Wie der Ukrainekrieg die Welt verändert: Die Nebenkriegsschauplätze von Putins Angriffskrieg
Wer profitiert von Putins Angriffskrieg? Wer leidet besonders unter ihm? Welche Themen hat er verdrängt? In jeweils 100 Sekunden werfen die Weltreporter Schlaglichter auf das Weltereignis.
Der russische Angriff auf die Ukraine ist eine Zäsur. Der Krieg führt nicht nur in Europa zu Hunger, Vertreibung, Armut, sondern hat Folgen für die ganze Welt. In Hamburg berichteten vierzehn Korrespondent*innen des Netzwerkes Weltreporter.net, welche Folgen der Ukrainekrieg für ihr Berichtsgebiet hat.
Warum wird in Namibia verstärkt nach Öl gebohrt? Warum sind Polens Baustellen verwaist? Die Antwort lautet in beiden Fällen: wegen des Ukraine-Kriegs. Beim Reporterslam des Netzwerkes Weltreporter.net an der HAW Hamburg warfen Auslandskorrespondent*innen aus vierzehn Ländern Schlaglichter auf „ihre“ Berichtsgebiete. In jeweils hundert Sekunden gaben sie Antworten auf die großen Fragen: Was hat sich verändert? Welche Themen finden mehr, welche weniger Gehör? Wer profitiert, wer leidet ganz besonders unter ihm?
Für Weltreporter Paul Flückiger findet der Ukrainekrieg tatsächlich unmittelbar in der Nachbarschaft statt. Der Korrespondent berichtet aus Polen und reist seit Jahren regelmäßig in die Ukraine. Der Kriegsbeginn hat ihn in Lwiw überrascht, unvermittelt wurde der Journalist selbst zum Flüchtling. Seine Wahlheimat Polen beherbergt derzeit etwa 1, 3 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, überwiegend Frauen und Kinder. Darüber wird auch in deutschen Medien breit berichtet. Etwas weniger bekannt ist die Tatsache, dass viele Ukrainer Polen zu Kriegsbeginn in umgekehrter Richtung verlassen haben: Das Gros der Bauarbeiter, die in Polen arbeiten, stammt aus der Ukraine, ihre Baustellen stehen jetzt still. Viele von ihnen kämpfen jetzt als Soldaten – oder errichten um Kiew Notunterkünfte für Heimatlose errichte. „Diese Tatkraft zu beobachten und zu erleben, ist sehr schön und bewegend“, erzählte Flückiger.
Der Ukraine-Krieg und die „neue Weltordnung“
Es sind auch solche Geschichten, die zu einer weltweiten Solidarität mit der Ukraine geführt haben. Selbst in der Luxusbranche setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es ohne ein Bekenntnis zur Ukraine nicht geht. Das Balenciaga-Team ließ seine Models bei der Pariser Modewoche durch eine Schlammschlacht defilieren, berichtete Frankreich-Korrespondentin Barbara Markert. Und in San Francisco hängen blau-gelbe Fahnen aus den Fenstern. Auch wenn der Krieg selbst keine große Rolle im Alltag der US-Amerikanerinnen und Amerikaner spielt, könnte er auch dort die Weichen der Politik neu stellen. „Für die USA stellt sich die Frage, ob sie am Isolationismus des ‚America first‘ festhalten – oder wieder, wie es die Biden-Regierung will, mehr an der Weltgemeinschaft teilhaben wollen“, resümierte Christoph Drösser, Weltreporter in Kalifornien. Die Midterms sind vorbei, die Entscheidung darüber fällt bei den Präsidentschaftswahlen 2024.
Bei dieser Entscheidung geht es auch um den Umgang mit den sich abzeichnenden großen, geopolitischen Fragen. Es geht um eine „neue Weltordnung“. China-Korrespondent Fabian Kretschmer hat keinen Zweifel daran, dass Peking die Hegemonie des Westens aufbrechen will – mit Hilfe Russlands. China werde Russland daher nie fallen lassen, trotz der klaren Worte gegen die russische Nukleardrohung, trotz möglicher wirtschaftlicher Sanktionen.
Der Machtanspruch Chinas erstreckt sich auch auf den Inselstaat Taiwan, aus dem Weltreporter Klaus Bardenhagen berichtet. Durch den Ukraine-Krieg habe nun auch der Westen erkannt, wie ernst zu nehmen dieser Anspruch sei. Peking betrachtet Taiwan mit seinen gut 23 Millionen Einwohnern als Teil der Volksrepublik. Das Ziel der Regierung ist der Anschluss der Insel an das chinesische Staatsgebiet – notfalls auch mit militärischen Mitteln.
Klimakrise und der weltweite Hunger: Im medialen Hintertreffen
Während sich Expert*innen und Politik-Analysten über eine mögliche „neue Weltordnung“ die Köpfe heiß reden, sind andere Themen durch den Ukraine-Krieg ins mediale Hintertreffen geraten. Weltreporter Thomas Franke machte auf das fast vergessene Menschheitsverbrechen gegen die Krim-Tataren aufmerksam, die angestammte Bevölkerung der Krim, die bereits unter Stalin vertrieben, verfolgt, und ermordet wurde. Ihre Lage hat sich seit der Annektion 2014 dramatisch verschlechtert.
Global betrachtet, ist es vor allem die Klimakrise, die durch den Krieg von der medialen Agenda verdrängt wurde. Die Pariser Klimaziele[KZ1] können kaum noch erreicht werden und die Energiekrise spielt denen in die Hände, die mit fossilen Energien schnelles Geld machen wollen. Das Sonnenland Namibia im Südwesten Afrikas hat, befeuert vom Ukraine-Krieg, umstrittene Öl- und Gasförderungsprojekte aufgelegt. „Die lokale Bevölkerung wurde erst konsultiert, als die Probebohrungen schon begonnen hatten“, berichtete Afrika-Korrespondentin Leonie March, die das besonders betroffene Okavango-Delta besucht hat. Dabei spürt man die Auswirkungen der Klimakrise längst rund um den Globus, auch in Australien. Dort hat der dritte La-Niña-Sommer in Folge begonnen. Australien-Korrespondentin Julica Jungehülsing erzählte, dass Häuser und Geschäfte dort teils zum dritten Mal innerhalb von 18 Monaten unter Wasser stehen. Nur sehr zögerlich hat sich die Regierung zu einem Klimagesetz durchgerungen.
Zu den dramatischsten globalen Folgen des Ukrainekrieges zählt die Versorgungskrise. 828 Millionen Menschen, zehn Prozent der Weltbevölkerung, hungern. 50 Millionen Menschen sind direkt vom Hungertod bedroht, so UN-Korrespondent und Moderator Marc Engelhardt. Um die schlimmste Not zu lindern, reichten 24, 5 Milliarden Euro, „ein Viertel des deutschen ‚Wumms‘“. Doch die Gelder der internationalen Gemeinschaft fließen nur zögerlich.
Dabei haben Ernährungskrisen immer auch direkte politische Folgen. In Niger und Mali gewinnen islamistische Terrorgruppen an Einfluss, weil sie ihren Söldnern Lohn und Brot versprechen, berichtete Afrika-Expertin Bettina Rühl. „Die Versuchung, sich diesen Gruppen anzuschließen, wird wegen der steigenden Lebenshaltungskosten immer größer.“ Hunger, Angst vor Terror und Perspektivlosigkeit treiben mehr Menschen zur gefährlichen Flucht übers Mittelmeer. In Italien sind, so die in Rom ansässige Weltreporterin Michaela Namuth, bis Ende Mai bereits über 4000 registrierte Flüchtende mehr gelandet als im Vorjahr.
Die Profiteure des Kriegs
Auch Spanien machte mit Flüchtlingspolitik Schlagzeilen. Die Bilder von marokkanischen Grenzsoldaten, die in der Exklave Melilla auf am Boden liegende Migranten einprügelten, gingen um die Welt. Dabei gehört die iberische Halbinsel wegen ihrer geographischen Lage zu den Profiteuren des Krieges. Die Lage südlich der Pyrenäen zwang Spanien und Portugal zur Unabhängigkeit vom russischen Gas. Die in Madrid regierende Linkskoalition hat die politischen Handlungsspielräume genutzt, sich erfolgreich als künftigen Exporteur für erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff ins Gespräch gebracht und politische Konzepte wie Übergewinnsteuer oder Gaspreisdeckelung salonfähig gemacht. „Das schmeichelt dem spanischen Ego“, so Spanien-Korrespondentin Julia Macher. „Während der Finanzkrise musste sich das Land von der EU gängeln lassen, jetzt erteilt es selbst Lektionen.“
Auch Indonesien nutzt seine geopolitische Lage. Während sich, wie Weltreporter Wolf-Dieter Vogel hervorhob, in Lateinamerika die sozialistischen Regierungen in Kuba, Nicaragua, Venezuela auf die Seite Russlands stellen, gibt sich das südostasiatische Land neutral. Von der westlichen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, bot sich Präsident Joko Widodo im Juni als Vermittler zwischen den beiden Kriegsparteien an – und konnte damit vor allem im globalen Süden an Anerkennung gewinnen. Ausdrücklich hatte Widodo daher sowohl Putin als auch Selenskyi zum G20-Gipfel auf Balieingeladen. Der russische Staatschef schickt nun seinen Außenminister, Selenskyi nimmt virtuell teil. Eine direkte Konfrontation wurde vermieden, ohne einen den Beteiligten vor Kopf zu stoßen. „Das ist ganz im Sinne des indonesischen Harmoniebedürfnisses“, resümierte Weltreporterin Tina Schott.
Die Rolle der internationalen Institutionen
Prognosen über den Weiter- und Ausgang des Ukraine-Kriegs wagt niemand. Chancen auf Verhandlungen scheint es derzeit kaum zu geben, da sind sich die internationalen Beobachter einig. Kerstin Schweighöfer ist dennoch zuversichtlich, dass irgendwann die zivilgesellschaftlichen Kräfte sich durchsetzen. Die Korrespondentin in den Niederlanden lebt unweit des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag und ist sich sicher, dass sich eines Tages auch Putin vor dessen Tribunal verantworten muss. Sie kennt den Chefankläger Karim Khan und seine Beharrlichkeit. „Wer im Völkerrecht für Gerechtigkeit sorgen will, braucht die Mentalität eines Langstreckenläufers“, so Schweighöfer und erinnerte an die Jugoslawienkriege: Bis der bosnisch-serbische Politiker Radovan Kardadzic und sein General Mladic verhaftet wurden, vergingen dreizehn beziehungsweise 16 Jahre.