem kleinen schwarzen Mischling mit der braunen Schnauze will sie jedoch ein besseres Leben ermöglichen. „Please help“, sagt sie immer wieder in gebrochenem Englisch. Bachurina beißt sich auf die Unterlippe, streicht der Frau über die Schulter. Schluchzen. Zittern. Bebende Stimme. „Please, please help.“

Und der Tundra rast das letzte Mal für diesen Tag über die sandigen Hügel von Kupjansk, doch das Gefühl von Erleichterung bleibt aus. Tock und Bachurina blicken aus den verstaubten Fenstern. Beobachten die verkohlten Häuser, die zerschossenen Reste von Fabrikhallen. In der Ferne schweben die Rauchwolken über der Stadt wie die Geister verlorener Seelen. Im Wagen ist es still. Nur die Schlaglöcher auf der Straße durchbrechen hin und wieder das Schweigen.

Wieder liegt eine Mission hinter ihnen. Wieder ein paar Hunde gerettet. Doch die nächste Tour wartet schon.

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