Faktencheck Artenvielfalt: Ein wissenschaftlicher Warnruf, der gehört werden muss

Am Beispiel der Feuchtgebiete zeigt sich besonders dramatisch, wie fahrlässig und gefährlich der Umgang mit der Biodiversität in Deutschland ist. Ein Kommentar.

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Aufnahme eines Tümpels.

Wer glaubte, dass in den Landschaften Deutschlands schon alles in Ordnung ist, weil die meisten Wälder doch grün sind, weil auf manchen Wiesen noch Blumen blühen und Insekten surren und weil weiter das Wasser talwärts gen Nord- und Ostsee fließt, wird mit dem „Faktencheck Artenvielfalt“ nun eines Besseren belehrt. 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben über drei Jahre hinweg an einer bisher beispiellos umfassenden und gründlichen Bestandsaufnahme der Natur in Deutschland gearbeitet. Dutzende von den fast 1300 Seiten, die der Report umfasst, nehmen allein die Listen wissenschaftlicher Quellen ein, die die Forscherinnen und Forscher für das Kompendium ausgewertet haben.

Der „Faktencheck Artenvielfalt“ zeichnet ein äußerst beunruhigendes Bild davon, wie die Menschen in Deutschland – vom Landwirt über die Konsumenten bis zur Politik – mit dem umgehen, was nicht umsonst „natürliche Lebensgrundlagen“ heißt. Kein Beiwerk ist die Natur, kein hübsches Dekor, sondern die Basis unseres Daseins. Doch der Zustand der heimischen Biodiversität ist äußerst beunruhigend, und die Zukunftsperspektiven sind es auch: „Einem großen Teil unserer Tierarten, Pflanzen und Lebensräume geht es schlecht“, sagt Christian Wirth, einer der Hauptautoren des Berichts.

Nur zwei Prozent der Fläche beherbergen bis zu 20 Prozent der Artenvielfalt

Landwirte machten bei ihren Protesten Anfang des Jahres darauf aufmerksam, dass sie es sind, die unsere Nahrung produzieren. Doch ohne lebendige Böden, ohne Bewässerung, ohne Bestäuberinsekten wäre ihr Tun sinnlos. Wasserwerke liefern uns das Nass, mit dem wir uns morgens waschen, unser Essen zu bereiten, Fabriken am Laufen halten – doch damit es genug davon gibt, braucht es Feuchtgebiete, die Regenwasser wie Schwämme aufsaugen und reinigen, bevor es in die Leitungen kommt. Menschen stöhnen unter Hitzewellen, doch ohne die kühlende Wirkung von Bäumen und Gewässern wären diese wohl bereits unerträglich.

Unter den Ökosystemen, die der „Faktencheck Artenvielfalt“ beleuchtet, stechen die Binnengewässer und Feuchtgebiete – also etwa Flussauen, Seen, Teiche, Tümpel, Bäche, Niedermoore, Hochmoore und Quellen – deshalb besonders hervor. Auf nur etwas mehr als zwei Prozent der Fläche Deutschlands beherbergen sie rund 13 bis 20 Prozent der Artenvielfalt. Sie erbringen entscheidende „Ökosystemdienstleistungen“, von der Wasserversorgung über die Kohlenstoffspeicherung bis zur menschlichen Erholung. Und sie werden trotzdem in jeder Hinsicht schlecht behandelt.

Der Report arbeitet heraus, wie stark Feuchtgebiete in den vergangenen Jahrzehnten dezimiert wurden. Flächen für Landwirtschaft und Siedlungen trockenzulegen galt lange als eine Kulturleistung – doch die Radikalität, mit der dies geschah, rächt sich inzwischen hart. Wie Planer Flusslandschaften mit dem Lineal neu geordnet haben, trägt zu katastrophalen Überschwemmungen wie Anfang des Jahres in Norddeutschland und im Sommer in Süddeutschland bei. Die Landschaften halten Wasser nicht mehr zurück, sondern lassen es auf einen Schlag talwärts schießen. Hinzu kommen zahlreiche weitere Stressfaktoren, wie etwa die chemische Belastung mit weggeschwemmtem Dünger und Abwässern von Firmen.

Die meisten Gewässer sind in keinem guten ökologischen Zustand

Das Ergebnis ist ein dramatischer Rückgang der biologischen Vielfalt, also der Lebendigkeit dieser Ökosysteme. „Rund 7000 von insgesamt 12.900 berücksichtigten Süßwasserarten und -unterarten in Deutschland sind gefährdet, stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht“, heißt es im „Faktencheck“. Dazu gehören so bekannte Arten wie die Sumpfschildkröte und die Flussperlmuschel, aber auch acht von zehn Schneckenarten, sieben von zehn Amphibienarten, neun von zehn Algenarten. Dass 64 Arten aus Feuchtgebieten nur in Deutschland vorkommen, etwa die Rhön-Quellschnecke, aber auch diverse Fischarten, heißt nicht, dass diese besonders gut geschützt würden.

Wären Feuchtgebiete Patienten, müssten viele von ihnen ins Krankenhaus und dort vielleicht sogar auf die Intensivstation. „Zwischen 60 und 75 Prozent der Biotoptypen sind deutschlandweit gefährdet, stark gefährdet oder sogar von vollständigem Verlust bedroht“, heißt es im Report. Das trifft besonders auf Quellen, waldfreie Niedermoore und Stillgewässer, also etwa kleine Tümpel, zu. „Etwa 89 Prozent der gemäß Wasserrahmenrichtlinie berichtspflichtigen Binnengewässer erreichen nicht den ‚guten ökologischen Zustand‘ bzw. das 'gute ökologische Potenzial“, heißt es weiter – und das, obwohl seit dem Jahr 2000 EU-weit die Pflicht galt, diesen guten Zustand schon bis 2015 herbeizuführen.

Sporadische gute Nachrichten in dem Bericht darüber, dass manche Arten von Libellen, Kleinkrebsen und auch Vögeln zunehmen, und dass punktuell die Renaturierung in Gang kommt, können über die katastrophale Bilanz nicht hinwegtäuschen. Trockenlegung, Kanalisierung, Chemisierung, Überdüngung, Bebauung, häufigere Dürren – die Liste der Ursachen wie den schlechten Zustand der Feuchtgebiete ist lang.

Staat lässt das Monitoring fahrlässig schleifen

Erschwerend kommt hinzu, dass Bund und Länder ganz offenkundig ihre gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe, die Gesundheit und Funktionsfähigkeit der Natur sicherzustellen, kaum wahrnehmen. Mal um Mal konstatiert der „Faktencheck Artenvielfalt“, dass ein systematisches, bundesweites Monitoring von Mooren, Quellen, Auenwäldern und anderen Feuchtgebieten überhaupt nicht stattfindet. Nur punktuell erfasst der Staat, wie es den Lebensgrundlagen geht, ergänzt von einzelnen privaten Initiativen wie dem jüngsten Monitoring einzelner Bäche und Quellgebiete. „Ein deutschlandweites Monitoring der Artenvielfalt von kleinen Stillgewässern wird nicht durchgeführt“, „ein bundesweites Monitoring der Artenvielfalt von Niedermooren existiert nicht“, „ein regelmäßiges Monitoring der Artenvielfalt im Grundwasser wird in Deutschland nicht durchgeführt“ – für einen Staat, der sonst jeden Quadratmeter und Euro erfasst, sind diese wiederkehrenden Sätze aus dem „Faktencheck“ ein erbärmliches Spiegelbild fehlender Prioritäten.

Es ist, als würde sich ein Arzt um einen siechen Patienten erst gar nicht kümmern und seine Symptome weder untersuchen noch überwachen. Ändern würde sich das nur, wenn Naturschutzbehörden endlich so ausgestattet würden, dass sie nicht mit der Genehmigung von Eingriffen voll ausgelastet sind, sondern sich wirklich auch um Monitoring und Schutz der Lebensräume kümmern können.

Trendwende noch nicht in Sicht

Die Bestandsaufnahme aus der Wissenschaft ist umso beunruhigender, als in jüngster Zeit alle Versuche, den Naturschutz aufzuwerten und effektiver zu machen, auf erheblichen Widerstand treffen und teils schon mit Erfolg abgewehrt wurden. Während der Klimaschutz inzwischen zumindest so breit in der Gesellschaft verankert ist, dass kaum jemand außer den Rechtspopulisten ihn grundsätzlich infrage stellen, gilt der Schutz der Biodiversität noch immer als etwas Randständiges, das man sich in guten Zeiten leisten können muss. In Serie haben EU und Bundesregierung in den vergangenen Monaten Beschlüsse gefasst, Umweltziele etwa zur Reduktion der Pestizide und bewährte Umweltvorgaben, etwa eine Prüfung von Bauvorhaben, einzustampfen.

Immerhin ergreift Bundesumweltministerin Steffi Lemke nun einige Initiativen, die auch den Schutz von Feuchtgebieten verbessern würden. Dazu zählen die Vorhaben zum natürlichen Klimaschutz, bei denen es um Moore geht, die Kohlenstoff speichern, oder die Vorhaben zur Klimaanpassung und zum Hochwasserschutz, zu denen auch Schutz und Ausbau kühlender Wasserflächen und die Renaturierung von Flussauen gehören. Auch das EU-Renaturierungsgesetz könnte ein wichtiger Impuls sein, die Feuchtgebiete in Deutschland gesunden zu lassen – sofern es mit Verve umgesetzt wird. Doch Lemke kämpft allein auf weiter Flur. Im Rest der Bundesregierung, und sogar in ihrer eigenen Partei, haben Biodiversität und Naturschutz keinen besonderen Stellenwert. Etwas verändern wird sich nur, wenn sich die Erkenntnis, dass die früher so verachteten Sümpfe und Tümpel in Wahrheit die Grundlage unseres Daseins sind, breiter in der Gesellschaft durchsetzt, auch in Landwirtschaft und Wirtschaft. Der „Faktencheck Artenvielfalt“ ist ein wissenschaftlicher Warnruf, der gehört werden muss.

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