Seit 30 Jahren leben wieder Bartgeier in der Schweiz

Partner-Tauschbörse, begeisterte Bauern und lebenslange Treue: Die Geschichte einer Auswilderung

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
12 Minuten
Ein Bartgeier fliegt, die Flügel weit ausgbreitet, am blauen Himmel.

Da sitzen sie in einer Höhlennische. Über 100 Jahre nachdem die letzten Bartgeier in der Schweiz gebrütet hatten, sind sie am 5. Juni 1991 zurück.

Mitarbeiter des Schweizerischen Nationalparks haben sie soeben in die freie Natur gebracht. Auf die Namen Margunet, Moische und Settschient wurden die drei jungen, noch dunkel gefärbten Bartgeier getauft. Etwas steif erkunden sie ihren Horst im Nationalpark auf 2290 Meter über Meer. Fliegen können sie noch nicht. Schon bald aber schauen sie hinaus in ihre neue Welt und machen sich über das für sie ausgelegte Futter her: Gämsen-, Rehen- und Murmeltierfleisch.

„Ich kann mich noch an jede Minute dieses Tages erinnern“, sagt der Wildtierökologe Klaus Robin, der damals Direktor des Schweizerischen Nationalparks war: „Der eindrücklichste und auch nachdenklichste Moment war, als ich zusammen mit den Parkwächtern, die die Vögel zum Horst brachten, die Bartgeier zurücklies. Wir entfernten uns von ihnen und stiegen hinab ins Tal. Die Vögel, die die ersten drei Monate wohlbehütet in einer Voliere verbracht hatten, waren nun plötzlich allein.“

Klaus Robin ging seine Vergangenheit als Mitarbeiter des Berner Tierparks Dählhölzli durch den Kopf. Im Zoo war es seine Aufgabe, die Tiere zu schützen und zu behüten. „Nun taten wir das Gegenteil. Die Bartgeier mussten sich selbst zurechtfinden. Bei aller Freude über die Auswilderung fragte ich mich: Wird das wirklich gut gehen?“

Porträt des Wiltierökologen Klaus Robin.
Der Wildtierökologe Klaus Robin begleitete die Bartgeier-Auswilderung in der Schweiz von Beginn weg.

Und ob es gut gehen sollte. Die Wiederansiedlung der Bartgeier in der Schweiz war erfolgreich. In den vergangenen 30 Jahren wurden 49 Bartgeier ausgewildert. Zahlenmässig liegt die Schweiz damit an dritter Stelle hinter Frankreich (80 Auswilderungen) und Österreich (63). In Italien wurden 37 Vögel wiederangesiedelt. In Deutschland findet in diesen Tagen die erste Auswilderung von zwei Bartgeiern statt. Weitere sind in den kommenden Jahren geplant.

Die Bartgeier fühlen sich im Alpenraum sichtlich wohl. Im Lauf der Jahre brachten die Bartgeierpaare in freier Natur 308 Jungvögel hoch. Die Anzahl der Wildbruten übertrifft damit diejenige der Auswilderungen. Vor einem Jahrhundert war der Bartgeier in den Alpen ausgerottet. Das letzte Tier wurde 1913 im Aostatal in Italien erlegt. Heute sind die Chancen wieder gross, auf einer Bergwanderung dem mächtigen Vogel zu begegnen.

Auswilderung: „Warum auch nicht?“

Doch bis dahin mussten viele Fragen geklärt und Zweifel aus dem Weg geräumt werden. Woher sollten die Bartgeier kommen? Soll man sie anderswo der Wildnis entnehmen und in die Alpen bringen? Oder soll man sie in Zoos züchten? Und wie würde die Bevölkerung auf die Wiederansiedlung reagieren, war doch der Bartgeier während langer Zeit als „Lämmergeier“ verschrien? Wie sollte dieser schlechte Ruf korrigiert werden?

Bereits kurz nach der Ausrottung des Bartgeiers hatten sich Ornithologen Gedanken über eine Wiederansiedlung gemacht. 1918 fasste die Schweizer Fachzeitschrift „Der Ornithologische Beobachter“ die Diskussion etwas lakonisch zusammen: „Die verschiedenen Forscher halten eine Einbürgerung für möglich. Warum auch nicht.“

Der Schweizer Ornithologe Carl Stemmler, der sich mit der Adler-Forschung einen Namen gemacht hatte, war gar visionär. Er schlug in den 1920er Jahren vor, Bartgeier im Schweizerischen Nationalpark auszusetzen. Doch die Idee fand bei der damaligen Nationalpark-Kommission „keine günstige Aufnahme“, wie der damalige Oberforstinspektor dem Ornithologen Stemmler mitteilte.

Es sollte nochmals mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis die Idee der Wiederansiedlung zündete.

Porträt eines präparierten Bartgeiers.
Ein Charakterkopf: das Porträt eines präparierten Bartgeiers aus einer Ausstellung im Natur- und Tierpark Goldau in der Schweiz.

Am 17. und 18. November 1978 fanden sich Bartgeier-Enthusiasten aus vielen Ländern Europas in Morges ein, einem prächtig gelegenen Städtchen am Schweizer Ufer des Genfersees. Eingeladen hatte die IUCN, die Weltnaturschutzunion. Ziel der Tagung war es, alle Argumente für oder gegen die Idee einer Wiederansiedlung auf den Tisch zu legen.

Klaus Robin war in Morges dabei: „Ein paar Monate zuvor hatte ich meine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berner Tierpark Dählhölzli angetreten. Zu meiner Zuständigkeit gehörten auch die Vögel, darunter zwei Bartgeier, die damals in Bern lebten. Und so nahm ich an der Tagung teil.“

Erfolgreiche Bartgeier-Aufzucht gibt Hoffnung

Dort zog man zunächst einmal Bilanz. Denn in den Jahren zuvor gab es bereits Versuche, Bartgeier in den französischen Alpen, in Hochsavoyen, in die Natur zu entlassen. Dafür wurden wilde Vögel aus Afghanistan und Russland geholt. In Europa angekommen, gingen die meisten Bartgeier aber bald in den Volieren ein oder entkamen. „Es war allen klar, dass es so nicht weitergehen konnte“, sagt Robin: „Der Versuch mit den Wildvögeln war gescheitert.“

Doch die Österreicher warteten mit guten Neuigkeiten auf. Im Alpenzoo Innsbruck hatte sich ein Bartgeier-Paar zusammengefunden und sich mehrfach fortgepflanzt. Das war die Wende: Nun standen nicht mehr wilde, sondern gezüchtete Bartgeier im Fokus einer möglichen Wiederansiedlung. Es musste gelingen, in Europa einen Zuchtstock an Bartgeiern aufzubauen, die man nach der Aufzucht in den Volieren in die freie Natur bringen konnte. Mit diesem Plan in den Köpfen gingen die Tagungsteilnehmer von Morges auseinander: Man wollte ein möglichst breit abgestütztes Projekt starten, um den Bartgeier langfristig wieder im Alpenraum heimisch zu machen.

„Eine heftige Debatte entbrannte.“

Über das Ziel war man sich einig, über die Methode, wie man es erreichen konnte, geriet man sich in die Haare. „Es standen zwei Modelle zur Diskussion“, erzählt Klaus Robin: „Das österreichische und das französische. Zwischen den beiden Lagern entbrannte eine heftige Debatte.“

Im Gegensatz zu den anderen Alpenländern waren die Bartgeier in Frankreich noch nicht völlig ausgerottet. Kleine Vorkommen hielten sich dort in den Pyrenäen und auf Korsika. Die Franzosen griffen auf ihre Beobachtungen von freilebenden Bartgeiern zurück und plädierten dafür, erwachsene Bartgeier anzusiedeln, die fliegen und selbst Futter beschaffen können.

In Österreich lag der Fokus hingegen auf der Zucht und Zootieren. Diese Seite des Lehrstreits vertrat die Idee, Bartgeier, die im Zoo geboren wurden, bereits im Alter von wenigen Wochen auszusetzen. Die sogenannte Hacking-Methode stammt ursprünglich aus der Falknerei.

Das Lager, das die Hacking-Methode verteidigte, setzte sich schliesslich durch. Was zuvor bei Greifvögeln wie Wanderfalken und Schwarzmilanen funktionierte, sollte nun auch bei den Bartgeiern zur Anwendung kommen.

Schwierige Partnerwahl bei den individualistischen Bartgeiern

Doch es gab ein Problem: der Charakter der Bartgeier. Klaus Robin beschreibt sie als „Individualisten“. Es genügt nicht, irgendein Weibchen mit irgendeinem Männchen zusammenführen und auf baldigen Nachwuchs zu hoffen: „Wenn sich die beiden mögen, dann geht es sehr schnell. Doch wenn das nicht der Fall ist, kann man lange auf ein Ei warten.“

Notwendig war daher der Aufbau einer Art von Partner-Tauschbörse: möglichst viele Zuchtstationen, die potenzielle Bartgeier-Eltern miteinander in Kontakt bringen können. Heute besteht ein Netz an Zuchtstationen unter dem Europäischen Erhaltungszuchtprogramm, an dem sich 40 Zoos sowie spezialisierte Zuchtzentren beteiligen.

Zwei Bartgeier sitzen in der Voliere des Natur- und Tierparks Goldau in der Schweiz.
Sonnenbaden in der Voliere: Der Natur- und Tierpark Goldau in der Schweiz nimmt am Aufzuchtprogramm der Bartgeier teil.

Ist ein kleiner Bartgeier in der Voliere geschlüpft, lässt man ihn von den Eltern grossziehen. Manchmal kommen andere Bartgeier als Ammen zum Zug. Falls erforderlich können die Küken in den ersten Lebenstage auch durch menschliche Ammen aufgezogen werden. Dabei ist zu vermeiden, dass sie auf Menschen geprägt werden. Im Alter von 90 bis 100 Tagen werden die Bartgeier dem Horst ihrer Elterntiere entnommen und zur Auswilderungsnische gebracht. Meistens werden zwei oder drei Jungtiere zusammen ausgewildert.

Tollpatschige Junggeier

In diesem zarten Alter sind die Bartgeier noch nicht flugfähig und weiterhin auf menschliche Hilfe angewiesen. Wie es ihrem natürlichen Speiseplan entspricht, werden sie mit Aas von Wildtieren gefüttert. Und sie werden überwacht. „Zu Beginn sind die Bartgeier sehr tollpatschig“, sagt Klaus Robin. „Wenn es zwischen den Vögeln zu Streitigkeiten kommt, besteht schon ein gewisses Risiko, dass einer der Kontrahenten aus dem Horst fällt und man ihn wieder zurücktragen muss.“

Nach knapp einem weiteren Monat, im Alter von 110 bis 120 Tagen, werden die Bartgeier flügge. „Sie fliegen, wenn sie reif dafür sind, ganz ohne Elternbegleitung. Das ist eine angeborene Verhaltensweise“, sagt Robin. Ihre menschlichen Aufpasser können sie nun Schritt für Schritt in die Selbständigkeit entlassen. Immer ausgedehnter werden die Flüge der jungen Bartgeier, bis sie es schliesslich schaffen, ihr Futter selbst zu finden.

„Wir müssen die Chancen für Wiederansiedlungen nutzen. Das war immer meine Überzeugung.“

Ende der 1970er Jahre wusste man noch nicht, ob diese Methode bei den Bartgeiern zum Erfolg führen würde. Doch um den Versuch zu wagen, ist Zuversicht unabdingbar.

So erging es Klaus Robin. Auch wenn ihn am Tag der ersten Auswilderung in der Schweiz gewisse Zweifel umtrieben, hatte er von Beginn weg ein gutes Gefühl. „Wenn wir Menschen in der Natur etwas verbessern können, dann sollten wir das machen. Und vor allem: Wenn wir etwas kaputtgemacht haben, dann sollten wir das wiederherstellen. Dafür braucht es eine gewisse Risikobereitschaft. Wir müssen die Chancen für Wiederansiedlungen nutzen. Das war immer meine Überzeugung“, sagt der emeritierte Professor für Wildtierökologie.

Klaus Robin, ehemaliger Direktor des Schweizerischen Nationalparks, demonstriert den Segelflug des Bartgeiers. Rundherum stehen Studentinnen und Studenten.
Klaus Robin, ehemaliger Direktor des Schweizerischen Nationalparks, demonstriert den Segelflug des Bartgeiers.

1986 nutzte man im Rauristal bei Salzburg die Chance und Schritt zur Tat. Vier in der Zucht geborene, noch flugunfähige Jungvögel wurden ausgesetzt. Ein Jahr später folgte Frankreich mit drei Bartgeiern in Hochsavoyen. Dass die Schweiz als drittes Land zum Zug kommen wollte, war von Anfang an geplant. Es galt, die Auswilderung minutiös vorzubereiten.

Auch juristisch musste alles mit rechten Dingen vonstattengehen. Sämtliche betroffenen Staatsebenen – Gemeinde, Kanton, Bund – beugten sich über die Dossiers der Bartgeier-Auswilderung. Am 5. Dezember 1990 gab der zuständige Bundesrat als Teil der nationalen Regierung höchstpersönlich grünes Licht.

Zuvor mussten allerdings zwei wichtige Fragen geklärt werden. Wo sollten die Bartgeier ausgewildert werden? Und wie würde das bei der Bevölkerung ankommen?

Der Sechser im Lotto

Schon in den frühen 1980er Jahren kam eine Studie zum Schluss, dass sich das Engadin und das Münstertal in der Südostschweiz für den Bartgeier eignen würden. Hier sind geeignete Stellen für die Auswilderung und ungestörte Plätze zum Brüten vorhanden, und dank der südlichen Exposition des Gebiets entsteht genügend Thermik für den Bartgeier, der auf der Futtersuche weite Strecken segelnd zurücklegt. Nahrung ist ebenfalls reichlich vorhanden: Die Wildtierbestände sind hoch, besonders auch im geschützten Territorium des Nationalparks, und ringsum übersommern Tausende von Schafen auf den Alpen, von denen etliche auf natürliche Weise zu Tode kommen, weil sie erkranken oder abstürzen. An Kadavern für Aasfresser mangelt es also nicht.

„Mit dem Entscheid, die Bartgeier im Nationalpark auszusiedeln, haben wir den Sechser im Lotto gewonnen“, sagt Klaus Robin rückblickend: „Diese Gebietswahl war ganz aussergewöhnlich gut. Heute bilden das Engadin, das Münstertal und das angrenzende Südtirol die reproduktivste Zelle des ganzen Auswilderungsprojekts im Alpenraum. Uns kommt also eine besondere Verantwortung für den Erhalt des Bartgeiers in Europa zu.“

Blick in den Schweizerischen Nationalpark: Berge und Wälder.
Bartgeier-Land: Das Gebiet rund um den Schweizerischen Nationalpark im Engadin hat sich als sehr geeignet für die Auswilderung des Bartgeiers erwiesen.

War das Auswilderungsgebiet gefunden, musste die Bevölkerung vom Projekt überzeugt werden. „Die Kommunikation war uns sehr wichtig“, sagt Klaus Robin. „Alle Menschen, die rund ums Wiederansiedlungsgebiet leben, sollten wissen, was mit dem Bartgeier auf sie zukommen würde. Wir betrieben eine sehr intensive Öffentlichkeitsarbeit.“

Da war es also wieder: das Misstrauen dem „Lämmergeier“ gegenüber.

Bald tingelten Ausstellungen über den Bartgeier durchs ganze Land. Die Promotoren der Auswilderung hielten unzählige Vorträge. Die Schweizer Medien berichteten überwiegend positiv über das anstehende Ereignis. Es gab kaum Widerstand. Leicht kritische Töne kamen aus der Landwirtschaft. Die Bauern wollten sichergehen, dass Schäden vom Staat übernommen werden. So hielt auch der Bundesrat in seiner Verfügung zur Genehmigung der Auswilderung ausdrücklich fest, dass ein besonderes Augenmerk auf allfällige Schäden durch Bartgeier an Kleinvieh zu richten sei.

Da war es also wieder: das Misstrauen dem „Lämmergeier“ gegenüber. Dem Bartgeier war nachgesagt worden, dass er hinter neugeborenen Schafen her sei. Alte Zeichnungen und Gemälde zeigen, wie der Bartgeier Lämmer, Wildtiere wie Gämsen und gar Menschen anfällt. Der Bartgeier: eine gefährliche Bestie! Dass der Bartgeier ein Aasfresser ist und sich vor allem an Knochen gütlich tut, gelang erst mit der Zeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Ein begeisterter Augenzeuge schafft Vertrauen

Um alle Zweifel auszuräumen, schickte man einen jungen Biologen auf die Wanderschaft. Der Mann suchte alle Almen rund ums Aussiedlungsgebiet auf und klärte die Bäuerinnen und Bauern über die Harmlosigkeit des Bartgeiers auf.

Eine Begebenheit ist Klaus Robin in Erinnerung geblieben. Es war an einer Informationsveranstaltung für die Landwirtschaft im Engadin, die kurz nach der Auswilderung stattfand. Ein Bauer erhob sich und begann zu erzählen. Er habe beobachtet, wie ein junger Bartgeier mitten in einer Schafherde herumspaziert sei. Mehrere Schafe seien gerade am Gebären gewesen. Doch der Bartgeier habe keinerlei Interesse an den neugeborenen Lämmern gezeigt, sondern an den Nachgeburten. Eine dieser Nachgeburten habe er gepackt und sei davongeflogen. Das habe er mit eigenen Augen gesehen. Er sei nun überzeugt, dass diese Vögel keinen Schaden anrichteten, ja, er sei begeistert vom Bartgeier.

„Diese Geschichte war sehr überzeugend“, sagt Robin: „Sie stammte nicht von einem Biologen, der sowieso für den Bartgeier ist, sondern von einem einheimischen Bauern. Er war ein sehr glaubwürdiger Zeuge. Es erreichten uns auch nie irgendwelche Schadensmeldungen. Der Bartgeier ist kein Problemtier.“

Genetische Flaschenhälse

Seither werden Jahr für Jahr junge Bartgeier in die freie Natur gebracht. Am 27. Juni 2021 sollen weitere Vögel im Wildtierschutzgebiet Huetstock bei Melchsee-Frutt in der Zentralschweiz ausgewildert werden. Doch ist das überhaupt notwendig? Kann sich die Bartgeier-Population im Alpenraum noch nicht selbst erhalten?

„Wenn die Population so weiterwächst wie jetzt, dann ist dies wohl bald der Fall, “ sagt Klaus Robin. Doch es bestehe ein Problem: die Genetik. Viele der gezüchteten Bartgeier stammen von wenigen Tieren ab. Die genetische Basis ist also äusserst schmal. Gleichzeitig haben sich in der freien Natur nicht alle Genotypen gleich erfolgreich fortgepflanzt.

„Genetisch gesehen haben wir also gleich zwei Flaschenhälse“, sagt Robin: „Einmal bei der Zucht und einmal bei den Wildbruten“. Das birgt erhebliche Risiken für Inzuchterscheinungen in sich. Bei wildgeschlüpften Bartgeiern wurden Anomalien am Gefieder beobachtet, die möglichweise genetisch bedingt waren. Die Geier konnten deshalb nicht fliegen.

Porträt des Bartgeiers Sardona.
Der Bartgeier Sardona wurde 2010 im Calfeisental in der Schweiz ausgewildert. Seine Flüge haben ihn auch schon bis zum Atlantik in Frankreich geführt.

Je diverser eine Population ist, desto besser sei dies für ihre Erhaltung, sagt Robin, der der Fachkommission der „Stiftung pro Bartgeier“ vorsteht. Diese Stiftung ist für die Auswilderung in der Schweiz verantwortlich. Man bringe nun seltene oder noch nicht vorhandene Bartgeier-Linien in den Alpenraum in der Hoffnung, dass sich diese fortpflanzten. „Wir wollen die genetische Variabilität vergrössern, um den Bartgeier-Bestand in den Alpen langfristig zu sichern“, sagt Robin.

Moische: Seit 30 Jahren in den Alpen unterwegs

Dass einst wieder rund 300 Bartgeier in den Alpen leben würden, wagte Klaus Robin vor 30 Jahren kaum zu träumen. Er hatte es sich am 5. Juni 1991 nicht nehmen lassen, als Nationalpark-Direktor die jungen Bartgeier eigenhändig aus der Zuchtstation bei Wien zu holen und sie mit dem Auto bis zum Parkplatz im Schweizerischen Nationalpark zu bringen. Einer davon stammte aus dem Tierpark Berlin.

Bei schönstem Wetter begleitete an diesem Tag ein Medientross die Parkwächter, die die Bartgeier auf Traggestellen der Schweizer Armee auf dem Rücken ins Val da Stabelchod schleppten. Nur die Träger und einige Fachleute, darunter Klaus Robin, durften zum Horst, um die Bartgeier auszusetzen. Die Schaulustigen blieben auf Distanz.

Bereits zehn Tage später unternahm Margunet seinen ersten Flug. Drei Minuten hielt er sich in der Luft. Eine Woche darauf wagte sich Settschient fliegend aus dem Horst.

Etwas zurückhaltender war Moische. Sie liess sich Zeit und schwang sich am 19. Juli 1991 in die Höhe. Sieben Jahre später versuchte sie zum ersten Mal zu brüten. Doch ein neugieriger Filmer kam zu Nahe und störte die empfindlichen Tiere beim Horst. 1999 zog Moische ihr erstes Küken auf. 17 weitere folgten. Ihr Partner ist ihr über all die Jahre bis heute treu geblieben.

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Zum 30-Jahre-Jubiläum der Bartgeier-Auswilderung in der Schweiz ist ein Buch erschienen. Hansruedi Weyrich, Hansjakob Baumgartner, Daniel Hegglin, Franziska Lörcher: Der Bartgeier. Seine erfolgreiche Wiederansiedlung in den Alpen. Haupt Verlag, Bern 2021. 248 Seiten, 206 Fotos, 2 Tabellen. CHF 48.00, EUR 48.00.

Bereits 2003 publizierte Klaus Robin zusammen mit Jörg Paul Müller und Thomas Pachlatko ein reich illustriertes Buch über den Bartgeier mit Zusammenfassungen in Französisch, Italienisch, Rätoromanisch und Englisch: Der Bartgeier, erschienen bei edition r, Robin Habitat AG, 228 Seiten. CHF 85.

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