Westafrika: Gläubige Muslime klären auf über die selbst ernannten „Gotteskrieger“
Wie Muslime in Niger gegen religiösen Extremismus kämpfen
In einem der Stadtviertel von Agadez, einer Stadt im Norden der westafrikanischen Republik Niger, steht ein kleiner, sehr alter Lehmbau. Die hellgrün gestrichenen Türen weisen ihn als islamisches Bauwerk aus. Das Leben drumherum geht seinen gemächlichen Gang: Männer mit großen Schürzen bieten gegrilltes Ziegenfleisch an, gleich daneben werden Autos repariert, die Einzelteile liegen im rötlichen Staub der nicht asphaltierten Straßen. Außerdem gibt es Benzin in ehemaligen Wasserflaschen und Wasser in Kanistern. Vorbeter in der Moschee ist Mohamed Rissé, ein Mitt-Vierziger mit offenem Blick. „Ziehen Sie sich nur die Schuhe aus“, bittet er, und tritt dann zur Seite, um mir den Eingang in seinen Gebetsraum freizugeben – einer weißen Frau ohne Kopfbedeckung und in einer Hose. Der Boden der Moschee ist Teppichen ausgelegt. Ein paar Gläubige sind außerhalb der Gebetszeit gekommen, „sie hatten einen Trauerfall“, flüstert Rissé, jetzt sitzen sie schweigend da, in eigener Andacht. Der Imam stößt die Tür zum Hinterausgang auf, das helle Licht des Nachmittags flutet herein.
„Er war früher etwas extremistisch“, raunt mir Mohamed Husseini Namadeira zu, der Generalsekretär der „Religiösen Beobachtungsstelle für die Verhinderung und Bewältigung von Konflikten“ im Niger, der mich hierher begleitet hat. Namadeira ist ein schlanker Mann mit wachen, freundlichen Augen und einer Brille, die mich seine Gelehrsamkeit unmittelbar glauben lässt. Imam Rissé hat die Bemerkung trotz der gesenkten Stimme gehört. „Setzen Sie sich doch“, sagt er zu uns. Und ergänzt, nachdem ich es mir auf dem Teppich bequem gemacht habe: „Ja, das stimmt. Ich war etwas extremistisch. Ich war Wahhabit.“ Also Anhänger einer sehr puristischen und traditionalistischen Richtung des sunnitischen Islam, in der alle Glaubensrichtungen, die nicht mit dieser „reinen“ Lehre vereinbar seien, als unislamisch abgelehnt werden. Die meisten Wahhabiten leben in Saudi-Arabien, dort wird diese Glaubensrichtung als Staatsreligion gefördert. Aber auch in Katar ist der Wahhabismus verbreitet, und zunehmend auch in Westafrika. Das radikal-islamische Netzwerk Al-Qaida steht den Wahhabiten nahe. Der traditionelle Glaube im Niger ist mit diesem puristischen Islamverständnis unvereinbar, weil er viele Element des Sufismus enthält, die Wahhabiten strikt ablehnen – die Verehrung von Heiligen zum Beispiel, oder Wallfahrten zu Gräbern.
Dagegen hat auch Mohamed Rissé mit Eifer gepredigt, gut 15 Jahre ist das her. Jetzt trägt er ein knallig pinkfarbenes Gewand, einen so genannten Boubou, und hat ein weißes Tuch um Kopf und Hals gewickelt. Das Gesicht hat er frei gelassen, anders als die Tuareg, zu deren Volk er gehört, das meist in mehr oder weniger formellen Situationen machen. Über seinen Glauben redet er mit mir gerne, aber ohne mich unter Druck zu setzen, damit ich seine Meinung übernehme. Bevor er sich den Wahhabiten anschloss, hatte er schon alles Mögliche ausprobiert: war bei Katholiken und Protestanten, dann bei den Zeugen Jehovas. Das alles sind sehr kleine Minderheiten im Niger, wo 94 Prozent der Menschen Muslime sind. Später wurde er Mitglied der islamischen Sufi-Bruderschaft Tijaniyya, und als die Wahhabiten in die Region Agadez kamen, ging er zu ihnen. „Ich war jung“, sagt er, und auf der Suche. Mit der Zeit habe er aber begriffen, „dass es in dieser Religion keine Toleranz gibt“.
Islam ist eine Religion des Friedens
Deshalb ist er heute davon überzeugt, dass das nicht der Glaube sein könne, den Prophet Mohamed gelehrt habe. „Denn der Prophet hat keine Gewalt gepredigt.“ Aus diesem Grund habe er sich nach zwei Jahren von den Wahhabiten zurückgezogen und zum traditionellen sunnitischen Islam im Niger zurückgefunden. Dass ihn zwischenzeitlich Mitglieder der „Religiösen Beobachtungsstelle für die Verhinderung und Bewältigung von Konflikten“ kontaktiert und mit ihm geredet hatten, förderte seinen Entschluss, sich vom Wahhabismus abzuwenden. Dass sie von Toleranz und Frieden redeten, kam seinen eigenen Vorstellungen offenbar entgegen: „Alle Religionen, die ich bis dahin gelehrt hatte, predigen den Frieden. Das tut auch der Islam.“ Inzwischen ist der Imam davon überzeugt, dass Toleranz ein zentraler Baustein des Islam sei, „und zwar gegenüber anderen Muslimen und gegenüber nicht-Muslimen“.
Allerdings wenden sich immer mehr Menschen im Niger den Wahhabiten zu, warnt Imam Liman Ahar Fidjaji, der Leiter der „Religiösen Beobachtungsstelle für die Verhinderung und Bewältigung von Konflikten“. Er sitzt in seinem kleinen Büro, auf dem Besucher-Sofa, das wie der Schreibtisch voller Papiere und Dokumente ist. Auch er gehört zum Volk der Tuareg und traditionell gekleidet. Sein weißes, bodenlanges Gewand fällt üppig, die Fülle des edlen, weißen Stoffs ist Hinweis auf seine gehobene Stellung. Imam Fidjaji hält sein Handy in den Raum hinein, damit ich gut hören kann, was er abspielt. Natürlich verstehe ich kein Wort, was nicht am Krächzen und Scheppern liegt, sondern an der mir fremden Sprache Hausa. „Das ist einer unserer Prediger“, sagt Imam Fidjaji. Der erkläre gerade den Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten, erläutere die Konflikte zwischen den beiden islamischen Glaubensgemeinschaften. „Er ruft sie dazu auf, friedlich zu bleiben.“ Zwar gebe es zwischen ihnen einige Unterschiede, aber „für Hass keinen Grund“. Schließlich trennten sie nur unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer Prophet Mohameds legitime Nachfolger seien.
Aufklärung über islamistische Gruppen
Imam Fidjaji ist Sunnit, wie fast alle Muslime im Niger. In anderen Ländern führen die unterschiedlichen Vorstellungen von Sunniten und Schiiten immer wieder zu blutigen Konflikten. Der Imam will mit seinem Predigt-Beispiel demonstrieren, wie die Mitglieder der „Religiösen Beobachtungsstelle gegen religiösen Extremismus und religiöse Konflikte“ arbeiten: in erster Linie mit Predigten, die aufklären und für Frieden werben, statt Hass zu schüren. Live in den Moscheen und über lokale Radiosender. Gezielte Hausbesuche bei Menschen, die sie für gefährdet halten, oder Gespräche mit deren Eltern finden nur auf gezielte Bitte statt, oder „wenn uns das im Einzelfall geboten scheint“. Bevor er mit den Ausschnitt aus der Predigt vorspielen konnte, hatte Imam Fidjaji auf seinem Handy einige Minuten lang vergeblich nach einem lokalen Sender gesucht. „Stromausfall“, war schließlich sein Fazit. „In ganz Agadez.“ Die Radiostationen können deshalb nicht senden. Mit so banalen Schwierigkeiten müssen die Mitglieder der Beobachtungsstelle häufig kämpfen. Trotzdem ist die Institution seit ihrer Gründung im Jahr 2006 enorm gewachsen und inzwischen nicht nur in der Region Agadez aktiv, sondern landesweit.
Ihre Arbeit ist immer wichtiger geworden: Der Sahel-Staat Niger ist von Ländern umgeben, in denen radikale Islamisten an Boden gewinnen: Libyen, Mali, Nigeria, Burkina Faso. Auch im Niger werden radikale und gewaltbereite Islamisten immer häufiger aktiv, allerdings kommen sie bisher noch meist aus dem benachbarten Ausland und operieren vor allem in den Grenzregionen. Unter dem Druck der Terrorgruppe Boko Haram, die vor allem im Nordosten des Nachbarlandes Nigeria operiert, mussten auch im Niger schon hunderte Schulen schließen. Auch die Grenze nach Mali oder Libyen ist für radikalen Islamisten porös. Vor allem im Süden, an der Grenze zu Nigeria, wird die Bevölkerung zunehmend von islamischen Extremisten terrorisiert, Menschen werden gekidnappt und getötet. Das, wovon die Menschen im Niger früher nur in Auslandssendern wie der Deutschen Welle, der britischen BBC oder dem französischen RFI hörten, ist für hunderttausende zu einer konkreten Gefahr geworden.
Gläubige haben Angst
„Wir haben Angst“, sagt Imam Rissé, der früher selbst Wahhabit war. „Weil die Länder um uns herum von Konflikten zerrissen werden.“ Wie Mali oder Nigeria. Und weil die Welle der Gewalt den Süden des Niger schon erreicht hat. „Aber hier in Agadez ist noch Frieden“, sagt er, wie um nun mich zu beruhigen. „Hier kannst du noch überall hingehen, wo du willst.“ Andernorts haben Terrorgruppen wie Al-Qaida im islamischen Maghreboder Boko Haramdie Entführung von Ausländern und das Erpressen von Lösegeld zu einer wichtigen Einnahmequelle gemacht. Imam Rissé und Imam Fadjaji sind davon überzeugt, dass die relative Ruhe in Agadez und anderswo im Niger an ihrer langjährigen Aufklärungsarbeit liegt. Sie haben ein Sprichwort der Tuareg beherzigt: „Wenn der Bart deines Nachbarn brennt, befeuchte deinen eigenen.“ Ob die Menge an Wasser reicht, muss sich zeigen.
Die Idee, sich extremistischen Ideen entgegen zu stellen, hatten die ersten geistlichen Führer in der Region Agadez schon 2000. Damals hätten sie im Radio immer häufiger von Terroranschlägen und Gewalttaten im Namen des Islam gehört, erzählt Imam Fidjaji. Obwohl die Probleme damals noch weit weg waren, hatten einige islamische Geistliche im Niger den Eindruck, handeln zu müssen. „Die Gewalt hat unsere Aufmerksamkeit erregt“, erinnert sich Imam Fidjadji. „Weil wir wissen, dass es im wahren Islam keine Gewalt gibt.“ Um den Ideen entgegen zu treten, die sie bis heute für zutiefst falsch halten, fingen die islamischen Vereinigungen in der Region Agadez ab dem Jahr 2000 an, sich zu organisieren. Sie gingen auch auf die Koranschulen zu, weil dort die Grundlagen des Glaubens gelegt werden. 2006 gründeten sich schließlich die „Religiöse Beobachtungsstelle“, zu der in der Region Agadez mittlerweile alle 23 islamischen Vereinigungen gehören, und außerdem fünf christliche Gemeinschaften. Die meisten davon seien Katholiken, sagt Imam Fidjaji, eingewandert aus dem teils christlichen Nachbarland Nigeria. „Jeder ist frei, die Religion seiner Wahl auszuüben“, unterstreicht er. „Das sagen die grundlegenden Texte des Islam.“ Mit den Christen würden sie vor allem in humanitären Fragen immer gut zusammenarbeiten, einander und die Bevölkerung im Notfall auch finanziell unterstützen.
Gläubige predigen für Bildung
Welten liegen zwischen diesem Islamverständnis und dem, was islamistische Terrorgruppen in den Nachbarländern predigen. Zum Beispiel Boko Haram, die im Nordosten des Nachbarlandes Nigeria, in Kamerun, Burkina Faso und mittlerweile auch mit Überfällen und Entführungen im Süden des Niger Schrecken verbreitet. Der Name bedeutet in etwa „westliche Bildung ist verboten“. Die Gruppe setzt sich für die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, in ganz Nigeria ein, und für das Verbot westlicher Bildung. Sie ist dafür bekannt, Christen zu töten, ebenso wie Muslime, die sie nicht unterstützen. Solche Vorstellungen und der Wahhabismus breiten sich im Niger aus, warnt der Imam. Den Grund sieht er vor allem in Geld aus Saudi Arabien, Katar und Kuweit. „Sie finanzieren den Bau von Koranschulen und Moscheen. Für die Leute hier ist das ein gutes Geschäft, sie gehen dahin, wo sie am meisten kriegen.“ Wer genau die Geldgeber sind, weiß er allerdings nicht.
Zahlungen aus dem arabischen Ausland, die in den Bau von Moscheen, Koranschulen fließen, hält auch Mano Aghali für den zentralen Grund dafür, dass extremistische Ideen um sich greifen. Der Mitt-Fünfziger ist ein charismatischer und humorvoller Mann aus dem Volk der Tuareg, der mit mir und nigrischen Frauen völlig unverkrampft umgeht. Gleichzeitig ist der traditionelle Islam für ihn ein wichtiger Pfeiler seines Lebens, wenn er irgend kann, nimmt er sich regelmäßig Zeit fürs Gebet. Aghali wurde in einer Oase im Aïr-Gebirge geboren, der Bergregion rund um Agadez. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, sein Geburtsdatum und sein Geburtsort sind nur näherungsweise bekannt: „Etwa am 1. Januar 1966 in der Gegend von Timia“, steht in seiner Geburtsurkunde. Das Aïr-Gebirge war immer abgelegen, vernachlässigt, widerständig, es war das Herz der Tuareg-Aufstände in den 90er Jahren. Und ist eine zutiefst gläubige Region. „In Agadez und im Aïr-Gebirge haben wir Moscheen, die sehr alt sind“, betont Aghali.
Islam seit Jahrhunderten verwurzelt
Und will damit sagen, dass die Muslime im Niger niemanden brauchen, der von außen kommt und ihnen den Islam erklärt, weil der schon seit Jahrhunderten hier verwurzelt ist. Aghali ist Mitbegründer und Leiter der nigrischen Hilfsorganisation HED Tamat, die seit 2011 die „Religiöse Beobachtungsstelle“ mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt. Auch ihm machen die Entwicklungen in seiner Heimat Angst. „Das ist eine reale Gefahr“, sagt er ernst. „Wir beobachten das jeden Tag: die Verbote. Die radikale Praxis – das findet mehr und mehr Anhänger“. Anzeichen seien die Kleidung: Wahhabiten tragen Hosen, die nur bis zu Knöcheln reichen. Und die Frauen bedecken ihr Gesicht, was sonst bei den Tuareg die Männer tun, aber nicht die Frauen. Aghali beklagt die wachsende „Unerbittlichkeit der Regeln“, die er beobachte, „vor allem gegenüber Frauen“. Diese vermeintlich puritanische Auslegung des Islam beginne, „die traditionellen Praktiken und sogar die Kultur in unserer Region zu verändern“.
Umgang mit den Frauen entscheidend
Imam Fidjaji sieht im Umgang mit den Frauen ebenfalls ein wichtiges Symptom. „In unserer Kultur begrüßen Männer auch Frauen, geben ihnen die Hand“, sagt er. „Bei uns ist das kein Problem.“ Beim Islam gehe es schließlich um den Glauben. Und nicht darum, ob man die Hand einer Frau berührt oder nicht. „Anders ist das, wenn man sich dabei bestimmte Dinge vorstellt. Erst in diesem Moment begeht man eine Sünde.“ Imam Fidjaji ist davon überzeugt, dass der Islam keine Tabus kenne. So stehe schon im Koran von Menschen des dritten Geschlechts geschrieben. In einer der Predigten, die die „Religiöse Beobachtungsstelle“ vorproduziert hat, geht es um die Frage der Erbregeln für Menschen des dritten Geschlechts. Im Islam erben Männer und Frauen unterschiedlich viel, Menschen des dritten Geschlechts sollten entsprechend dem Geschlecht erben, das bei ihnen dominiere. An dieser Stelle wirft Mohamed Husseini Namadeira ein, der Generalsekretär der Beobachtungsstelle, dass es im Niger auch Theologinnen gebe, die Mourchidat. Sie dürfen dieselben religiösen Funktionen ausüben wie ein Iman, nur keine Gebete leiten. Namadeira sieht darin eine große Errungenschaft, aber auch etwas, was er im Grunde für so selbstverständlich hält, dass es keine Erwähnung verdient hätte. Das ändert sich erst jetzt, mit der heraufziehenden Gefahr des islamischen Extremismus.
Religiöse Beobachtungsstelle will Anfängen wehren
Um die Umtriebe radikaler Gruppen schon im Ansatz zu verhindern, arbeitet die „Religiöse Beobachtungsstelle“ auch mit den staatlichen Behörden und den traditionellen Autoritäten zusammen, also beispielsweise dem Sultan des Air-Gebirges, der auch als religiöses Oberhaupt gilt. Sie sind auch mit allen wahhabitischen Moscheen in Kontakt, verhindern deren Isolation und das Abtauchen in den Untergrund. Bisher konnten sie in der Region Agadez noch alle radikalen Tendenzen entschärfen. Während unseres Gesprächs hat sich Imam Fidjaji die ganze Zeit an den Perlen seiner Gebetskette vorwärts getastet. Jetzt lacht er auf die Frage, wie er die Zukunft sieht. „Trotz allem“, sagt der Imam, „bin ich für den Niger optimistisch“.