Verlorenes Paradies: Die Angst der Tiere entfremdet uns Menschen von der Natur

Der Mensch jagt Tiere und rottet sie aus. Friedfertige Begegnungen zwischen Mensch und Wildtier werden immer seltener. Sind Schritte hin zu einer Versöhnung möglich? Ja, meint der Philosoph Jens Soentgen.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
9 Minuten
Ein Öl-Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren und Peter Paul Rubens. Es zeigt das irdische Paradies mit mit vielen Tieren und den Sündenfall von Adam und Eva,

„Ich halte die Mythe vom Paradiese und der ehemals herrschenden Eintracht unter seiner Tierwelt nicht für unwahr.“

Dies schreibt vor über 100 Jahren der deutsche Fotograf, Grosswildjäger und Pionier des Naturschutzes Carl Georg Schillings. Er beruft sich auf Erzählungen „glaubwürdigster Männer“, die nach Expeditionen in den hohen Norden von „ausnehmend klugen“ Seelöwen, Robben und Rentieren berichteten. Diese seien „nicht einen Zoll“ vor ihnen zurückgewichen und hätten „keine Spur von Angst“ gezeigt.

Nicht nur in den Polargebieten sei dies der Fall gewesen. Dieses angstfreie Verhalten habe „vor der beginnenden Suprematie des homo sapiens für unseren gesamten Planeten gegolten“.

Auf diese historischen Schilderungen beruft sich der Philosoph und Chemiker Jens Soentgen. Für ihn sind sie Beleg dafür, dass wir Menschen ein anderes Verhältnis zu Wildtieren haben können. Eines, das nicht durch die Todesangst der Tiere geprägt ist.

„Ökologie der Angst“

„Wenn der Mensch der Hyper-Feind der Wildtiere bleibt, dann kommt es zu keinen Begegnungen mehr. Die Entfremdung zwischen Mensch und Natur wird weiter zunehmen“, sagt Soentgen in seinem Büro an der Universität Augsburg, wo er das „Wissenschaftszentrum Umwelt“ leitet. Soentgen beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit einer „Ökologie der Angst“. Sein Buch zum Thema ist 2018 erschienen.

Angst ist nichts grundsätzlich Schlechtes, sondern ein biologisches Urphänomen und lebensnotwendig. Wildtiere müssen stets wachsam sein, um überleben zu können. Die Angst, Opfer eines Beutegreifers zu werden, bestimmt ihren Alltag. Sie meiden Orte, an denen sie Gefahr laufen, attackiert und gefressen zu werden. Oder sie legen ihre Aktivitäten in Tageszeiten, in denen ihre Feinde schlafen oder ruhen. Viele Vogelarten ziehen während der Nacht, um nicht in die Fänge von Greifvögeln zu geraten.

Der Mensch: der zentrale Feind der meisten Organismen

Angst gehört zur Natur. Das Problem, so Soentgen, sei aber, dass die Angst der bestimmende Faktor im Verhalten der Wildtiere gegenüber dem Menschen geworden ist: „Der Mensch ist das herrschende Tier auf diesem Planeten und der zentrale Feind der meisten Organismen.“

Zeugnis davon legen nicht nur die Jagdstatistiken ab, sondern eine Vielzahl noch gravierender Eingriffe in die Natur: die Zerstörung von Lebensräumen durch Abholzung oder Entwässerung, die Überfischung und Verschmutzung der Meere, der Klimawandel und seine Folgen. Heutzutage sterben durch menschliches Einwirken hundert- bis tausendmal mehr Arten aus, als dies natürlicherweise der Fall wäre.

Die meisten wildlebenden Wirbeltiere haben nicht nur gelegentlich Angst vor dem Menschen. Die Angst sei vielmehr zu einem chronischen Zustand geworden, sagt Soentgen. Er zitiert den 1992 verstorbenen Schweizer Zoologen Heini Hediger, der die Angst als die bestimmende Emotion von Wildtieren bezeichnete. Hediger war der Auffassung, dass die Flucht bei Wildtieren „diejenige Lebensäusserung“ sei, „welche der Mensch am allerehesten zu beobachten Gelegenheit findet“. Und er schrieb: „Man darf daher sagen, dass der Mensch mit seiner weltweiten Verbreitung und seinen fernwirkenden Waffen sozusagen als Universalfeind im Brennpunkt der tierlichen Fluchtreaktion steht.“

Herbstlicher Wald bei Zürich.
Ein schöner Wald, aber wo sind die Wildtiere?

Aufgrund jahrhundertelanger Verfolgung seien Menschen für viele Tiere „das Furchtbarste überhaupt“ geworden, meint Soentgen. Zu den besonders bedrohten und entsprechend scheuen Tieren zählen etwa Zugvögel, von denen Jäger im Mittelmeerraum jährlich rund 25 Millionen töten.

Die Menschen haben eine „Geografie der Angst“ geschaffen, mit der Folge, dass sich die Fluchtdistanz zwischen Mensch und Wildtier ständig vergrössert hat. Die vom Menschen verbreitete Angst schadet in erster Linie natürlich den Tieren selbst, die durch den chronischen Stress weniger Nahrung zu sich nehmen und weniger Junge zur Welt bringen. Tiere, die in Dauerangst vor Menschen lebten, zeigten sich ihm nicht, sagt Soentgen.

Zutrauliche Stadttiere

Zum Glück ändern die meisten Tiere ihr Verhalten, wenn der Jagddruck nachlässt oder ganz ausbleibt. Das lässt sich in Städten beobachten. Dort sind die Tiere wie Enten oder Füchse an den Menschen gewöhnt und verhalten sich weniger scheu. Doch Stadttiere bilden, was Individuen- und Artenzahl angeht, nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der globalen Fauna. Insgesamt, so Soentgen, würden die Begegnungen mit Wildtieren immer seltener. Die Folge: Der Graben zwischen Mensch und Natur vertieft sich weiter.

Besteht die Chance, diese Feindschaft aufzuheben? Wenn Menschen irgendwann aufhören, Wildtieren nachzustellen – werden sie uns dann wieder angstfrei begegnen wie in der paradiesischen Schilderung aus dem hohen Norden? Kann es zur Versöhnung mit der Natur kommen?

Jens Soentgen hält das für utopisch. Zu sehr habe der Mensch bereits das Steuer übernommen, zu viele Arten habe er bereits ausgerottet oder an den Rand des Aussterbens gebracht. Fatalistisch ist Soentgen dennoch nicht: Schritte hin zur Versöhnung seien möglich.

Es braucht gesetzliche Regelungen zur Angstminimierung

Dazu sei es dringend notwendig, Tiere insgesamt achtsamer und schonender zu behandeln. Was sich etwa in der Gesetzgebung niederschlagen könnte. Zwar ist Tierquälerei in Deutschland und der Schweiz unter Strafe gestellt, eine ähnliche gesetzliche Regelung zur Angstminimierung gibt es hingegen nicht. Verbindliche Gesetze gegen die „die erschreckende und oft tödliche Aggression“ der Menschen gegenüber den Wildtieren erachtet Soentgen daher als notwendig.

Doch um Wirkung zu entfalten, müssten solche Gesetze von einer veränderten Haltung gegenüber den Wildtieren getragen werden. Wenn Menschen Tiere lediglich als Störung oder Gefahr wahrnehmen oder sich ihnen gegenüber gleichgültig oder ahnungslos verhalten, wird sich kaum etwas ändern.

Tiere, die singen, ergreifen die Herzen der Menschen

Es gibt Beispiele aus der jüngeren Geschichte, die beweisen, dass Menschen ein neues, weniger von der Angst geprägtes Verhältnis zu Wildtieren gewinnen können. Ein solches Beispiel ist für Soentgen der Wal. Noch im 19. Jahrhundert galt er als Inbegriff des Bösen – man denke an den Roman „Moby Dick“ von Herman Melville, in dem Kapitän Ahab über hunderte von Seiten hasserfüllt einem weissen Pottwal nachstellt. Die Menschen verfolgten die Wale mit brutalsten Waffen wie Harpunen, die im Körper der Tiere explodierten, und brachten sie an den Rand der Ausrottung.

Nicht mehr nur Ressource, sondern Subjekt

Doch die Wende von der „Bestie“ zum „freundlichen Riesen“ gelang, als die Menschen in den Walen nicht mehr nur eine Ressource sahen, die ausgebeutet werden muss, sondern Subjekte, die viele Eigenschaften mit den Menschen teilen – etwa soziales Verhalten, Intelligenz und, im Fall des Wals besonders bedeutsam: Musikalität.

In den 1970er Jahren wurden Aufnahmen von Walgesängen zum Kassenschlager. Das Album „Songs of the Humpback Whale“ des Bioakustikers Roger Payne verkaufte sich über 125.000 mal. Es ist die erfolgreichste akustische Naturaufnahme aller Zeiten.

„Tiere, die singen, ergreifen die Herzen der Menschen“, schreibt Soentgen. Die Menschen liessen sich vom Leben und Leiden der Wale berühren, das Meeresbiologinnen und -biologen erforscht haben. Das gewandelte Verhältnis zum Wal trug dazu bei, dass 1986 der kommerzielle Walfang verboten wurde (auch wenn Island, Norwegen und Japan weiterhin einige Walarten jagen). Heute führen ehemalige Walfangboote Touristen hinaus aufs Meer, um die Meeressäuger von nahe zu beobachten.

Ein Plakat von Wolfsgegner in einem Dorf. Auf dem Plakat steht: "In dieser Region wütet der Wolf. Fühlst du dich sicher? Wir nicht!!"
Wolfsgegner schüren mit Plakaten die Angst vor dem Wolf, hier in Churwalden (Schweiz).

Taugt das Beispiel des Wals als Vorbild für die Lösung eines anderen, aktuellen Konflikts? Die Rückkehr des Wolfs nach Mittel- und Westeuropa sorgt zurzeit für viel böses Blut. Von Naturschützerinnen und -schützern willkommen geheissen als Teil eines gesunden Ökosystems, stösst er bei vielen Bäuerinnen und Bauern auf heftige Ablehnung. Sie sehen sich gezwungen, ihre Herden mit Zäunen und Hunden zu schützen, und fordern starke Regulierungsmassnahmen gegen den gesetzlich geschützten Wolf. Im Klartext: gezielte Abschüsse.

Doch nicht nur das: Im Zuge des Konflikts werden auch alte Ängste neu angefacht. Die Furcht vor dem Wolf, der die Menschen angreift, geht wieder um. In den Schweizer Berggebieten etwa warnen grossformatige Plakate vor dem gefährlichen Wildtier.

Wenn wir Wildtiere bei uns einbürgern, dann wildern wir uns Menschen selbst auch ein Stück weit aus.

Kann es in einer derart aufgeheizten Situation zu einer versöhnlichen Annäherung zwischen Mensch und Wolf kommen? Die Antwort von Jens Soentgen: Der Wolf werde in unseren Gegenden wohl immer umstritten sein, auch wenn von ihm faktisch keine Gefahr für den Menschen ausgeht: „Unser Bild des Wolfes ist durch die Märchen der Gebrüder Grimm, in denen der Wolf das Böse und Verschlagene verkörpert, kulturell tief geprägt. Doch wenn wir Wildtiere wie den Wolf wieder bei uns einbürgern, was ich begrüsse, dann wildern wir uns Menschen selbst auch ein Stück weit wieder aus.“

Ein solcher Prozess der bewussten Selbst-Verwilderung löse natürlich politische Grundsatzdebatten aus. Das sei auch unumgänglich, schliesslich berühre die Rückkehr von potenziell gefährlichen Wildtieren wie dem Wolf das Selbstverständnis unserer Gesellschaft berühre: „Wir müssen uns fragen: Wollen wir eine Gesellschaft sein, in der der Wolf lebt?“

Jens Soentgen ist trotz der vielstimmigen Kritik an der Wiedereinbürgerung des Wolfs zuversichtlich, dass diese Frage mehrheitlich bejaht wird. Und zitiert dabei ein Beispiel aus jüngster Zeit. „Noch vor 50 Jahren sagten viele Menschen, die sogenannten Raubvögel hätten hier nichts verloren. Heute hat sich das geändert. Heute sind die meisten froh, wenn sie Greifvögeln begegnen.“ Ein gutes Beispiel dafür ist der Bartgeier, der einst als „Kinderfresser“ und „Lämmergeier“ ausgerottet wurde und nun mit Erfolg wieder im Alpenraum angesiedelt wird.

Mehr Orte der Begegnung

Wir müssten eine etwas wilder gewordene Natur akzeptieren, meint Soentgen. Und wieder lernen, uns mit entsprechender Vorsicht in der Natur zu bewegen. Menschen in Osteuropa oder Kanada lebten seit jeher mit Wölfen und Bären zusammen. Genauso hätten die Menschen in Australien eine Koexistenz mit Haien und Krokodilen gefunden.

Damit sowohl Menschen als auch Wildtiere ihr Angst voneinander verlieren, braucht es aber vor allem auch Orte, an denen sich beide entspannter begegnen können. Für Soentgen sind das die Nationalparks, in denen der Mensch „die Souveränität der Natur“ akzeptiert und sich mit „der Rolle des beobachtenden Gastes“ begnügt. Die Wildtiere fühlen sich dort sicherer. Und die Menschen machen die Erfahrung, dass sich ihnen Wildtiere zeigen, die sie sonst kaum oder gar nie zu Gesicht bekommen.

Futtersilo für Vögel mit Stieglitz, Erlenzeisig und Birkenzeisig.
An Fütterungsstellen kommt es zu wertvollen Begegnungen mit Wildvögeln (hier Stieglitz, Erlenzeisig und Birkenzeisig).

Solche Begegnungsplätze können aber auch „Mikroorte“ sein wie ein Futterhäuschen für Vögel auf dem Balkon oder die besonders bei Ornithologen beliebten „Hides“, also Beobachtungsstände, in denen man Vögeln und anderen Wildtieren nahe kommen kann, ohne diese in Angst und Schrecken zu versetzen. Gerade auch für Kinder seien solche Begegnungen von Bedeutung, sagt Soentgen: „Es ist wichtig, dass sie wilde Tiere direkt erleben, nicht nur im Zoo oder im Dokumentarfilm.“

Kein Streichelzoo

Die Emotionalität in der Begegnung zwischen Mensch und Wildtier sei wesentlich. Einen Igel zu pflegen, einen verletzten Greifvogel in die Pflegestation zu bringen, eine Blindschleiche über die Strasse zu tragen: Vielen Menschen gingen solche Momente der Begegnung nahe. „Es können durchaus Beziehungen entstehen, wenn immer derselbe Vogel zum Futterhäuschen kommt oder ein- und dieselbe Füchsin im Garten auftaucht.“ Was unter Menschen gelte, nämlich gastfreundlich zu sein, sollte nun auch Tieren zugute kommen.

Das Zusammenleben mit Tieren bedeute aber nicht, einen Streichelzoo für sie zu schaffen: „Der Löwe wird nicht neben dem Menschen liegen wie auf alten Darstellungen des Paradieses“, meint der Philosoph. Er unterstützt auch kein allgemeines Jagdverbot, sondern plädiert für Formen von Jagd, die weniger Schrecken verbreiten. Etwa die Beschränkung der Abschusszeiten auf wenige Tage im Jahr, was den Tieren ermöglich, damit umzugehen.

„Die Angst wird man nie aus der Natur entfernen können. Dann würde man das ganze Ökosystem zerstören, das durch die Räuber-Beute-Beziehung definiert ist.“ Eine angstfreie Natur wäre aus Soentgens Sicht eine falsche Utopie: „Doch ich halte es für eine ganz wichtige Aufgabe, diesen absoluten Terror zu lindern, der jetzt die Begegnungen zwischen Menschen und Wildtieren verhindert.“

Jens Soentgen: Ökologie der Angst. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018,160 Seiten.

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