Erfolg in Montreal: Was steht im neuen Abkommen zum Schutz von Natur und Artenvielfalt?
Vier Jahre Vorbereitung, zwei Wochen Verhandeln und am Ende ein Hammerschlag: Seit Montag hat die Menschheit einen Masterplan, wie sie die Vielfalt der Natur und ihre eigenen Lebensgrundlagen schützen will. Das Abkommen kann sich sehen lassen.
Wie fragil auf der Weltnaturkonferenz die Lage bis zur letzten Minute war, zeigte sich bei der entscheidenden Sitzung der 196 Staaten in der Nacht zum Montag.
Das lange ersehnte und hart verhandelte Abkommen, mit dem die Menschheit ihre Lebensgrundlagen bewahren soll, schien schon unter Dach und Fach zu sein. Im großen Saal des Montrealer Kongresszentrums waren mehr als tausend Menschen versammelt, Feierlaune kam auf. Delegierte und Beobachter, ja sogar der chinesische Konferenzpräsident, schossen unmittelbar vor der Abstimmung schon Erinnerungsfotos.
Doch kurz vor dem entscheidenden Moment meldete sich der Vertreter der Demokratischen Republik Kongo mit Einspruch zu Wort und verlangte mehr Geld für die Entwicklungsländer, damit sie ihre Naturschätze erhalten könnten. Ansonsten werde er dem Abkommen nicht zustimmen. Es war viel mehr als ein Zwischenruf. Für einen Erfolg am Schluss der insgesamt vierjährigen Verhandlungen war Einstimmigkeit gefragt.
Fakten mit dem Konferenzhammer
Nach einigem Raunen erhob sich eine junge mexikanische Delegierte, warb um Zustimmung für das Abkommen („Es wird nie ein vollkommenes Abkommen geben“) und bat darum, ihr die Zustimmung zu der historischen Vereinbarung zum Geburtstagsgeschenk zu machen, den sie am Montag begehe. Das Geschenk bekam sie dann vom chinesischen Umweltminister Huang Runqiu, dem Präsidenten der COP15. Nachdem die stehenden Ovationen von Ministern und Delegierten für die junge Frau abgeklungen war, steckten er und die übrigen Mitglieder des Konferenzpräsidiums minutenlang die Köpfe zusammen, ehe Huang sehr plötzlich die Abstimmung erneut ansetzte. Praktisch im selben Moment stellte er fest, dass er keinen Widerspruch wahrnehme – und schlug in Windeseile den Konferenzhammer auf sein Pult, um den historischen Vertrag zu besiegeln.
Die chinesisch-kongolesischen Beziehungen wird das nicht fördern. Auch Uganda sprach von einem „Putsch gegen die Regeln“ der Vereinten Nationen. Doch die Weltnaturkonferenz COP15 hat das beherzte Agieren der chinesischen Präsidentschaft ans Ziel gebracht.
Das offiziell „Kunming-Montreal-Rahmenabkommen“ getaufte Werk ist der bisher ehrgeizigste Versuch, die Arten- und Ökosystemkrise an ihren Wurzeln anzugehen. Es soll der Masterplan sein, mit dem die Menschheit verhindert, dass im Lauf des Jahrhunderts jede achte Art ausstirbt und ganze Ökosysteme wie etwa Korallenriffe verschwinden.
Das höchstgesteckte Ziel eines „Paris-Abkommens für die Natur“, in Anspielung auf den Weltklimavertrag von 2015, ist es nicht geworden. Doch was in der Nacht zum Montag verabschiedet wurde, kann sich sehen lassen.
Das neue Abkommen kann sich sehen lassen – trotz mancher Abschwächung
Der neue Weltnaturschutzvertrag setzt Ziele in einem weiten Spektrum menschlicher Aktivitäten, die die Natur betreffen: Flächenschutz, Renaturierung, Finanzen, naturschädliche Produktionsweisen, Minderheitenrechte und vieles mehr.
Über den Pakt wurde fast vier Jahre lang sehr zäh verhandelt, weil durch fast alle Beschlüsse wirtschaftliche Interessen der Länder und wichtiger Branchen wie Landwirtschaft und Bergbau betroffen sind. Auch während der Schlussverhandlungen in Montreal drohte mehrfach ein Scheitern des Gipfels. Um alle 196 Vertragsstaaten zur Zustimmung zu bewegen, mussten zahlreiche Ziele abgeschwächt werden.
Das hat Spuren hinterlassen: An vielen Stellen ist das von den Verhandlern so genannte „Ambitionsniveau“ – also der Ehrgeiz, möglichst viel zu erreichen – deutlich abgesunken. Das gilt auch für eines der wichtigsten, viele sagen das Wichtigste, unter den 23 Zielen des Abkommens: Die Verabredung, dass bis 2030 jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter Schutz gestellt werden.
Dort war ursprünglich vorgesehen, einen Teil der künftig geschützten Gebiete unter einen besonders „strikten“ Schutz zu stellen. Das hätte einen kompletten Nutzungsverzicht etwa auf Fischerei in diesen Gebieten bedeutet. Auch das ursprünglich anvisierte Ziel, die Verschmutzung der Umwelt mit Plastik bis 2030 völlig zu beenden, wurde durch das Ziel ersetzt, dies lediglich „anzustreben“.
Trotz dieser Einschränkungen bleibt richtig, dass das „30 × 30“-Ziel die größte jemals zum Schutz von Lebensräumen eingegangene Verpflichtung der Staatengemeinschaft ist. Wird sie richtig und konsequent umgesetzt, kann nach wissenschaftlichen Analysen ein Großteil der heute vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten gerettet werden.
Es gab viele Kompromisse auch in anderen Bereichen: Aber die Substanz ist fast durchweg erhalten geblieben.
Die Ergebnisse im Überblick
Wildnis erhalten
Es klingt bürokratisch, ist aber die Grundlage für einen erfolgreichen Naturschutz. Die Belange der Natur sollen weltweit in jedweder Raumplanung zur Landnutzung berücksichtigt werden. Damit soll erreicht werden, dass die noch bestehenden ökologisch intakten Wildnisgebiete erhalten bleiben. Bis 2030 soll der Verlust intakter Natur „fast auf Null“ gebracht werden. Eine Abschwächung: In früheren Fassungen des Entwurfs war gefordert worden, dass bis 2030 der Verlust intakter Gebiete völlig gestoppt wird.
Regeneration beschädigter Natur
Bis 2030 soll auf mindestens 30 Prozent der Gebiete, in denen Lebensräume ökologisch geschädigt wurden, damit begonnen worden sie, sie zu renaturieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass begradigte und kanalisierte Flüsse ein natürliches Bett zurückbekommen oder trockengelegte Feuchtgebiete wieder unter Wasser gesetzt werden. Die Europäische Union hatte vergeblich versucht, eine konkrete Flächenzahl von sechs Milliarden Hektar und damit eine klare Messlatte festzuschreiben.
Minderung chemischer Verschmutzung
In Ziel 7 verpflichten sich die Staaten, die chemische Umweltverschmutzung „aus allen Quellen“ zu bekämpfen. Besonders wichtig ist, dass ungeachtet des heftigen Widerstands insbesondere von landwirtschaftlich geprägten Entwicklungsländern wie Brasilien, Argentinien, Indien und Indonesien ein konkretes Ziel für Pestizide festgeschrieben wurde: Danach muss bis 2030 das Risiko durch den Gebrauch von Pestiziden um mindestens die Hälfte verringert werden. Unter Risiko versteht man nicht die reine Menge, sondern wie giftig Pestizide zum Beispiel für Insekten sind. Wissenschaftler sehen dieses Ziel als sehr wichtig an, weil Pestizide als eine der Hauptursachen für den Rückgang der Artenvielfalt gelten. Die ursprünglich geplante Aufnahme der Lichtverschmutzung scheiterte. Auch das Plastik-Ziel wurde abgeschwächt. Ursprünglich war vorgesehen, die Verschmutzung mit Plastikmüll bis 2030 zu beenden. Nun heißt es nur noch, dieses Ziel werde angestrebt.
„Biodiversitätsfreundliche“ Landwirtschaft
Landwirtschaftlich genutzte Flächen machen den größten Teil der menschlich genutzten Landfläche aus. Deshalb gilt eine nachhaltigere und ökologische Agrarwirtschaft als Schlüssel für eine Wende in der Arten- und Lebensraumkrise. Der Vorstoß, eine Quote von 25 Prozent ökologischer Landwirtschaft bis 2030 als Ziel festzuschreiben, scheiterte. Stattdessen wird jetzt nur noch angestrebt, „biodiversitätsfreundliche Praktiken“ auszubauen.
Umsetzungskontrolle – Lehren aus Nagoya?
Beschlossen wurde, dass Länder die Umsetzung der Ziele dokumentieren und mindestens alle fünf Jahre über die Fortschritte Bericht erstatten müssen. Das soll anhand eines Sets aus Indikatoren geschehen, die aber noch nicht alle festgelegt sind. Ein Nachschärf-Mechanismus für den Fall, dass ein Land nicht ausreichend schnell Fortschritte macht, ist nun – je nach Sichtweise nur oder immerhin – auf freiwilliger Basis vorhanden. Die Kritik von Naturschützern an der Umsetzungskontrolle wiegt besonders schwer. Denn das Versprechen, neue Ziele auf ihre Umsetzung hin zu überprüfen, ist die zentrale Lehre aus dem Scheitern des Vorgängerabkommens von Nagoya. Dort waren ebenfalls ehrgeizige Ziele gesetzt worden – nur, um zehn Jahre später feststellen zu müssen, dass wegen mangelnder Umsetzung kein einziges davon vollständig erreicht wurde. Nicht zuletzt fehlt es dem Abkommen an konkreten Vorgaben bei der Umsetzung. „Mit diesem Weltnaturabkommen steuern wir auf dieselben Probleme zu, wie schon vor zehn Jahren“, sagt Magdalene Trapp, Referentin für Biodiversitätspolitik und kundige Beobachterin vor Ort: „Die Vertragsstaaten scheinen nicht aus der Vergangenheit gelernt zu haben.“ Wie im Nagoya-Abkommen fehle es heute wieder an Möglichkeiten, die Ziele zu kontrollieren und nachzuschärfen, bilanziert sie. Die kommende Weltnaturkonferenz müsse schnell für Klarheit und Verbindlichkeit sorgen.
„Mainstreaming“ des Naturschutzes
Ein komplett neues aufgenommenes Ziel verlangt, die Belange der Natur in allen Bereichen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu berücksichtigen und langfristig sowohl die öffentlichen wie die privaten Finanzströme an den Zielen des Naturabkommens auszurichten. Dieses sogenannte „mainstreaming“ soll dazu führen, dass Biodiversität nicht nur am Rande eine Rolle spielt oder gar keine Bedeutung hat.
Keine neuen Berichtspflichten für Unternehmen
Der Versuch, Unternehmen und Finanzinstitutionen zu verpflichten, künftig ihren Einfluss auf die Natur durch ihre Produktion und Lieferketten zu messen und die Ergebnisse zu veröffentlichen, ist gescheitert. Dies geschah, obwohl zahlreiche große Unternehmen selbst dafür geworben hatten. Die obligatorische Berichtspflicht sollte Unternehmen und Finanzbranche, aber auch Aktionäre und Kunden informieren, wie nachhaltig die Aktivitäten einer Firma wirklich sind. Dies könnte beispielsweise Einfluss auf die Aufnahme in Ökofonds oder die Kreditvergabe haben. Die Berichtspflicht war unter anderem von Konzernen wie Ikea, Danone, RWE und Nestlé unterstützt worden. Nun bleibt es bei der Freiwilligkeit.
Viele Umwelt- und Naturschutzverbände wiesen nach dem Beschluss in Montreal vor allem auf die Mängel und Unzulänglichkeiten hin. Sie wollen das Erreichte allein an dem messen, was nötig ist, um die dramatische Lage der Natur zu verbessern. Damit kommen sie ihrer Aufgabe nach, Alarm zu schlagen, Handeln einzufordern und die Politik anzutreiben. „Insgesamt reicht das Abkommen nicht aus, um das Massensterben der Arten aufzuhalten“, erklärte etwa Greenpeace-Beobachter Jannes Stoppel. „Es schließt schädliche Aktivitäten wie industrielle Fischerei oder Holzeinschläge in Schutzgebieten nicht prinzipiell aus, womit der Schutz zunächst nur auf dem Papier existiert.“ Stoppel hat recht: Gemessen am großen Ziel, den Verlust von Arten und Lebensräumen bis zum Jahr 2030 zu stoppen und die Natur auf den Weg der Erholung zu bringen, reichen die Ergebnisse von Montreal in der Tat nicht aus.
Russlands Krieg gegen die Ukraine belastete die Konferenz
Das Abkommen aber allein unter diesem Blickwinkel zu betrachten, greift zu kurz. Denn es klammert aus, dass in einem System, das auf Konsens basiert, Übereinstimmungen unter so unterschiedlichen Staaten wie Israel und Iran, Russland und der Ukraine oder auch Frankreich und Argentinien (am letzten Tag der Verhandlungen besonders schwierig) gefunden werden müssen.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Folgen für die Welternährung, Inflation und Energiekosten setzen ungezählte Staaten unter existenziellen Druck. Wenn selbst die reichen Industrieländer plötzlich knappe Kassen fürchten, wie muss dann die Lage in den armen Ländern sein? Dass in dieser Situation überhaupt ein Abkommen zustande gekommen ist, ist eine große Leistung. Dass es zudem gelungen ist, im Kampf gegen die zentralen Ursachen des Biodiversitätsverlustes sehr konkrete Pflöcke einzuschlagen, ist ebenso bemerkenswert.
Noch am Vorabend der Verabschiedung schien das undenkbar. Da hatten nämlich die Regierungen Indiens und Indonesiens im Abschlussplenum offen gedroht, dass sie jedes Abkommen zu Fall bringen würden, das eine Zahlenvorgabe enthalte. Dass die über lange Zeit sehr unauffällige chinesische Konferenzpräsidentschaft sich darüber hinweggesetzt hat und dennoch eine Beschlussvorlage mit konkreten Zahlen vorgelegt hat, ist mutig.
Schrittweise vorwärts
Der chinesische Umweltminister Huang Runqiu kann sich einen nicht unbedeutenden Teil des Erfolges auf seine Fahne schreiben. Es hat sicher geholfen, dass die Biodiversitätsverhandlungen für China die erste große internationale Aufgabe waren, die das Land von den Vereinten Nationen übertragen bekommen hat.
Am Ende zweier Verhandlungswochen in Montreal steht kein „Paris-Abkommen“ – es gibt ein Kunming-Montreal-Abkommen. Dieses bietet eine gute Grundlage, voranzukommen – nicht im gewünschten Tempo, nicht in der nötigen Radikalität, aber schrittweise vorwärts.
Die Recherchen für diesen Beitrag wurden von der Hering-Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können unsere weitere Berichterstattung über Biodiversität mit einem Riff-Abo ermöglichen.