Eine Zeitenwende für die Natur?
Vor einem Jahr startete das Volksbegehren Artenvielfalt in Niedersachsen. Was es gebracht hat – und was nicht – zeigt, dass die Natur in ganz Deutschland neue Verbündete braucht
Ich habe einen Traum: Dass auf den Wiesen rund um mein Dorf wieder Kiebitze balzen und Kuckuckslichtnelken blühen, dass an den Feldrändern neue Schlehenhecken sprießen und der Dorfbach, zurzeit ein dünner, schnurgerader Strich durch die Landschaft, wieder Kurven ziehen darf.
Seit Jahren schon trage ich diesen Traum mit mir herum, obwohl – oder gerade weil – die Wirklichkeit ihm eher widerspricht. Ich lebe im ländlichen Nordniedersachsen, besondere Kennzeichen: Mais-, Kartoffel- und Grasäcker im Großformat, durchsetzt mit Nutzholzforsten und Gewerbegebieten. Ich bin schon froh, wenn ich im Frühjahr noch ein paar Lerchen höre, am Wegrand Hahnenfüße blühen sehe, und die letzten verbliebenen Feldhecken vom Schredder verschont geblieben sind.
Schon zum vierten Mal stimmten die Menschen in einem Bundesland für mehr Naturschutz ab
Vor einiger Zeit aber erschien mir mein Traum plötzlich realistischer als sonst. Da las ich vom Volksbegehren Artenvielfalt in Niedersachsen, dem bereits vierten seiner Art in Deutschland. Den Anfang hatten bayrische Aktivistinnen und Aktivisten gemacht, die mit dem Aufruf „Rettet die Bienen!“ im Februar 2019 innerhalb von nur zwei Wochen über 1,7 Millionen Menschen dazu bewegten, ein neues bayrisches Naturschutzgesetz zu fordern. Es folgten zwei Aktionen in Brandenburg und Baden-Württemberg, die aus unterschiedlichen Gründen vorzeitig beendet wurden; im vergangenen Sommer haben Menschen in Nordrhein-Westfalen mit einer noch laufenden Volksinitiative nachgezogen.
In meinem Bundesland startete das Volksbegehren Artenvielfalt, genau gesagt seine erste Phase, offiziell am 2. März 2020. Initiiert hatten es die Landesverbände von NABU und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Deutsche Berufs- und Erwerbsimkerbund; mitgetragen wurde es von über 200 Bündnispartnern – lokalen Umweltinitiativen ebenso wie Forschungsinstituten, Gewerkschaften, Unternehmen und NGOs. Die Forderungen des Bündnisses umfassten 17 Punkte, ausformuliert in einem „Gesetz zur Sicherung der Arten- und Biotopvielfalt in Niedersachsen“. Die meisten davon standen – und stehen – seit Jahren auf den To-do-Listen von Naturschutzfachleuten: Ausbau des Ökolandbaus (mindestens 20 Prozent bis 2030), Stopp des Flächenfraßes (Netto-Null bis 2050) mehr Natur im Wald (Laubholz auf mindestens 55 Prozent der Fläche, keine Kahlschläge und Entwässerung mehr) und besserer Schutz von Gewässern (fünf Meter breite Randstreifen an jedem Bach).
Grünland im Frühjahr in Ruhe lassen – das wäre eine wichtige Erste-Hilfe-Maßnahme für Wiesenvögel
Es waren aber vor allem drei Forderungen, die ich am liebsten mit Leuchtstift auf allen Info-Flyern und Webseiten der Aktion markiert hätte:
- das Verbot, artenreiche Wiesen (in der Fachsprache „Dauergrünland“) umzupflügen, um sie in Äcker oder andere landwirtschaftliche Nutzflächen umzuwandeln
- ein verbindlicher Schutz für Hecken, Alleen, Feldgehölze und andere ökologisch wertvolle Landschaftselemente
- eine „Sperrfrist“ für die Bearbeitung aller Flächen, die Kiebitzen und anderen Wiesenvögeln als Brutplatz dienen: Zwischen dem 20. März und dem 15. Juni sollten sie, laut Gesetzentwurf, weder gewalzt noch gemäht werden – mit Ausgleichszahlungen für die betroffenen Landwirte. Solche Zahlungen sah das Volksbegehren übrigens bei allen geforderten Maßnahmen vor, die Einschränkungen und Ertragsverluste für Landbesitzer oder -pächter mit sich bringen würden.
Die vogelfreundliche Sperrfrist sollte zudem nur in jenen Schutzgebieten gelten, die Teil des europäischen Netzwerks „Natura 2000“ sind. Diesen Vorbehalt fand ich zunächst etwas enttäuschend. Aber Niedersachsen ist reich an Gebieten, die nach EU-Naturschutzrichtlinien besondere Bedeutung für den Erhalt wildlebender Tiere und Pflanzen haben; über 450 gibt es hier davon – von den Salzwiesen des Wattenmeer-Nationalparks über die Hochmoor-Reste zwischen Weser und Ems bis zu den alten Eichenwäldern des Solling. Einige Gebiete, die speziell als Vogelrefugien bedeutsam sind, liegen in meiner Nähe. Wenn die Vögel dort erst einmal wirksam geschützt wären, könnten sie auch ihre früheren Brutgebiete wiedererobern, einschließlich der Wiesen rund um mein Dorf – so jedenfalls meine Hoffnung.
Der vorzeitige Stopp der Aktion – notwendiger Kompromiss oder Einknicken vor der Agrarlobby? Die Meinungen gehen auseinander
Seit dem Start des Volksbegehrens ist ein gutes Jahr vergangen, und es ist viel passiert inzwischen. Insgesamt 162.530 Menschen haben die Forderungen unterzeichnet, trotz Corona-Einschränkungen und wütender Proteste vieler Bauern. Diese sahen in der Aktion der Naturschützer einen Frontalangriff auf ihren Berufsstand. Die große Resonanz auf das Volksbegehren beeindruckte auch den niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies (SPD), der bislang nicht durch besonderes Interesse an Natur- und Artenschutz aufgefallen war. Er lud Vertreter von NABU und BUND ein, um über neue, verbindliche Regelungen zu verbessertem Naturschutz zu verhandeln – gemeinsam mit Landvolk, Landwirtschaftskammer und Vertretern des Agrarministeriums.
Anfang November 2020 präsentierten die Verhandlungspartner ein gemeinsam erzieltes Ergebnis, bestehend aus zwei Teilen: einem neuen niedersächsischen Naturschutz-, Wasser- und Waldgesetz sowie dem „Niedersächsischen Weg“, einer Vereinbarung, die ergänzende, über das Gesetz hinausgehende Vorhaben enthält – etwa Aktionsprogramme zur Förderung der Insektenvielfalt, mehr Personal für die Naturschutzbehörden und die Einrichtung eines landesweiten Biotopverbunds.
Das Gesetz haben am 10. November 2020 alle Fraktionen des Landtags einstimmig verabschiedet; die Initiatoren des Volksbegehrens setzen daraufhin um, was sie bereits Wochen zuvor angekündigt hatten: Die Unterschriftensammlung zu stoppen, sobald ein tragfähiges Verhandlungsergebnis erzielt und vom Parlament als Gesetz beschlossen worden sei. Nur bei einem Scheitern der Verhandlungen wäre das Volksbegehren in seine zweite Phase gegangen. Dann hätten die Bündnispartner um NABU und BUND weitere sechs Monate um Unterschriften werben müssen – bis zur Zielmarke 610.000. Wären die erreicht worden, hätte der Landtag über die Umsetzung der 17 Originalforderungen des Volksbegehrens entscheiden müssen.
Mehr Geld für Schutzgebiete, Randstreifen an Fließgewässern: Pflichtaufgaben, die jetzt endlich angegangen werden
NABU und BUND werteten den vorab erzielten Kompromiss als „großen Erfolg für den Naturschutz“ und lobten die neue „Kultur des Dialogs“, die sich in den Vereinbarungen zeige. Auch die übrigen Verhandlungspartner zeigten sich hochzufrieden: Der Niedersächsische Weg habe „Modellcharakter auch für ähnliche Vereinbarungen in anderen Bundesländern“, erklärte der Präsident des niedersächsischen Landvolks; Umweltminister und Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) sprachen in einer gemeinsamen Erklärung gar von einer „politischen Zeitenwende“ und einem „Aufbruchssignal“.
Doch diese Begeisterung teilten – und teilen – nicht alle. Es sind besonders Naturschutz-Fachleute, die Kritik üben, auch und gerade solche, die das Volksbegehren zunächst aktiv unterstützt haben. Wie etwa der Umweltplaner Matthias Schreiber, zweiter Vorsitzender des „Umweltforums Osnabrücker Land“. Schreibers Vorwurf: Die Initiatoren seien vorzeitig unter dem Druck von Agrarlobby und Landesregierung eingeknickt, hätten sich mit einem Ergebnis zufriedengegeben, das in vieler Hinsicht unzureichend und unverbindlich sei.
Schreiber führt, als Belege für seine Kritik, auch Mängel bei den drei Forderungen an, die mir besonders wichtig waren und sind.
- Gesetzlicher Schutz von ökologisch wertvollen Landschaftselementen: am Widerstand der Agrarwirtschaft gescheitert. Es bleibt weiterhin erlaubt, Hecken, Alleen und Feldgehölze zu beseitigen; nur müssen Landbesitzer oder -pächter künftig an anderer Stelle Gleichwertiges nachpflanzen, in Ausnahmefällen stattdessen auch einen finanziellen Ausgleich leisten. Diese „Eingriffsregelung“ bleibt hinter denen anderer Bundesländer zurück, die solche Landschaftselemente verbindlich schützen; im Übrigen war sie in der jetzigen Fassung schon vor dem Volksbegehren geplant.
- Schutz von Wiesenvögeln: Keine verbindlichen „Sperrfristen“ für die Feldbestellung, sondern ein – noch zu verhandelndes – Schutzprogramm, das vor allem auf freiwillige Förderangebote setzt und erst dann verbindliche Einschränkungen vorsieht, wenn Landwirte, auf deren Flächen Vögel brüten, sich auf keinerlei Kooperationen einlassen. Diese Regelung könnte, so Schreiber, womöglich sogar juristisch anfechtbar sein, weil die Förderangebote sich nur an Landwirte richten, die Grünland innerhalb von Natura 2000-Gebieten bestellen. Ackerbauern dagegen und alle anderen, deren Flächen außerhalb von Schutzgebieten liegen, haben keinen Anspruch auf Erschwernisausgleich. Das könnte, Stichwort Gleichheitsgrundsatz, sogar verfassungsrechtlich bedenklich sein.
- Schutz artenreicher Wiesen: Der immerhin ist erreicht. Artenreiches Grünland hat endlich den Status eines gesetzlich geschützten Biotops erhalten. Auch in anderen Punkten konnten die Initiatoren des Volksbegehrens Erfolge melden: An allen niedersächsischen Fließgewässern müssen künftig dünger- und pestizidfreie Randstreifen angelegt werden, die je nach Einzugsgebiet des jeweiligen Bachs oder Flusses zwischen drei und zehn Metern breit sein müssen. Auf 15 Prozent der Landesfläche wird ein Biotopverbund etabliert, das Land richtet 15 zusätzliche ökologische Stationen ein und stellt weitere 30 Millionen Euro für die Pflege von Natura 2000-Gebieten bereit.
Doch diese Erfolge beeindrucken Matthias Schreiber wenig: „Das meiste sind Pflichtaufgaben, die die Landesregierung ohnehin bald hätte angehen müssen. Dass die Naturschutzverbände sich diese als eigene Errungenschaften auf die Fahne schreiben – das ist schon ein starkes Stück.“
Schreiber hält den vorzeitigen Stopp des Volksbegehrens darum für einen Fehler. Er ist überzeugt: Man hätte durch dessen Fortsetzung mehr verbindliche Regelungen erreichen können statt der freiwilligen Aktionsprogramme, die zudem bislang nur als Skizzen existieren. Und ob die vielgelobte „Kultur des Dialogs“ mit Landwirtschaft und Politik wirklich zur Umsetzung dieser Vorhaben führe, erscheine ihm fraglich: „Ein abgeschlossenes Volksbegehren hätte der Naturschutzseite in diesem Dialog eine ganz andere Legitimation gegeben. Man hätte sagen können: Das handeln jetzt nicht bloß ein paar Verbandsfunktionäre und Minister aus, das will die Bevölkerung so!“
Die Natur liegt auf der Intensivstation. Selbst einst häufige Arten kämpfen ums Überleben – nicht nur in Niedersachsen
Ich habe in den vergangenen Wochen ausführlich mit einigen Menschen gesprochen, die das Volksbegehren von Anfang an begleitet haben. Mit Kritikern wie Matthias Schreiber, aber auch mit zweien der Initiatoren, dem NABU-Landesvorsitzenden Holger Buschmann und dem niedersächsischen Grünen-Chef Hanso Janßen. Ich bin im Lauf dieser Gespräche um einige Illusionen ärmer, aber auch wichtige Erkenntnisse reicher geworden. So weiß ich jetzt, dass mein Traum von der Rückkehr der Kiebitze und Kuckuckslichtnelken sich wohl auf absehbare Zeit nicht erfüllen wird. Ich weiß auch, dass das Volksbegehren, selbst bei hundertprozentiger Erfüllung aller seiner Forderungen, nur der allererste Schritt aus einer tiefen Talsohle gewesen wäre.
Das klingt sehr pessimistisch. Aber es ist die schlichte Realität. Mir ist im Laufe der Gespräche über das Volksbegehren erst klar geworden, wie sehr Niedersachsen den Schutz der Natur vernachlässigt hat – über Jahre und Jahrzehnte. Wobei mein Bundesland in dieser Hinsicht keinen Sonderfall darstellt; in ganz Deutschland steht es schlecht bis sehr schlecht um die Biodiversität. Allein in den letzten 25 Jahren haben wir 14 Millionen Vögel verloren, gut ein Siebtel des gesamten deutschen Vogelbestands. Und nicht nur seltene, sondern auch einst häufige Tier- und Pflanzenarten sowie ihre Lebensräume „befinden sich auf der Intensivstation“ – so hat mein Kollege Thomas Krumenacker den letzten Bericht zur Lage der Natur in Deutschland zusammengefasst.
Eine ständige Herausforderung für Umweltbehörden: die Natur vor ihren Nutzern zu schützen
In Niedersachsen zeigt sich mit geradezu schmerzhaft deutlich, was diesen Niedergang verursacht hat: Denn hier haben die Landesregierungen den Schutz der Natur nicht nur über Jahrzehnte missachtet, sondern bewusst demontiert. Ausgerechnet diejenigen also, die ihn eigentlich hätten verteidigen und ausbauen müssen.
Es gibt einen Namen, der in all meinen Gesprächen früher oder später aufgetaucht ist: Hans-Heinrich Sander. Der FDP-Politiker und gelernte Landwirt war von 2003 bis 2011 Umweltminister in Niedersachsen – und hat von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich weniger der Umwelt selbst als ihren Nutzern verbunden fühlte. Wie die meisten seiner früheren Berufskollegen, aber auch Jäger, Fischer und flächenhungrige Bauherren, betrachtete er Naturschutzvorschriften und die für sie zuständigen Behörden als lästige bürokratische Bremsklötze, und er machte sich, mit Rückhalt durch die damalige schwarz-gelbe Regierungsmehrheit, konsequent daran, beides zurückzustutzen.
Er löste das Landesamt für Ökologie auf, eine der nach seiner Einschätzung „rot-grünen Untaten der 90er Jahre“; er kürzte die für Umweltschutz zuständigen Verwaltungsstellen um rund 40 Prozent und schaffte die Oberen Naturschutzbehörden ab. Diese waren, unter anderem, für eine bundes- wie europaweit wichtige Aufgabe zuständig: die Sicherung der Natura 2000-Gebiete, die laut EU-Naturschutzrichtlinien dem Erhalt besonders gefährdeter Arten und Lebensräume dienen sollen.
Sander delegierte diese Aufgabe an die Naturschutzbehörden der Landkreise. Die waren damit personell wie auch fachlich oft überfordert. Denn um ein Schutzgebiet zu sichern, reicht es nicht aus, ein paar Schilder aufzustellen; man muss die Flächen zuvor kartieren, also die dort vorhandenen Tiere und Pflanzen bestimmen, und dann Verordnungen und Pflegepläne verfassen, die genau auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Die Vernachlässigung der Natur könnte teuer werden: Jetzt klagt die EU gegen Deutschland
Und selbst wenn das gelingt, sind Arten und Lebensräume noch lange nicht gerettet. Denn es gilt auch, die Gebiete gegen Begehrlichkeiten verschiedenster Naturnutzer zu verteidigen. Und das ist schwer, wenn man keine übergeordnete Behörde vertritt, sondern Landräten unterstellt ist, die im Zweifel lieber neues Bauland ausweisen und Bauern bei Laune halten als irgendwelche oft nur Fachleuten bekannten Tierchen und Kräutchen zu bewahren.
Es gab natürlich immer wieder Proteste gegen diese Demontage des Naturschutzes. Aber meist nur verhalten und vereinzelt. Naturschützer sind seit jeher wenig geübt darin, ihre Anliegen offensiv und öffentlichkeitswirksam zu vertreten; gerade lokale Gruppen pflegen oft lieber Biotope oder organisieren Exkursionen als sich mit der Kommunalpolitik anzulegen. NABU und BUND führen zwar landes- und bundesweite Kampagnen zu verschiedensten Themen, aber sie tun dies nur selten in Abstimmung oder gar Zusammenarbeit mit den Naturschutz-Profis staatlicher Institutionen. Das unterscheidet sie von Lobbygruppen wie etwa dem Deutschen Bauernverband oder dem ADAC, die traditionell enge Verbindungen mit Agrar- und Verkehrsministerien unterhalten. Und die im Schulterschluss mit diesen erfolgreich Besitzstände verteidigen – etwa gegen Initiativen zu Tempolimits, Verschärfung der Abgasnormen oder die Reform der Agrarförderung.
Naturschutz-Engagierte haben, anders als Landwirte und Autofans, noch ein weiteres Handicap: Sie können nicht auf die Unterstützung mächtiger Industrien zählen. Es gibt keine Wirtschaftsbranche, die ein unmittelbares finanzielles Interesse an der Bewahrung von Biodiversität hätte. Auch das erklärt das geringe Interesse der Politik, sich für sie einzusetzen – selbst bei jenen, die qua Amt dafür zuständig wären.Diese Nichtachtung der Natur dürfte jedoch langfristig teure Folgen haben – für die gesamte Gesellschaft. Und Niedersachsen trägt einen erheblichen Anteil daran.
Partnerschaft zwischen Landwirtschaft und Naturschutz? Noch ist sie mehr Ideal als Realität
Am 18. Februar dieses Jahres hat die EU-Kommission beschlossen, Deutschland vor dem europäischen Gerichtshof zu verklagen – wegen mangelhafter Umsetzung der EU-Flora-Fauna-Habitat- sowie der Vogelschutzrichtlinie. Es drohen ein langwieriger Prozess und, im Falle einer Verurteilung, hohe Strafzahlungen. Die Kommission moniert nicht nur den schlechten Erhaltungszustand vieler Schutzgebiete, sondern auch, dass 33 von ihnen bis heute nicht einmal formal gesichert sind. Alle 33 liegen in Niedersachsen.
Dass mein Bundesland in Sachen Arten- und Biotopschutz derart hinterherhinkt, liegt freilich nicht nur am Erbe der schwarz-gelben Koalition und ihres Umweltministers. Auch die nachfolgenden rot-grünen und rot-schwarzen Landesregierungen haben wenig getan, um der bedrängten heimischen Biodiversität zu ihrem Recht zu verhelfen. Weder der grüne Umweltminister Stefan Wenzel, der von 2013 bis 2017 amtierte, noch dessen SPD-Nachfolger Olaf Lies haben die personellen Kahlschläge in den Naturschutzbehörden rückgängig gemacht, ebenso wenig wie die Strukturreform, die zur Schwächung der Naturschutzbehörden gegenüber Naturnutzern führte. Auch finanziell vernachlässigt die Landesregierung den Naturschutz weiterhin: Bis 2020 stand dafür jährlich nicht einmal ein halbes Prozent des Landesetats zur Verfügung.
Und keiner der seit 2011 amtierenden Umweltminister hat sich die Mühe gemacht, wenigstens das wohl abseitigste Erbstück aus der Sander-Ära abzuschaffen: den sogenannten „Höflichkeitserlass“. Dieser verpflichtete Angehörige und Beauftragte der Umweltbehörden, Landbesitzende vorab um Erlaubnis zu bitten, wenn sie deren Flächen zum Kartieren oder zur Entnahme von Bodenproben betreten wollten. Erst im neuen niedersächsischen Naturschutzgesetz vom November 2020 wurde der Erlass gestrichen. Behördenmitarbeiter empfanden ihn nicht nur als demütigend, sondern auch als symbolischen Ausdruck des Machtgefälles zwischen Landwirtschaft und Naturschutz. Eines Gefälles, das im Agrarland Niedersachsen seit jeher besonders ausgeprägt war – und immer noch ist.
Der NABU-Chef ist überzeugt: Kooperationen auf freiwilliger Basis helfen bedrohten Arten besser als Verbote
Das Volksbegehren sollte das eigentlich ändern. Auch in der Präambel zum „Niedersächsischen Weg“ wird eine neue Harmonie zwischen Landnutzern und -schützern beschworen. Vom „Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie“ ist die Rede, von „fairem Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile“ und davon, dass „Landwirte wichtige Partner im Naturschutz“ sind.
Doch noch ist diese Partnerschaft mehr Ideal als Realität. Das bekommen Holger Buschmann und seine NABU-Kolleginnen und -Kollegen zu spüren. Seit Anfang 2021 treffen sie sich in Arbeitsgruppen mit Vertretern von Agrarwirtschaft und Landesregierung, um über die Umsetzung der im „Niedersächsischen Weg“ skizzierten Vorhaben zu verhandeln: etwa die Biodiversitätsberatung für Landwirtinnen und Landwirte, die bessere Betreuung geschützter Gebiete und freiwillige Maßnahmen zum Wiesenvogelschutz.
Die Gespräche seien „mühsam“, sagt Holger Buschmann. „Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir nicht über den Tisch gezogen werden.“ Er habe eigentlich gehofft, dass das Volksbegehren ein Anstoß gewesen sei, konstruktiver als bisher zusammenzuarbeiten. „Aber ich registriere auf Landesebene eher ein Zurück in die alten Gleise. Und dass versucht wird, abzuwehren, was nur irgend geht.“
Buschmann setzt dennoch weiterhin auf die „Kultur des Dialogs“, auch und gerade, wenn es um schwierige Themen geht. Beim Wiesenvogelschutz etwa sei er dem Rat erfahrener NABU-Fachleute gefolgt, die sich seit vielen Jahren für Kiebitz, Brachvogel & Co. engagieren. Sie hätten ihn dringend davor gewarnt, auf strikten Verboten und Sperrfristen bei der Bewirtschaftung zu beharren: Diese könnten, so die Befürchtung, viele Landwirte derart verärgern, dass sie sich trotz Ausgleichszahlungen dem Vogelschutz komplett verweigerten. Und stattdessen womöglich alles täten, um Vogelbruten auf ihren Flächen zu verhindern. Da sei es sinnvoller, auf finanziell attraktive Kooperationsangebote zu setzen. Die nähmen die meisten Landwirten erfahrungsgemäß gern an – was letztlich denen zugutekomme, um die es gehe, nämlich den Vögeln.
Ein Erfolg des Volksbegehrens: Dass nicht nur die Natur, sondern auch ihre Schützer künftig genauer beobachtet werden
Ich fand diese Erklärung einleuchtend – und zugleich erschreckend. Weil sie zeigt, wie sehr in Vergessenheit geraten ist, was eigentlich Allgemeinwissen sein sollte und auch im Gesetz steht: Dass der Schutz der Natur keine freiwillige Leistung ist, sondern Pflichtaufgabe. Dass sich diese Pflicht nicht nur aus dem Naturschutzgesetz ergibt, sondern auch aus dem Grundgesetz – jenem Artikel 14, der besagt, dass Eigentum dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll. Also auch der Bewahrung der Biodiversität; der vielen Tiere und Pflanzen, deren Existenz davon abhängt, dass Landwirte bei der Bewirtschaftung ihrer Felder und Wiesen auf die Natur Rücksicht nehmen.
Vielleicht wird dies langfristig einer der wichtigsten Erfolge des abgebrochenen Volksbegehrens sein: Dass solche Grundsatzfragen wieder häufiger gestellt und diskutiert werden. Sie werden sich womöglich auch an die Naturschützer selbst richten. Etwa den Bundesverband des NABU, der vor kurzem in einem gemeinsamen Strategiepapier mit den Grünen eine Abschwächung des europäischen Artenschutzrechts zugunsten des beschleunigten Windkraftausbaus forderte. Denn viele Fachleute befürchten, der sogenannte „Vogelfrieden“ werde dazu führen, dass sogar der NABU nicht nur Vögel und ihre verbliebenen Lebensräume, sondern die Natur insgesamt noch stärker als bisher wirtschaftlichen Interessen unterordnen wird.
Was die „Kultur des Dialogs“ mit Naturnutzern bringen wird, seien es Landwirte oder Windkraftinvestoren – auch das werden naturverbundene Menschen in der Folge des Volksbegehrens vielleicht, hoffentlich, schärfer als bisher beobachten. Nicht zuletzt, weil die Natur selbst genauer und systematischer als bisher beobachtet werden soll – so sieht es jedenfalls der „Niedersächsische Weg“ vor, der mehrfach die Notwendigkeit regelmäßiger Erfolgskontrollen und Monitorings betont. Aus gutem Grund. Denn es gibt in Niedersachsen bislang viel zu wenig Daten, die erkennen lassen, wie sich bedrohte Arten und ihre Lebensräume in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben und welche Verluste durch die chronische Vernachlässigung des Naturschutzes entstanden sind.
Auch das ist ein Erbe aus der Sander-Ära. Der FDP-Minister hatte nämlich auch die Gelder für Monitoring-Programme drastisch beschnitten – und darüber hinaus den Mitarbeitern seiner Behörden verboten, das Wort „Monitoring“ überhaupt zu benutzen. Auch seine Nachfolger haben nicht die Notwendigkeit erkannt, bessere Daten über den Zustand der Natur erheben.
Die wenigen Zahlen, die öffentlich verfügbar sind, lassen Schlimmes befürchten. So ist etwa die Zahl der Kiebitze in Niedersachsen allein seit Ende der 1980er Jahre vielerorts um 80 bis 90 Prozent eingebrochen – und das sogar in den Natura 2000-Gebieten, die explizit ihrem Schutz dienen sollten.
Selbst wenn die neuen Wiesenvogelschutzprogramme den Rückgang endlich stoppten – ich werde wohl noch viele Jahre warten müssen, bis die Vögel auch in die sogenannte „Normallandschaft“ rund um mein Dorf zurückgekehrt sind.
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Denn wer sagt, dass das erste Volksbegehren Artenvielfalt in Niedersachsen auch das letzte gewesen sein muss?
Berichtigung: In einer früheren Version dieses Artikels habe ich den BUND Niedersachsen als Mitinitiator des Volksbegehrens bezeichnet; er gehörte aber nur zum Kreis der Unterstützer. Neben den Landesverbänden von NABU und Bündnis 90/DIe Grünen hat der Deutsche Berufs- und Erwerbsimkerbund DBIB das Volksbegehren mit initiiert. Ich bitte, den Fehler zu entschuldigen.