Vogelgrippe-Pandemie im Tierreich: „Eine Bedrohung für die globale Artenvielfalt“
Die Vogelgrippe wütet in immer mehr Weltregionen. Entlang von Küsten, Flüssen und Feuchtgebieten breitet sich die Influenza-Pandemie aus – mit fatalen Folgen für die Biodiversität. Das rückt auch den mangelnden Schutz von Feuchtgebieten in den Fokus
Rot, wohin man sieht: Ein Blick auf die digitale Europakarte des „Bird Flu Radars“ der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) reicht aus, um den Ernst der Lage zu erfassen. Das Frühwarnsystem für Ausbrüche der Vogelgrippe weist seit Monaten extrem hohe Risiken für weite Teile des Kontinents aus. 37 europäische Staaten sind vom Ausbruch der Influenza-Welle betroffen. Auch auf fast allen anderen Kontinenten wütet das Virus. Einzige Ausnahmen bisher: das Festland der Antarktis und Australien. Doch auch diese Bastionen gegen die tödliche Welle wackeln. Längst wird die Epidemie von Wissenschaftlern als sogenannte „Panzootie“ eingestuft – als Pandemie im Tierreich.
Auch in Deutschland weiter auf dem Vormarsch
Auch in Deutschland nimmt der Erreger gerade wieder an Fahrt auf. „Wir haben eine Zunahme von Nachweisen in Wildvögeln und wir sehen parallel dazu auch wieder einen Anstieg der Fälle in der Geflügelhaltung“, sagt Timm Harder. Der Infektionsmediziner leitet das Nationale Referenzzentrum für die Aviäre Influenza – umgangssprachlich Vogelgrippe – des staatlichen Friedrich-Loeffler-Instituts. Die Zahl der Proben, die Harder und seine Kolleginnen und Kollegen auf der Ostseeinsel Riems aus ganz Deutschland analysieren, sind ein Barometer für den Verlauf der Infektionswelle mit dem Hochpathogenen Aviären Influenza-Virus (HPAI) in Deutschland.
Das Virus reist per Geflügeltransport oder Zugvogel
Zum ersten Mal tauchte der Erreger der derzeit dominierenden Linie H5N1 1996 in einer Geflügelzucht in der südchinesischen Provinz Guandong auf, in der viele Enten auf engem Raum gehalten wurden. Von dort aus trat es seinen Siegeszug um die Erde an. Große Ausbrüche der Krankheit mit Massensterben unter Wildvogelarten und in Geflügelzuchten pflastern seitdem seinen den Weg. Hunderte Millionen Vögel und Zehntausende Säugetiere sind dem Erreger schon zum Opfer gefallen.
Deutschland erreichte das Virus über den Geflügelhandel und über Wildvögel. Mit dem Wattenmeer an der Nordsee und der Ostseeküste liegen hier zwei der wichtigsten Drehscheiben des interkontinentalen Vogelzugs. Dort und an großen Seen, die ebenfalls von Zugvögeln zum Überwintern aufgesucht werden, traten in den ersten Jahren auch fast alle Infektionen auf. Durch beständige Anpassung an seine Umgebung hat der Erreger mittlerweile aber viele seiner Eigenschaften stark verändert – und ist damit noch gefährlicher geworden. So hat er eine in der Geschichte der Vogelgrippe bislang beispiellose Fähigkeit erreicht, immer neue Arten zu befallen. Zudem breitet H5N1 sich schneller aus als frühere Subtypen.
Gekommen, um zu bleiben
Vor allem in den Jahren seit 2020 hat das Virus einen massiven Sprung gemacht, der Expertinnen und Experten weltweit alarmiert. Von Europa aus erreichte das Virus seitdem den Nahen Osten, Afrika und 2021 über die britischen Inseln und Island die USA. Von dort breitete es sich 2022 nach Mittel- und Südamerika aus. Inzwischen sind mehr als 80 Länder betroffen. Auf all seinen Etappen hinterließ das Virus eine verheerende Todesspur unter Wildvögeln und zunehmend auch unter Säugetieren, die verendete Vögel gefressen oder sich über deren Kot infiziert haben. Im Nahen Osten starben tausende überwinternde Kraniche aus Europa, in Afrika traf es ungeheure Zahlen von Seeschwalben, auf den britischen Inseln und im gesamten Ostatlantik bis zu den USA raffte das Virus ganze Kolonien mit Hunderttausenden Seevögeln dahin, und in Südamerika starben Zehntausende Kormorane, Pinguine und Tölpel.
Schlimmer als DDT?
Vogelexperten stellen die Gefahr durch die Vogelgrippe inzwischen in eine Reihe mit den fatalen Folgen des Pestizids DDT, dessen massenhafter Einsatz bis zu seinem Verbot in den 1970er Jahren zahlreiche Vogelarten an den Rand des Aussterbens brachte. „Wahrscheinlich ist die Vogelgrippe noch schlimmer in ihren Auswirkungen als die DDT-Krise“, sagt Ursula Höfle. Die Professorin am spanischen Nationalen Wildforschungsinstitut an der Universität von Castilla-La Mancha erforscht die Panzootie seit vielen Jahren. Die Tierseuche betreffe viel mehr Arten und es sei noch völlig unklar, welche Konsequenzen der mit den Massensterben einhergehende große Verlust im Genpool der betroffenen Populationen habe, argumentiert sie. Möglicherweise mache die Schwächung die Vögel weniger widerstandsfähig, auch gegen andere Krankheiten.
Höfle fürchtet bei einer Fortsetzung der Pandemie das Aussterben ganzer Arten, mit unabsehbaren Folgen auch für die Ökosysteme, in denen jede einzelne Spezies eine wichtige Rolle für das Funktionieren des gesamten Lebensnetzes einnimmt. „Wir erleben weltweit eine so schwierige Situation für viele Wildvogelarten, wie wir das noch nie gehabt haben“, sagt auch Virenexperte Harder vom Loeffler-Institut. Das Ausmaß der Pandemie sei zu groß, als dass man den Tod unzähliger Wildvögel als eine Art Kollateralschaden akzeptieren dürfte, mahnt er.
Vogelgrippe trifft auf eine bereits stark gestresste Tierwelt
Epidemien im Tierreich hat es schon früher gegeben. Der gegenwärtige Ausbruch der Vogelgrippe wird aber von Seuchenexperten, Umweltwissenschaftlern und Naturschützen einhellig als eine bislang beispiellose neue Dimension angesehen.
Dass die Vogelgrippe sich zu einer akuten Bedrohung für einige Arten entwickeln konnte, liegt auch daran, dass Wildtiere durch viele andere Stressfaktoren bereits geschwächt sind und in ihren Populationen seit langem zurückgehen. Dazu zählt, wenn Menschen ihre Lebensräume verkleinern oder zerstören, oder wenn sie mit Giften etwa aus der Landwirtschaft belastet sind.
Hinzu kommt, dass die industrielle Tierhaltung, in der das Virus entstanden ist, die Ausbreitung der Seuche beständig befeuert. Wissenschaftler fordern von der Politik deshalb, die Massentierhaltung grundsätzlich zu überdenken und durch einen besseren Naturschutz Rückzugs- und Erholungsräume für Wildtiere zu schaffen.
Rund 400 verschiedene Vogelarten sind befallen
Tötete die Infektion in den Anfangsjahren fast ausschließlich Wasservögel wie Schwäne und Enten, weitet sich das Spektrum der befallenen Tiere seit einigen Jahren beständig aus. In Deutschland dezimiert die Seuche inzwischen auch zahlreiche Wanderfalken; auch Seeadler, Bussarde und vor allem Lachmöwen sterben in großer Zahl. „Inzwischen wissen wir von 400 Vogelarten, die betroffen sind“, sagt Höfle. Wie genau sich das Virus seine Opfer auswählt, sei immer noch nicht vollständig geklärt.
Selbst unter nahe verwandten Arten gibt es Unterschiede. Während etwa die stark bedrohten europäischen Krauskopfpelikane durch Ausbrüche in existenzielle Gefahr gerieten, erwiesen sich die nahe verwandten Rosapelikane als deutlich weniger anfällig, berichtet Höfle. Das könne sich aber jederzeit ändern, wie andere Beispiele zeigten. „Wir haben schon sehr viele Überraschungen mit diesem Virus erlebt“, sagt die Wissenschaftlerin. „Das Virus scheint in der Lage zu sein, so gut wie jede Vogelpopulation zu infizieren, auf die es trifft“, glaubt auch Ian Brown, Chefwissenschaftler der britischen Tiergesundheitsbehörde Apha.
Das Virus sortiert sich ständig neu
Dass mittlerweile eine so hohe Zahl an unterschiedlichen Vogelarten von der Tierseuche betroffen ist, liegt auch an der Wandlungsfähigkeit des Erregers. Harder und seine Kollegen auf Riems haben festgestellt, dass das Virus seine genetische Ausstattung turnusmäßig verändert und möglicherweise deshalb besser auf neue Arten überspringen kann.
In Deutschland vollziehe sich gerade wieder ein solcher Wechsel des Genotyps, sagt Harder. Der neue Typ befalle Gänse leichter, während die zuvor vorherrschende Genkombination vor allem für Lachmöwen sehr tödlich war. Das könnte für einige Seeschwalbenarten eine gute Nachricht sein, die durch die massiven Ausbrüche vor allem 2022 enorm dezimiert wurden, für andere Arten dagegen eine schlechte: „Es kann auch dazu führen, dass neue Arten besonders gefährdet sind“, sagt Harder. In den vergangenen Jahren waren auch in Deutschland mit dem Wechsel der Genotypen stets neue Arten betroffen.
Vom Eisbären bis zur Robbe: Auch immer mehr Säugetiere sterben an Vogelgrippe
Weltweit befällt das Virus seit einiger Zeit auch immer mehr Säugetiere. Der Weltgesundheitsorganisation wurden bereits 26 betroffene Arten gemeldet. Das Spektrum reicht von streunenden Katzen und Hunden über Nerze in Pelzfarmen bis zu Füchsen und Bären oder in Zoos gehaltenen Tigern und Leoparden. Vor kurzem wurde der erste Fall eines Eisbären in Alaska bestätigt.
Wie bei den Vögeln auch, sind auch bei Säugetieren solche Arten besonders anfällig, die am oder im Wasser leben. Immer mehr Robben, Seelöwen und Seeelefanten zählen zu den Opfern. Auch diese Säugetiere leben häufig eng an eng in Kolonien. Das erleichtert dem Virus, von einem Individuum zum anderen zu springen. Im vergangenen Jahr starben am Kaspischen Meer rund 700 der weltweit nur dort vorkommenden Kaspischen Robben an dem Virus. In Südamerika fielen entlang der Küste Patagoniens in Argentinien zuletzt nach Schätzungen von Wissenschaftlern rund 17.000 Seeelefanten-Welpen der Zoopathie zum Opfer – beinahe der gesamte Nachwuchs der Art. Auch in Chile, Uruguay und Ecuador kam es zu Massensterben.
Feuchtgebiete und Küsten sind Hotspots
Feuchtgebiete und Küsten sind aus zwei Gründen besonders stark durch die Seuche betroffen. Sie sind vor allem während des Winters und in den Vogelzugzeiten häufig Treffpunkte für sehr viele Vögel aus sehr unterschiedlichen Regionen. Außerdem überlebt und überträgt sich das Virus besonders gut im Wasser. „Bei kalten Temperaturen kann das Virus im Wasser mehrere Tage oder sogar Wochen infektiös bleiben“, sagt Harder. Wenn dann nach Nahrung unter der Wasseroberfläche gründelnde Enten oder Schwäne im flachen Wasser eines Sees Sand aufwirbeln, könnten damit auch abgesunkene Viren wieder freigesetzt werden.
So kann selbst dann noch eine Infektion ausgelöst werden, wenn der Vogel, der die Infektion eingeschleppt hat, schon lange nicht mehr auf dem See schwimmt. „Die Übertragbarkeit dieser Viren mit dem Oberflächenwasser ist so gut, dass sie sich vor allem in Wasservogelpopulationen sehr rasch ausbreiten“, sagt Harder.
Das Virus kennt keine Jahreszeiten mehr
In einer weiteren Anpassung des Virus sehen Wissenschaftler den wohl wichtigsten Grund dafür, dass sich die Aviäre Influenza von einem Problem einzelner Populationen zu einer Katastrophe für weite Teile des Tierreichs entwickelt hat: Das Virus kennt anders als früher keine Jahreszeiten mehr – Wissenschaftler sprechen vom Verlust der Saisonalität.
Wütete die Vogelgrippe in den ersten Jahren – ganz wie die Grippe bei Menschen – ausschließlich in den kalten Wintermonaten und verschwand zwischen einzelnen Massenausbrüchen jahrelang von der Bildfläche, hat sich der Erreger mittlerweile vielerorts dauerhaft festgesetzt und schlägt das ganze Jahr über zu.
„Es herrscht international Konsens darüber, dass das Virus in europäischen Wildvogelpopulationen inzwischen endemisch geworden ist“, sagt Harder. „Wir haben in jeder Woche durchgehend infizierte Wildvögel, mal mehr, mal weniger – aber das Virus verschwindet nicht mehr vollständig.“ Die verheerende Folge dieser Entwicklung ist, dass die Vogelgrippe jetzt auch in der besonders sensiblen Brutzeit ausbricht und dabei Elterntiere und auch den Nachwuchs tötet.
Sommer-Ausbrüche töten den Nachwuchs gleich mit
Wie katastrophal solche Ausbrüche in der Fortpflanzungssaison sind, zeigte sich zuletzt in Deutschland und den Niederlanden: Hier wurden tausende Paare der hierzulande vom Aussterben bedrohten Brandseeschwalben Opfer der Pandemie. Auch in der weltweit größten Kolonie von Basstölpeln in Schottland starben 70 Prozent der Altvögel – viele Küken verhungerten oder wurden ebenfalls durch das Virus getötet. Und in Griechenland wurde mit einem Schlag fast die Hälfte der in Europa lebenden Krauskopfpelikane vernichtet – einer ohnehin stark vom Aussterben bedrohten Vogelart.
Die Sterblichkeit vieler Vogelarten durch den Sommer-Ausbruch 2022 war so groß, dass im folgenden Frühling in vielen Kolonien in Europa viel weniger Vögel brüteten als normalerweise. Einige Kolonien verwaisten sogar komplett, weil der gesamte Nachwuchs im Vorjahr umgekommen ist. Die Vögel, die den Staffelstab der Fortpflanzung übernehmen sollten, gab es nicht.
Die letzten Bastionen wackeln
Vor einer ähnlichen Situation wie Europa steht derzeit Südamerika, wo große Teile des Nachwuchses einiger Vogel- und Säugetierarten umgekommen sind. Seit ein paar Wochen wankt mit der Antarktis sogar das neben Australien letzte Bollwerk gegen die Tier-Pandemie. Seit Oktober melden Wissenschaftler Infektionen von Wildtieren auf antarktischen Inseln in gefährlicher Nähe zum Festland der antarktischen Halbinsel. Die ersten toten Vögel fanden Forscher auf der für ihren Vogelreichtum bekannten Südgeorgien vorgelagerten Insel Bird Island. Inzwischen sind auch von Südgeorgien selbst zahlreiche Fälle toter Braunskuas – einer nur in der Antarktis vorkommenden Raubmöwe – Dominikanermöwen und der ebenfalls für die Region endemischen Antarktisseeschwalbe bestätigt. Auch hunderte Seeelefanten und Robben sind in den vergangenen Wochen gestorben.
„Eine der größten ökologischen Katastrophen der Neuzeit“
Mit Südgeorgien ist das Virus in den unmittelbaren Einzugsbereich des arktischen Festlands vorgedrungen. Wissenschaftler warnen davor, dass das hochansteckende Virus beim Erreichen der riesigen Pinguinkolonien auf dem Festland „eine der größten ökologischen Katastrophen der Neuzeit“ auslösen könnte.
Norman Ratcliffe vom britischen Polarforschungsinstitut British Antarctic Survey ist einer der Entdecker des Ausbruchs auf Südgeorgien. Auch er geht davon aus, dass das antarktische Festland mit den Infektionen auf den vorgelagerten Inseln nun in Reichweite der Pandemie geraten ist. Die größte Sorge machen ihm die Ergebnisse der Genanalyse der tot aufgefundenen Vögel.
Die Laboruntersuchungen hatten ergeben, dass sich die Vögel mit großer Wahrscheinlichkeit in Südamerika infiziert hatten und das Virus von dort aus auf die antarktischen Inseln eingeschleppt haben. „Die Entfernung, die diese Vögel aus ihrem Herkunftsgebiet in Südamerika nach Südgeorgien zurückgelegt haben, ist größer als die Strecke, die sie fliegen müssten, um das antarktische Festland zu erreichen“, rechnet er vor. Mit anderen Worten: Das Festland ist in Reichweite auch von infizierten Vögeln.
Auch Australien in Reichweite der Pandemie
Auch die für ihre einmalige Tierwelt berühmten Ozeanischen Inseln, allen voran Australien, geraten mit dem Vordringen des Virus in die Antarktis in Gefahr. Ratcliffes Kollegin Meagan Dewar von der australischen Federation University hat an eine Risikostudie über die Ausbreitung der Vogelgrippe in der Region mitverfasst. Darin bewerten die Expertinnen und Experten das Vordringen des Virus über die antarktischen Inseln nach Ozeanien als plausibles Szenario. Studien an Wanderalbatrossen hätten gezeigt, dass die Meeresvögel die rund 10.000 Kilometer Distanz zwischen Feuerland an der Südspitze Südamerikas bis Neuseeland in etwa sechs Tagen bewältigen könnten. Weil dieser Zeitraum innerhalb der Inkubationszeit des Virus liege, sei es möglich, dass auch infizierte Vögel die weite Strecke überwinden könnten, bevor sie dem Virus erliegen.
Für noch wahrscheinlicher als über die antarktischen Inseln halten Ratcliffe und Dewar es aber, dass das Virus Australien über Südostasien erreichen könnte. Dort verläuft eine der weltweit wichtigsten Vogelzugrouten entlang des Ostpazifik Millionen von Watvögeln ziehen dort in jedem Herbst auf ihrem Weg von Sibirien südlich bis nach Australasien entlang.
Welche Folgen der Ausbruch der Vogelgrippe in der Antarktis oder in Australien haben könnte, ist völlig offen. Aber das Virus würde ideale Bedingungen vorfinden: Viele nur dort lebende Vogelarten von Pinguinen bis zu Seevögeln brüten konzentriert in wenigen, dafür aber riesigen Kolonien mit Hunderttausenden, manchmal Millionen Paaren. Und die bislang nie mit dem Virus in Kontakt gekommenen Tiere sind „immun naiv“, verfügen also über keine Abwehr. „Ein existenzielles Risiko besteht vor allem für die vielen Arten, die nirgendwo sonst vorkommen“, sagt Ratcliffe.
Eine gute Nachricht hält der Forscher aber auch bereit: Auf Südgeorgien seien trotz des Virus-Ausbruchs unter anderen Vögeln bislang weder Pinguine noch Albatrosse von der Seuche betroffen. Allerdings meldeten die Behörden der nahegelegenen Falkland-Inseln Anfang Februar den Tod von mehr als 200 Eselspinguinen durch das Virus. Weil diese Art aber nicht zieht, sehen Experten darin keine zusätzliche Gefahr für das antarktische Festland. Gleichwohl sei die Infektion der Vögel ein Beleg dafür, dass auch Pinguine anfällig sein könnten.
Biodiversitätsverlust rückt ins Blickfeld
Weltweit wird die Virus-Pandemie bislang vor allem als ein ökonomisches Problem der Geflügelwirtschaft angesehen. Entsprechend fließen Geld, Material und Personal vor allem in die Überwachung und Beseitigung von Ausbrüchen in Geflügelhaltungen. Während es zur Bekämpfung der Vogelgrippe in der kommerziellen Haltung mittlerweile ein eingespieltes System zur Eindämmung von Ausbrüchen und viel Geld aus Steuermitteln gebe, werde der Schutz der Biodiversität vor der Seuche immer noch vernachlässigt, kritisiert der Zugvogel-Experte des internationalen Naturschutz-Dachverbands BirdLife International, Willem van der Bossche.
Bei Ausbrüchen in der Natur hätten Helfer besonders in ärmeren Weltregionen manchmal nicht einmal genug Geld, um den Treibstoff für Boote zu bezahlen, mit denen sie die Kadaver einsammeln. „Dabei ist bei der Vogelgrippe wie bei jeder Infektionskrankheit die Beseitigung der Infektionsherde die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung eines Ausbruchs“, sagt er. „Für die Welt der wilden Vögel gibt es aber weder Geld noch ein Prozedere“, kritisiert van den Bossche.
Dabei sind sich Veterinärexperten, Populationsforscher und Naturschützer einig, dass die Vogelgrippe sich inzwischen „zu einer existenzielle Bedrohung für die biologische Vielfalt der Welt“ entwickelt hat, wie der Direktor der internationalen Naturschutzorganisation Wildlife Conservation Society, Chris Walzer, warnt.
„Auch in Europa gibt es Arten, die unter großem Risiko stehen“, warnt Höfle mit Blick auf Spezies, die bereits durch andere Faktoren wie die Zerstörung ihrer Lebensräume, Verfolgung durch Menschen oder auch den Klimawandel unter Druck stehen. Die kleine europäische Population des Waldrapps zählt sie ebenso dazu wie den Krauskopfpelikan. „Das sind Arten, bei denen es nicht viel Reserve gibt und wenn das Virus dort kräftig zuschlägt, kann es durchaus dazu führen, die Art über den Abgrund zu schieben.“
Auch die Vereinten Nationen sind alarmiert
Das dramatische Ausmaß der Pandemie schreckt auch politische Institutionen weltweit auf. Erstmals forderten die Welternährungsorganisation FAO und die UN-Organisation zum Schutz wandernder Arten CMS die Politik vor einigen Monaten gemeinsam auf, dem Problem mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
„Die hochpathogene Influenza darf nicht mehr nur als Gefahr für die Geflügelproduktion und die Wirtschaft angesehen werden, sondern muss auch als erhebliche Bedrohung für die Wildtierwelt angesehen werden“, erklären die Experten und fordern die Regierungen weltweit auf, mehr Geld auch für den Schutz der Wildtierpopulationen bereitzustellen.
Massentierhaltung ermöglicht Pandemie
Neben mehr Geld für Forschung und Eindämmungsmaßnahmen nach einem Ausbruch fordern Naturschützer und Veterinärexperten konkrete Konsequenzen. Sie plädieren dafür, der Natur mehr von menschlicher Nutzung ungestörte Rückzugsräume zur Regeneration zu geben. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Vögel nicht nur in wenigen großen Kolonien brüten können, sondern verteilt auf viele Orte“, sagt van der Bossche. „Selbst riesige Seevogelkolonien mit Hunderttausenden Paaren können in wenigen Tagen ausgelöscht werden – deshalb brauchen wir überall soviel Natur wie möglich und nicht nur wenige isolierte Schutzgebiete.“
Auch Höfle sieht in mehr Naturschutz eine Antwort auf die Krise. „Es muss auf jeden Fall mehr für den Schutz der Lebensräume und der Kolonien getan werden“, sagt sie. Die Anfälligkeit für das Virus hänge bei einigen Arten wahrscheinlich damit zusammen, dass sie wegen anderer Umweltprobleme bereits unter einem großen Stress stünden. „Es ist sehr wichtig, alles zu tun, um andere Stressfaktoren für die Vogelpopulationen abzumildern – einige können wir nicht zu ändern, wie der Klimawandel, andere können wir ändern.“
Dazu zählt die Forscherin etwa unsere Art des Umgangs mit Geflügel. „Diese Panzootie hat ihren Ursprung in der Hühnerhaltung und in unserer Art von Tierproduktion, bei der Hunderttausende oder sogar Millionen von Hühnern auf einem einzigen Hof gehalten werden“, sagt sie. „Das ist eine Fabrik für solche Viren – solche Systeme müssen wir überdenken.“
Hoffnung auf Immunität
Als Hoffnungsschimmer sieht Virologe Harder die Möglichkeit, dass die überlebenden Vögel einen Immunschutz aufbauen und so zur geringeren Anfälligkeit künftiger Generationen beitragen. Hinweise darauf gibt es. So zeigen Basstölpel offenbar durch eine schwarze Färbung ihrer gewöhnlich hellen Iris an, dass sie eine Infektion überstanden haben. Als Fortschritt sieht es Harder auch an, dass in der EU inzwischen die Impfung von Geflügel gegen die Vogelgrippe erlaubt ist. Das eröffne die Option, dass Geflügel besser gegen Viruseinfälle aus der Wildvogelpopulation geschützt werden könnte. Für Wildvögel wünscht er sich einen „Sprung nach vorne“ in den internationalen Bemühungen, auch für sie einen Impfstoff zu entwickeln, der unschädlich über eine große Fläche ausgebracht werden kann. „Bislang ist das im großen Maßstab nicht realistisch“, bedauert Harder.
Pionier der Wildvogelimpfung gegen das Virus sind die USA. Dort wurden gerade mehrere Dutzend der vom Aussterben bedrohten Kalifornischen Kondore geimpft. Allerdings leben nur noch rund 300 der Geier in Freiheit.
Auch Ornithologin Höfle hat die Hoffnung auf Ende der Infektionswelle nicht aufgegeben. „Der bisherige Verlauf der Pandemie hat gezeigt, dass es immer einzelne Tiere gibt, die eine Welle überleben und möglicherweise eine Immunität aufbauen“, sagt auch sie. „Und es gibt inzwischen Beispiele für Arten, bei denen sich Ausbrüche trotz ähnlicher Voraussetzungen nicht wiederholt haben.“
Naturschützer van den Bossche schöpft Hoffnung aus der Tatsache, dass die Vogelgrippe keine dauerhaften Auswirkungen auf Lebensräume wie Feuchtgebiete habe. „Wenn das Virus einmal verschwunden ist, können sie sich wieder zu wertvollen Refugien zurückentwickeln, in die Vögel zurückkehren können – bei menschlichem Raubbau wird der Lebensraum dagegen oft so zerstört, dass es keinen Weg zurück gibt.“
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde durch die Andrea von Braun Stiftung gefördert.