Gutachten: „Kernenergie ist kein ökologisch nachhaltiges Investment“

Frankreich will von Brüssel Atomkraft als „nachhaltige“ Energiequelle einstufen lassen. An einer Stellungnahme der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Union übt die deutsche Atombehörde heftige Kritik

von Daniela Becker
4 Minuten
In der EU tobt ein politischer Streit darum, ob Kernkraftwerke bald als nachhaltiges ökologisches Investment gelten dürfen. Deutschland ist dagegen.

Sie gehört zu den zentralen politischen Neuerungen des europäischen Green Deals: Die sogenannte EU-Taxonomie. Mit ihr sollen Anleger zwischen nachhaltigen und nicht-nachhaltigen Wirtschaftstätigkeiten unterscheiden können. Banken, Versicherungen und andere Finanzmarktakteure sollen sich bei ihren Investitionsentscheidungen nach ihr richten. Mit diesem neuen, zentralen Steuerungsinstrument will die EU dafür sorgen, dass mehr Geld in nachhaltige Dienstleistung, Produktion und Infrastruktur fließt.

Frankreich konnte bisher sieben Mitgliedstaaten davon überzeugen, dass die Atomkraft im Rahmen der Taxonomie als „nachhaltige“ Energiequelle eingestuft werden soll. Deutschland ist dagegen. Gleichzeitig wollen aber einige deutsche Politiker:innen erreichen, dass Investitionen in Erdgas-Infrastruktur als „Übergangstechnologie“ berücksichtigt wird.

Die befürwortenden Länder können sich hierbei auf einen Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der EU berufen. Er kam zu dem Schluss, dass Atomenergie sich im Rahmen der Taxonomie für ein grünes Label qualifiziere. Das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) attestiert dem Report allerdings diverse methodische Schwächen.

So berücksichtigte die GFS die Gefahr schwerer Unfälle kaum und ignorierte weitgehend die ungelöste Endlager- bzw. Entsorgungsproblematik samt ihrer Folgelasten für kommende Generationen.

„Zwar wird Kernkraft häufig als CO2‑arme Form der Stromerzeugung angesehen. Dies reicht aber nicht aus, um als nachhaltig eingestuft zu werden“, sagt Dr. Simone Lünenbürger. Ihre Kanzlei Redeker Sellner Dahs hat für das österreichische Klimaschutzministerium untersucht, ob die Erzeugung von Kernenergie ein ökologisch nachhaltiges Investment nach den Kriterien der Taxonomie‑​Verordnung sein kann. Ihre Antwort: Ein klares Nein.

„Nachhaltig“ bedeutend mehr als geringe CO2-Emissionen

Denn der Kriterienkatalog der Taxonomie verlangt das sogenannte „do no significant harm“-Prinzip. Das bedeutet, um das Nachhaltigkeitslabel zu erhalten, muss eine wirtschaftliche Tätigkeit einen wesentlichen Beitrag zu einem Umweltziel wie etwa Klimaschutz leisten, ohne dabei zu einer wesentlichen Beeinträchtigung anderer Umweltziele zu führen. Dies sei durch Problematiken wie die Risiken des Uranabbaus und der Uranvermahlung nicht gegeben. Auch die Widerstandsfähigkeit von nuklearen Anlagen bei fortschreitendem Klimawandel, insbesondere was mögliche Konflikte bei der Wassernutzung für die Kühlung von Reaktoren anbelangt, sei nicht beachtet worden. Nicht zuletzt gebe es bis heute weltweit kein Endlager für hochradioaktive radioaktive Abfälle.

Der GFS-Report zeichne zudem eine sehr optimistische Vorschau in Bezug auf Atomenergienutzung in der EU bis zum Jahr 2050, so das Fazit des deutschen Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) „Dabei wird übergangen, dass bis 2030 80 Prozent der existierenden Kraftwerke bis 2030 das vorgesehene Laufzeitlimit von 40 Jahren erreichen“, sagt Jochen Ahlswede, Abteilungsleiter Forschung bei BASE. Gleichzeitig sei der Neubau von Kernkraftwerken jedoch teuer und langwierig.

Dezentrale Kernkraftwerke erhöhen das Sicherheitsrisiko

Vor einigen Wochen hatte der französische Staatschef Emanuel Macron die Absicht bekundet, um die Dekarbonisierung des Landes voranzubringen eine Milliarde Euro in die Erforschung einer neuen Form der Atomkraft, der so genannten „Small Modular Reactors“ (SMC) zu investieren.

Weltweit gibt es diverse wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen, die an unterschiedlichen Formen dieser kleineren Kernkraftwerke forschen. Bislang sind allerdings die wenigsten über die konzeptionelle Ebene hinaus. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass die Reaktoren deutlich kleiner sein sollen als heute in Betrieb befindliche Kernkraftwerke und auch weniger Leistung haben. Durch ihren modularen und vorgefertigten Aufbau müssten sie an Ort und Stelle nur noch zusammengesetzt werden. Dadurch, so die Hoffnung, könnten die Baukosten deutlich niedriger sein als bei herkömmlichen Kernkraftwerken. Der Beweis dafür muss aber noch erbracht werden.

Das Öko-Institut hat im März im Auftrag von BASE eine Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten vorgenommen. Insgesamt 136 verschiedene historische und aktuelle Reaktoren und Konzepte wurden betrachtet. Den potenziellen Nutzen von SMR bewertet das Öko-Institut sehr zurückhaltend. Um einen Nutzen für den Klimaschutz zu haben, würden global betrachtet tausende dieser Kraftwerke benötigt. Das erhöhe das Sicherheitsrisiko enorm; auch die Frage nach der Entsorgung des Atommülles werde damit nicht gelöst. Mit Blick auf das Gutachten der Gemeinsamen Forschungsstelle sagt Jochen Ahlswede: „Der Beitrag zum Klimaschutz solcher neuer Technologien wie SMR  scheint uns überschätzt, deren Risiken deutlich unterschätzt“.

Durch die geringe elektrische Leistung seien bei SMR die Baukosten relativ betrachtet höher als bei großen Atomkraftwerken. Eine Berechnung der Kosten lege nahe, dass im Mittel dreitausend SMR produziert werden müssten, bevor sich der Einstieg in die SMR-Produktion lohnen würde, so die Autoren des Berichts.

Politisches Tauziehen um das nachhaltige Finanzwesen

Von den 27 EU‑​Staaten setzen derzeit 14 Staaten auf Kernenergie. Während unter anderem Frankreich für die Aufnahme von Kernenergie in die europäische Taxonomie plädiert, sprachen sich Österreich, Spanien, Dänemark, Portugal und Luxemburg heute in einem gemeinsamen Statement auf dem Klimagipfel in Glasgow dagegen aus.

Die geschäftsführende Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) sagte: „Es gibt längst bessere Alternativen.“

Doch beim letzten EU-Gipfel kündigte Ursula von der Leyen an, in Kürze einen Kompromissvorschlag für das EU-Nachhaltigkeitslabel vorzulegen, der sowohl Atomkraft als auch Erdgas beinhaltet.

Die Juristin Simone Lünenbürger hält das für ein falsches Signal: „Es ist Mitgliedstaaten nicht verboten, Nuklearenergie zu nutzen; auch nicht sie staatlich zu unterstützen. Würde sie aber Teil der Taxonomie werden, könnte das einen Push für diese Form der Energieerzeugung bedeuten. Denn das ist ja genau deren Sinn: Investments und Finanzhilfen in eine Richtung zu lenken.“

EU-Parlamentarier starten Protest-Petition zur Taxonomie

Umwelt- und Klimaverbände fürchten nun, dass in einem politischen Kuhhandel, der sowohl Atomenergie- als auch Erdgas-Befürwortern entgegenkommt, die Richtlinie zum nachhaltigen Finanzwesen bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht werden könnte. Sven Giegold und einige weitere Mitglieder des Europaparlaments in der Fraktion der Grünen/EFA haben inzwischen eine Protest-Petition an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Kommissar Frans Timmermans gestartet, um den „Super-GAU für Europas Energiewende“ zu stoppen.

Sind die Proteste nicht von Erfolg gekrönt, könnte 2022 in Deutschland das letzte AKW vom Netz gehen, während andernorts Atomkraftwerke mit EU-Nachhaltigkeitslabel stehen. 

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