EU-Wissenschaftsakademien drängen Staaten zur Verabschiedung des EU-Renaturierungsgesetzes

In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Top-Wissenschaftler aus allen EU-Staaten die Blockadeländer zum Einlenken auf: Ohne das Gesetz stünden die sichere Ernährung Europas, ihre Natur und der Kampf gegen den Klimawandel auf dem Spiel.

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Eine bunt blühende Wiese aus Mohn, Kornblumen und weiteren Wildpflanzen

Nach dem vorläufigen Scheitern des EU-Renaturierungsgesetzes am Widerstand einiger EU-Länder haben führende Wissenschaftler aus ganz Europa an die Blockadestaaten appelliert, den Weg für das wichtigste Naturschutzgesetz seit Jahrzehnten doch noch freizumachen. In einer gemeinsamen Erklärung warnen die Europäischen Wissenschaftsakademien vor weitreichenden Folgen für den Fall des endgültigen Scheiterns der EU-Verordnung.

Das Gesetz sei von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der Ernährung für Europa, die Bewahrung der biologischen Vielfalt und für einen erfolgreichen Kampf gegen den Klimawandel, erklärten die Akademien. Sie fordern die EU-Mitgliedstaaten zu einer Entscheidung „auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlicher Erkenntnisse“ auf: Das Inkrafttreten des Gesetzes dürfe nicht auf die lange Bank geschoben oder gar ganz verhindert werden.

Herzstück des Green Deal wackelt

Das Renaturierungsgesetz ist einer der wichtigsten Bestandteile des europäischen Green Deal, mit dem die Staatengemeinschaft bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral und ökologisch nachhaltig werden will. Es sieht vor, dass bis zum Jahr 2030 die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme auf 20 Prozent der EU-Fläche eingeleitet werden muss. Die Vorgabe gilt für alle Ökosysteme – vom Meer bis zum Gebirgswald.

Bis 2050 sollen alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen. Das „Restoration Law“ wäre das wichtigste europäische Naturschutzgesetz seit der Verabschiedung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie 1992.

Drohnenaufnahme eines Waldmoores inmitten eines Buchenwaldes im Herbst
Wiedervernässte Waldmoore, wie hier in Brandenburg, sind Hotspots der Artenvielfalt.

Das Gesetz war im Februar bereits durch das Europaparlament verabschiedet worden. Dennoch kann es nicht in Kraft treten, weil einige Staaten in letzter Minute ihre Unterstützung verweigern.

Wissenschaftsakademien: Argumente der Agrarindustrie sind falsch

Die Gegner begründen ihre Ablehnung ebenso wie die Lobbyerbände der Agrarindustrie damit, dass das Gesetz Bäuerinnen und Bauern unzumutbare Lasten aufbürde und ihnen finanziell schade. Die Akademien wenden sich scharf gegen diese Argumentation: Das Gesetz schaden Landwirten nicht, sondern sei im Gegenteil von entscheidender Bedeutung für das wirtschaftliche Wohlergehen und die Sicherung des Lebensunterhalts von Landwirten und anderen Landbewirtschaftern, sagt der Ko-Direktor des wissenschaftlichen Beirats der Akademien (EASAC), Thomas Elmqvist.

Denn funktionierende Ökosysteme seien die Grundlage für Land- und Forstwirtschaft schlechthin. „Das Gesetz bietet die einzigartige Gelegenheit, Landwirte für die Erbringung von Ökosystemleistungen zu entlohnen“, argumentiert Elmqvist mit Blick auf Anreizprogramme für eine möglichst naturschonende Bewirtschaftung. „Landwirte sollten für Maßnahmen belohnt werden, die zur Gesundheit sowohl der Ökosysteme als auch der Menschen beitragen“, fordert er.

Ein Traktor spritzt Chemikalien auf einen Acker
Höhere Erträge erkauft sich die industrielle Landwirtschaft mit mehr Klimaschäden und Biodiversitätsverlust

„Weniger Chemie und hohe Erträge sind keine Widersprüche“

Unter Verweis auf wissenschaftliche Studien weisen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weitere Kernargumente der Gegner des Gesetzes zurück. So drohe keine Lebensmittelknappheit, wenn weniger Chemikalien in der Landwirtschaft eingesetzt würden. „Es ist möglich, gleichzeitig hohe Erträge zu sichern, die Umweltbelastung zu verringern und die biologische Vielfalt zu verbessern“, heißt es in der Stellungnahme.

„Die Behauptung, die Maßnahmen … gefährdeten die Ernährungssicherheit, ist falsch. Die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen könnte jedoch die Geschäftsinteressen einiger großer Akteure in der Agrarindustrie beeinträchtigen – wie den Verkauf von Pestiziden und Düngemitteln“, betont Michael Norton, EASAC Co-Direktor für Umwelt. Der Agrarindustrie warf er vor, „ununterbrochen Kampagnen gegen das Gesetz geführt“ zu haben.

Das „Restoration Law“ wäre das erste Gesetz, mit dem sich eine ganze Staatengemeinschaft verpflichtet, Natur aktiv wiederherzustellen und nicht nur die verbliebenen Reste zu schützen.

Viele Unternehmen, Branchen, Wissenschaftler und Bürgerinnen fordern das Gesetz

Der Appell der Wissenschaftsakademien ist die bisher höchstrangige Intervention der Wissenschaft zugunsten des Gesetzes. Auch zahlreiche Industrieverbände, darunter die Branche der Erneuerbaren Energie sowie Großkonzerne wie Ikea und Unilever, tausende Fachwissenschaftler und mehr als eine Million EU-Bürgerinnen und Bürger haben die Verabschiedung des Gesetzes gefordert.

Das Renaturierungsgesetz war fast zwei Jahre lang intensiv zwischen den Staaten und im Europaparlament ausgehandelt worden. Das Parlament hatte es im Februar bereits verabschiedet, nachdem zahlreiche Zugeständnisse an Landwirte und andere Landnutzer darin festgeschrieben wurde. Um Inkrafttreten zu können, müssen 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, die zugleich auch mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Gegenwärtig wird die Zahl der Länder erreicht, das 65-Prozent-Quorum aber knapp verfehlt. Gegen das Gesetz haben sich die Niederlande, Italien, Schweden und Ungarn positioniert. Polen, Finnland, Belgien und Österreich haben ihre Enthaltung angekündigt, was wie eine Nein-Stimme gewertet wird. Das „Restoration Law“ wäre das erste Gesetz, mit dem sich eine ganze Staatengemeinschaft verpflichtet, Natur aktiv wiederherzustellen und nicht nur die verbliebenen Reste zu schützen. Der Anlauf zur flächendeckenden Renaturierung ist nach übereinstimmenden Analysen bitter nötig, um den dramatischen Verlust der Artenvielfalt in der EU zu stoppen.

Der Verlust von Lebensräumen und der darin lebenden Tier- und Pflanzenarten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der EU stark beschleunigt. Nach mehr als einem Jahrhundert der Industrialisierung sind inzwischen mehr als 80 Prozent aller Lebensräume in der Gemeinschaft in einem schlechten ökologischen Zustand.

Artenschwund hat Folgen für Menschen

Der Verlust an Biodiversität hat auch unmittelbare Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in der EU: Kanalisierte Flüsse und zerstörte Auen bieten keinen wirksamen Hochwasserschutz in Zeiten des Klimawandels mehr und die geschädigten Wälder haben sich bereits zu Emittenten von Treibhausgasen entwickelt, statt sie zu speichern. Auch das Insektensterben in Folge einer zu intensiven Landwirtschaft entwickelt sich mittlerweile zu einer ernsten Gefahr für die Lebensmittelproduktion. Schon heute leidet die Hälfte der von Bestäubung abhängigen Ackerkulturen in der EU unter Mangelerscheinungen.

Erfolgschancen ungewiss

Ob das Gesetz noch kommt, ist ungewiss. Derzeit bemühen sich einige Staaten hinter den Kulissen, es noch zu retten. Ob das noch vor den Europawahlen und damit dem Ende des Mandats der derzeitigen EU-Kommission gelingt, ist fraglich.

Die Stellungnahme der Akademien wurde von den Unterstützern des Gesetzes begrüßt. „Es ist wichtig, dass sich die Stimmen der Wissenschaft in der Debatte um das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur wieder zu Wort melden“, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Jutta Paulus, die das Gesetz mit ausgehandelt hatte. „In den letzten Monaten haben wir einen Generalangriff auf den gesamten europäischen Natur- und Umweltschutz erlebt.“

Die einhellige Meinung der europäischen Wissenschaftsakademien müsse auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die Regierungschefs der Blockadeländer nachdenklich stimmen: „Sie müssen sich ehrlich machen – ohne gesunde Ökosysteme gibt es keine bessere Zukunft für die Landwirtschaft.“

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