Riffreporter diese Woche: Sommerliche Schnecken-Apokalypse

Eine Frau lächelt in die Kamera. Dazu der Text: "Was diese Woche wichtig ist - der Newsletter der RiffReporter-AutorInnen. Diesmal von Susanne Wedlich, RiffReporterin für Dark Biology.
Susanne Wedlich ist RiffReporterin

Liebe Leserinnen, liebe Leser

dieser Sommer lässt mich an eine Zeit denken, die einigermaßen lang zurückliegt: meine Teenagerjahre. Ich bin zwar weder frisch verliebt noch kann ich ganze Nachmittage im Freibad abhängen. Dafür fühle ich mich wieder so richtig unverstanden. Das hat mit einer ungewöhnlichen Vorliebe zu tun: Ich finde Schnecken einfach genial.

Was in dieser Woche wichtig ist …

…bewegt vielleicht nicht die Welt, treibt aber Gärtnerinnen und Gärtner in die Verzweiflung. Der Sommer ist warm und regenreich, und das weiß vor allem eine Kreatur mit Hang zu feuchten Lebensräumen zu schätzen: die Schnecke. Die Schleimer treten in unfassbaren Mengen auf und raspeln über Nacht ganze Gemüsebeete kahl. Klar, Gärtnern ist immer auch ein Kampf gegen die Biester, aber in diesem Jahr scheint jeder Widerstand zwecklos. „Wir haben ja lange eine einigermaßen akzeptable Koexistenz geführt“, schrieb mir neulich eine Riff-Kollegin über ihren Schneckensommer. „Aber dieses Jahr läuft das komplett aus dem Ruder: Salat, Kürbis, Gurken, Erdbeeren, Sonnenblumen, Margeriten – sie nehmen sich einfach alles!“

Warum wir uns dafür interessieren müssen

Die Schnecken-Apokalypse steht für größere Probleme: Die Natur gerät aus den Fugen – und wir leisten uns einen Tunnelblick in puncto Biodiversität. Ganz grundsätzlich sind Schnecken ein wichtiger Bestandteil von Nahrungsnetzen und Ökosystemen. Vögel, Kröten und Igel brauchen sie als Beute. Außerdem räumen die gierigen Allesfresser in der Natur auf und recyceln organisches Material. Irgendeiner muss es ja machen. Der eine oder andere Schneckensommer bei feuchter Witterung ist ganz normal. Aber die diesjährige Plage hat viel mit einer eingeschleppten Art zu tun. Die Spanische oder Große Wegschnecke Arion vulgaris kann sich so schnell und erfolgreich ausbreiten, dass sie auch heimische Arten verdrängt.

Und weil sie so viel mehr Schleim produziert als andere Nacktschnecken, machen potenzielle Fressfeinde wegen der Erstickungsgefahr einen Bogen um sie. Wir sollten also nicht jede Schnecke gleichermaßen verteufeln. Im Gegenteil. Hübsche Vögel und kuschelige Säugetiere machen nur wenige Prozent aller Tierarten aus. Die große Mehrheit besteht aus Schleimern, Krabblern und Schmarotzern. Die Natur und unser Überleben hängen von dieser Dark Biology ab. Damit meine ich all die Tiere, die wir widerlich finden oder fürchten. Die wir teilweise so wenig kennen, dass kaum auffällt, wenn sie wegen der Klimakrise und Umweltzerstörung gefährdet sind. Erst wenn sie mit all ihren wichtigen Ökofunktionen fehlen, werden wir aufmerksam.

Was mich dabei persönlich beschäftigt

Ein Zeitschriftenartikel über Schnecken hat mich vor Jahren zu einem Thema gebracht, über das ich viel schreibe und sogar ein Buch publiziert habe: Schleim. Keine Frage, das Zeug ist eklig. Aber eben auch ein außerordentlich komplexes, wenn auch immer noch unterschätztes Biomaterial, das uns viele wichtige Anwendungen liefern könnte. Kein Lebewesen, auch wir nicht, könnte ohne Schleim überleben – und Schnecken sind hier besonders kreativ. So können Männchen auf Freiersfuß fremde Schleimspuren wie Kontaktanzeigen lesen: Kroch hier ein gesundes und attraktives Weibchen der passenden Spezies? Wenn ja: Muss er nach links oder rechts folgen?

Mehr noch: Die Rosige Wolfsschnecke (Euglandina rosea) hat ihre ausladende Oberlippe zum Schleimscanner ausgebaut. Damit kann sie bei Schleimspuren unterscheiden, ob hier ein potenzieller Paarungspartner oder eine appetitliche Beuteschnecke vorbeikam. Die Große Eulen-Napfschnecke (Lottia gigantea) wiederum züchtet auf ihrem eigenen Schleim nahrhafte Algen. Die sie mit Hauskantenschlägen gegen gierige Artgenossen verteidigt. Auch Schnecken müssen ihre Schrebergärten vor Schneckenfraß schützen. Ich finde solche Schleimgeschichten spannend und wundere mich oft, dass ich mit dieser Faszination meist allein auf weiter Flur stehe. Viele Menschen nehmen die Natur verzerrt wahr, weil sie sich ekeln.

Was als Nächstes passieren muss

Leider scheint es keinen wirklich treffsicheren Geheimtipp zur Bekämpfung der Schneckenplage zu geben. Schneckenkorn gefährdet harmlose Arten und Fressfeinde wie den Igel. Salz schadet dem Boden und viele der angepriesenen Hausmittelchen helfen dann doch nur begrenzt. Wer die Tiere loswerden möchte, muss sie einsammeln. Hier kann ich zumindest anekdotisch berichten, dass in meinem Garten Brotteig Wunder wirkt. Es kommt nicht aufs Rezept an, aber die Hefe muss kräftig gären. Der Geruch scheint unwiderstehlich zu sein: Bei meinem Testlauf hat er an einem trockenen Tag trotz Mittagshitze einen Zeitlupen-Ansturm von Nacktschnecken ausgelöst.

Was bei mir verhaltene Freude ausgelöst hat: Was machen mit der glitschigen Masse? Wer die Schnecken in den nächsten Wald bringt, stört das Ökosystem dort. Wer die Tiere salzt, verdammt sie zu einem qualvollen Tod durch Austrocknung und chemische Verbrennung. Es bleibt nur eins: mit scharfer Schere durchschneiden. Oder die Waffen strecken und auf einen weniger nassen Sommer im nächsten Jahr hoffen.Und die Zeit nutzen, sich näher mit dem ungeliebten Viehzeug und seinen faszinierenden Überlebensstrategien zu beschäftigen. Ich verspreche, Sie werden die Natur mit ganz neuen Augen sehen.

Herzlich grüßt

Susanne Wedlich

Mehr zur Autorin

Susanne Wedlich schreibt für uns seit Jahren zur Natur- und Kulturgeschichte der Dark Biology.

eine Frau mit Brille und einem Schal [AI]

Susanne Wedlich

Freie Journalistin, Buchautorin, Rednerin

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