Expertin des Weltwirtschaftsforums: Mehr als Hälfte der Wirtschaftsleistung hängt von Natur ab
Verlust von Biodiversität gefährdet unseren Wohlstand und die Chancen von Milliarden Menschen, warnt Akanksha Khatri
Das Weltwirtschaftsforum (WEF) beschäftigt sich seit längerem auch mit den Auswirkungen der ökologischen Krise auf die Volkswirtschaften der Erde. Im vergangenen Jahr sorgte der globale Risikobericht der einflussreichen Stiftung für große Aufmerksamkeit. Darin bewerteten führende Vertreterïnnen aus Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft den Verlust der biologischen Vielfalt und der Zusammenbruch von Ökosystemen als eine der fünf größten Bedrohungen für die Menschheit in den nächsten zehn Jahren.
Akanksha Khatri ist die Leiterin der Sektion Natur und Biodiversität beim World Economic Forum und Ko-Autorin der viel beachteten Nature Economy Reports der Stiftung. Wir sprachen aus Anlass des Welttages der Biodiversität mit ihr.
Thomas Krumenacker: Wie wichtig ist der Erhalt der biologischen Vielfalt für die Weltwirtschaft?
Akanksha Khatri: Die planetarische Notlage, mit der wir konfrontiert sind, ist nicht mehr nur ein Umweltproblem. Wie die Covid-19-Pandemie zeigt, bedroht die Zerstörung der Natur unser Wohlergehen, aber auch unsere wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Wir brauchen saubere Luft, Wasser und Nahrung zum Überleben als Menschen. Aber genauso brauchen wir die Natur auch für die Sicherung von Unternehmenserfolg und Einkommen für die Menschen. Die Lebensmittelproduktion und die anderweitige Nutzung von Land und Meer sichern 40 Prozent aller Arbeitsplätze und erwirtschaften 12 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das alles gäbe es nicht ohne Biodiversität.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Der weltweite Umsatz von Arzneimitteln, die auf Materialien natürlichen Ursprungs basieren, macht schätzungsweise 75 Milliarden Dollar pro Jahr aus. Naturwunder wie Korallenriffe sind gleichermaßen für die Ernährung und den Tourismus unverzichtbar. Die biologische Vielfalt nimmt jedoch schneller ab als je zuvor in der Geschichte, und das hat schwerwiegende Folgen auch für die Weltwirtschaft. Mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts ist durch den Verlust der Natur gefährdet, und ein weiteres Eindringen in natürliche Ökosysteme erhöht das Risiko künftiger sozioökonomischer Schocks wie Pandemien. Wie Alan Jope, CEO von Unilever, sagte: Auf einem toten Planeten wird es keine Arbeitsplätze geben.
Der Schutz der Natur ist auch wirtschaftlich sinnvoll. Wenn wir so weitermachen wie bisher, zerstören wir genau die Ressourcen und Ökosysteme, von denen das Wirtschaftswachstum abhängt.
Aber es sind doch gerade internationale Großkonzerne, die zu den Hauptantriebskräften bei der Zerstörung der Biodiversität gehören. Wie kann hier ein Kurswechsel gelingen?
Unser traditionelles Wirtschaftsmodell hat die Umweltbelastung als einen externen Faktor betrachtet, der nichts mit der Arbeit der Unternehmen zu tun hat, die sie verursachen. Die Branchen und Konzerne, die ihre Gewinne auf Kosten der Natur gesteigert haben, erkennen jedoch zunehmend, dass dies ein wesentliches Risiko für ihren eigenen Fortbestand darstellt. Unsere Forschung hat ergeben, dass Unternehmen in den drei sozioökonomischen Systemen mit dem größten Einfluss auf die Biodiversität – Lebensmittel, Land- und Meeresnutzung, Infrastruktur und bebaute Umwelt sowie Rohstoff- und Energiegewinnung – am meisten durch ein gestörtes Gleichgewicht der Ökosysteme zu verlieren haben. Sie können daher auch am meisten von einer Umstellung auf naturfreundliche Modelle profitieren.
Stellen Sie denn auch konkret eine größere Bereitschaft bei Unternehmen fest, sich in eine umweltfreundlichere und – weitergehender formuliert – nachhaltigere Richtung zu bewegen?
Viele große Akteure in diesen Sektoren haben die Bereitschaft und den Ehrgeiz, den Wandel anzuführen. Partner der Nature Action Agenda-Initiative des Weltwirtschaftsforums, wie Unilever, Walmart und Kering, haben ehrgeizige Verpflichtungen angekündigt, um den Verlust der biologischen Vielfalt in ihren Geschäftsaktivitäten zu bekämpfen. Diese Unternehmen wollen von der Widerstandsfähigkeit profitieren, die dies für ihre eigene Geschäftstätigkeit mit sich bringt. Unserem jüngsten Bericht zufolge könnte der Übergang zu naturverträglichen Wirtschaftsmodellen in Schlüsselsektoren bis 2030 fast 400 Millionen Arbeitsplätze und einen jährlichen Geschäftswert von über 10 Billionen US-Dollar schaffen.
Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ist kein abstraktes Gebilde, sondern eingebettet in ein soziales System, das wiederum in die Biosphäre eingebettet ist.
Welche Schritte müssen die Firmen konkret gehen?
Nötig sind beispielsweise Investitionen in die Abkehr von fossilen Brennstoffen, die Wiederherstellung von Ökosystemen und die Gewährleistung von Transparenz in den Lieferketten.
Manche sagen, dass die Marktwirtschaft oder das kapitalistische System aufgrund seines Strebens nach immer höheren Profiten und immer weiterem Wachstum das eigentliche Problem hinter dem Verlust der Artenvielfalt ist. Passen Kapitalismus und die Rettung des Planeten zusammen?
Wie gesagt, der Schutz der Natur macht auch wirtschaftlich Sinn. Einfach ausgedrückt: Wenn wir so weitermachen wie bisher, zerstören wir genau die Ressourcen und Ökosysteme, von denen das Wirtschaftswachstum abhängt. Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ist kein abstraktes Gebilde, sondern eingebettet in ein soziales System, das wiederum in die Biosphäre eingebettet ist. Daher müssen wir das Wirtschaftssystem in ein System umwandeln, das sowohl für diejenigen, die es nutzen, als auch für den Planeten besser funktioniert.
Das ist aber ohne erhebliche finanzielle Investitionen nicht zu stemmen. Sind Unternehmen und Gesellschaften dazu bereit?
Der Übergang zu einem naturverträglichen Geschäftsmodell und einer naturverträglichen globalen Wirtschaft mag zwar Vorabinvestitionen erfordern, doch diese verblassen im Vergleich zu den wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Untätigkeit. Die Natur ist unsere beste Versicherungspolice gegen zukünftige Schocks, und diejenigen, die den Übergang frühzeitig vollziehen, werden wahrscheinlich mit größerer Stabilität, Widerstandsfähigkeit und Produktivität in der Zukunft belohnt.
Wir sehen gerade jetzt an der Covid-Pandemie, welche enormen Kosten ein ausbeuterischer Umgang mit der Natur haben kann – gesellschaftlich und ökonomisch. Trotzdem werden die Zusammenhänge oft ignoriert und die riesigen Pakete für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie enthalten oft Maßnahmen, die für eine Fortführung des Weges stehen, der uns in die Öko-Krise geführt hat, anstatt eine naturverträgliche Richtung einzuschlagen. Wie beurteilen Sie die Konjunkturpakete? Können Sie einen wesentlichen Beitrag zur Umkehr der Dinge leisten?
Viele Länder haben grüne Konjunkturpakete angekündigt, um mit den sozioökonomischen Folgen der Pandemie fertig zu werden. Pakistan zum Beispiel investiert in ein groß angelegtes Aufforstungsprogramm, das bereits im Gange ist, während Frankreich und Dänemark sich auf den Übergang zu effizienteren und erneuerbaren Energien konzentrieren. Laut einer aktuellen OECD-Studie umfassen jedoch nur 17 Prozent aller Konjunkturausgaben grüne Maßnahmen, und zu viele Investitionen gehen in Branchen, die drastisch reformiert werden müssen. Obwohl es also einige ermutigende Beispiele gibt, ist noch mehr nötig.
Wir haben die einmalige Gelegenheit, die Beziehung der Menschheit zur Natur neu zu gestalten und ein Wirtschaftsmodell zu entwerfen, das Ökosystemleistungen und deren Schutz wertschätzt und belohnt.
Wie könnte das erreicht werden?
Konjunkturpakete sollten mit starken flankierenden Maßnahmen kombiniert werden. Dazu gehört die Streichung schädlicher Subventionen, die nicht dem öffentlichen Wohl dienen, und die Unterstützung von Menschen durch Ausbildung und Umschulung in grüne Jobs. Eine aktuelle Studie des IWF zeigt, dass jeder Dollar, der von Regierungen für die Bekämpfung des Klimawandels und des Verlusts der Artenvielfalt ausgegeben wird, mehr als einen Dollar an Rendite einbringt. Wir haben die einmalige Gelegenheit, die Beziehung der Menschheit zur Natur neu zu gestalten und ein Wirtschaftsmodell zu entwerfen, das Ökosystemleistungen und deren Schutz wertschätzt und belohnt.
Es ist von entscheidender Bedeutung, die Natur als globales öffentliches Gut anzuerkennen, und deshalb müssen die entwickelten Volkswirtschaften zum Beispiel weniger entwickelte waldreiche Länder unterstützen, die unter einer hohen Schuldenlast ächzen. Einige Länder und internationale Finanzinstitutionen prüfen Optionen wie den Tausch von Schulden gegen Natur. Ähnliche Anstrengungen können unternommen werden, um Lebensgrundlagen und lokale Arbeitsplätze durch die Stärkung von Nationalparks und Schutzgebieten zu unterstützen.
Ökosystemleistungen sind von enormer Wichtigkeit, wie auch Sie betont haben. Wie kann es besser gelingen, diese Leistungen ökonomisch sichtbar zu machen?
Ökosystemleistungen sind die natürlichen Prozesse, die uns mit den Ressourcen versorgen, die wir zum Überleben und für unseren Wohlstand brauchen. Diese Leistungen werden seit langem auf verschiedene Weise gemessen. Zum Beispiel ist die Bestäubung eine Ökosystemleistung, die über 200 Milliarden Dollar pro Jahr wert ist. Die monetäre Bewertung des Beitrags der Natur für die Gesellschaft und die Wirtschaft ist ein Weg, um sicherzustellen, dass Unternehmen und Wirtschaftsakteure sie neben anderen Formen von Kapital in ihrer Buchhaltung und Planung berücksichtigen.
Das geschieht aber nicht in ausreichendem Umfang …
Für Unternehmen und Wirtschaftsakteure ist es nicht neu, dass sie versuchen, Risiken vorherzusagen und zu vermeiden. Aber es ist dringend notwendig, dass sie die finanzielle Relevanz von Risiken anerkennen und in ihre Überlegungen einbeziehen, die durch nicht intakte Ökosysteme und die damit verbundene Beeinträchtigung ihrer Ökosystemleistungen entstehen. Indem sie die Natur in den Mittelpunkt ihrer Prozesse und Entscheidungen stellen und naturbezogene Risiken systematisch identifizieren, bewerten, abmildern und offenlegen, können Unternehmen und andere Wirtschaftsakteure schwerwiegende Folgen für ihre Aktivitäten vermeiden und ihre Gewinne langfristig tatsächlich schützen.
Klimaschutz und Erhalt der Biodiversität gehören zusammen: diese Erkenntnis setzt sich nur langsam durch. Das Stichwort hierzu lautet naturbasierte Lösungen oder Nature-based Solutions. Sie zielen darauf ab, Ökosysteme zu schützen und damit zugleich den Abbau von Treibhausgasen zu fördern oder deren Freisetzung zu verhindern. Welche Chancen bieten sie auch mit Blick auf die Wirtschaft?
So wie unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften untrennbar mit der biologischen Vielfalt verbunden und von ihr abhängig sind, so sind auch Naturverlust und Klimawandel miteinander verbunden. Und deshalb bringt es große Vorteile für die Menschen und den Planeten, wenn sie gemeinsam angegangen werden. Naturbasierte Lösungen sind Maßnahmen, die natürliche Ökosysteme schützen, wiederherstellen und nachhaltig bewirtschaften und gleichzeitig gesellschaftliche Probleme lösen. Sie haben ein enormes Potenzial zur Erhöhung der wirtschaftlichen und existenziellen Widerstandsfähigkeit und sollten Teil der Strategie jeder zukunftsorientierten Organisation sein, die sich zu einer einer naturfreundlichen Netto-Null-Wirtschaft bekennt.
Wie groß ist das ökonomische Potenzial naturbasierter Lösungen?
Wir haben in unserem Bericht gezeigt, dass naturbasierte Lösungen bis zu einem Drittel der Einsparungen liefern könnten, die wir brauchen, um bis 2030 einen 1,5 bis 2˚C-Pfad zu erreichen – und das zu geringeren Kosten als andere Formen der CO2-Minderung. Naturbasierte Lösungen können auch Millionen von Arbeitsplätzen schaffen, die die ländliche Wirtschaft ankurbeln, ohne der Umwelt zu schaden. Ein anschauliches Beispiel aus der Praxis sind Modelle für eine nachhaltige Landwirtschaft, die die Kohlenstoffbindung, die Bodengesundheit und ein verbessertes Einkommen für die Landwirte unterstützt. Indirekt sind naturbasierte Lösungen auch deshalb gut für die Wirtschaft, weil sie die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen fördern.
Sehen Sie eine einhellige Unterstützung für das Thema Naturschutz innerhalb des Weltwirtschaftsforums und was sind Ihre Pläne, um das Thema Biodiversitätserhalt weiter auf der Agenda zu halten?
Innerhalb des Forums gibt es eine starke Anerkennung, dass die Zukunft „netto-zero“ und „natur-positiv“ sein muss. Um den Naturverlust zu stoppen, ist es entscheidend, die Ziele der Naturerhaltung, ihrer Wiederherstellung und des nachhaltigen Ressourcenmanagements ganzheitlich zu betrachten. In unserer Wald-Initiative 1T.org arbeiten wir mit wichtigen Wirtschaftsführern zusammen, um Land und Wälder zu schützen und wiederherzustellen. 1T.org unterstützt das Ziel der Wiederherstellung des Großen Grünen Gürtels in Afrika, die beginnend in der Sahel-Region eine durchaus kühne Vision zur Wiederherstellung von 100 Millionen Hektar degradierten Landes auf dem gesamten Kontinent bis 2030 verfolgt.
Aber die Arbeit hört hier nicht auf. Vor kurzem haben wir die Initiative 100 Million Farmers ins Leben gerufen, die den Wandel des Nahrungsmittel- und Landwirtschaftssystems hin zu einem regenerativen Modell vorantreiben wird, sowie die Initiative „BiodiverCities by 2030“, die ein Stadtentwicklungsmodell im Einklang mit der Natur schaffen soll. Solche Umbauprozesse der größten Treiber des Naturverlustes sind entscheidende Ergänzungen zu globalen Naturschutzinitiativen.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.