Auf „Breaking Bad“ folgt „Breaking Boundaries“ – die Doku zur Natur- und Klimakrise
Filmtipp: Wir müssen die Erde wieder in den grünen Bereich bringen. Wie weit wir davon entfernt sind, zeigt der Forscher Johan Rockström in einer neuen Netflix-Doku.
Klimawandel, Artensterben, Abholzung, Ozonverlust, Überdüngung, Luftverschmutzung – die Menschheit gefährdet ihre Lebensgrundlagen auf vielfältige Weise. Doch wie problematisch sind die Entwicklungen in den jeweiligen Bereichen?
Eine Antwort auf diese Frage versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Konzept der sogenannten Planetaren Belastungsgrenzen zu geben – im englischen Original „Planetary Boundaries“. Dabei geht es darum, für einzelne Bereiche Grenzen bzw. Leitplanken zu definieren, die nicht überschritten werden oder hinter die wir wieder zurückkehren sollten, wenn wir als Menschheit auf einer Erde in einem uns vertrauten Klima und einer uns vertrauten Umwelt leben wollen.
Auf diese Grenzen spielt der Titel der neuen Dokumentation an, die ab 4. Juni 2021 bei Netflix zu sehen ist. „Breaking Boundaries“ (hier eine zehnminütige Vorschau) ist keine klassische Naturdoku mit Nahaufnahmen von Tieren und ihrem Familienleben untermalt von melodramatischer Musik. Stattdessen haben sich die Filmemacher das ehrgeizige Ziel gesetzt, einem breiten Publikum ein zentrales naturwissenschaftliches Konzept unserer Zeit näher zu bringen.
Planetare Leitplanken teilweise durchbrochen
Die Planetaren Belastungsgrenzen entwickelt hat unter anderem der schwedische Wissenschaftler Johan Rockström, der das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung leitet. Rockström führt als Forscher durch den 73-minütigen Film. Bei einem Gespräch über die Doku sagte mir der Erdsystemwissenschaftler:
„Die Doku zeigt auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft, vor welchen Herausforderungen wir als Menschheit stehen. Gleichzeitig macht sie aber auch klar, dass Nachhaltigkeit nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Wir können es zurück in einen sicheren Handlungsraum schaffen.“
Mit diesem sicheren Handlungsraum ist ein Zustand gemeint, wie die Menschheit ihn in den vergangenen rund 10.000 Jahren während des Holozäns erlebt hat: Natur und Klima bieten förderliche Bedingungen für die menschliche Zivilisation. Im 21. Jahrhundert – und in der beginnenden Erdepoche des Menschen, Anthropozän genannt, droht das ins Gegenteil zu kippen.
Die Entsprechung zu einer maximalen Erwärmung von 1,5 Grad wäre null Naturverlust von jetzt an.
Klare Empfehlung: „Breaking Boundaries“ ist sehenswert
Abbrechende Eisberge, nebelumhüllte Regenwälder, Korallenriffe aus der Luft – „Breaking Boundaries“ ist streckenweise erwartungsgemäß bildstark, aber nicht geeignet, um sich berieseln zu lassen. Um dem Inhalt zu folgen, ist die ganze Aufmerksamkeit gefragt. Dafür wird man mit einem tieferen Verständnis des Systems Erde belohnt.
Wer das Konzept der Planetaren Grenzen vorher nicht kannte, wird die Erde danach sehr wahrscheinlich wirklich, wie von Erzähler David Attenborough zu Beginn prophezeit „mit anderen Augen sehen.“ Die Bestandsaufnahme von Wissenschaftlerïnnen wie der Leiterin des Weltbiodiversitätsrates, Anne Larigauderie, die als Kronzeugïnnen auftreten, ist hart, aber durch eine Vielzahl von Studien gedeckt.
Wie der Amazonas-Regenwald den Klimawandel noch anheizen kann
Es ist kein Zufall, dass „Breaking Boundaries“ mit dem Bereich Klima beginnt und dem fortschreitenden Klimawandel die ersten 20 Minuten der Doku widmet. Denn die Klimaveränderungen auf der Erde sind inzwischen auch für Filmkameras deutlich sichtbar. Gleichzeitig vermittelt sich beim Thema Klima sehr deutlich, warum es im ureigensten Interesse der Menschheit sein sollte, die Erde nicht in eine Heißzeit rutschen zu lassen.
Wir werden die Pariser Klimaschutzziele nicht erreichen, wenn wir nicht alle Kohlenstoffsenken und -speicher erhalten.
Am Beispiel des Amazonas-Regenwald verdeutlicht die Doku anschaulich, wie eng die Bereiche Klima, Wälder und Biodiversität zusammenhängen: Durch den Klimawandel trocknet die Region immer weiter aus. So ist in den vergangenen Jahrzehnten die Trockenzeit immer länger geworden. Der Regenwald läuft deswegen Gefahr, zur Savanne zu werden und viele Arten auf diesem Weg zu verlieren. Das wiederum führt dazu, dass der Wald sich von einer Senke für das Treibhausgas Kohlendioxid zunehmend zu einer Quelle verwandelt – und damit den Klimawandel anheizt. „Breaking Boundaries“ sensibilisiert das Publikum für solche Domino-Effekte und Kipp-Punkte im System Erde.
Zeit bis 2030 nutzen, um die Zukunft für die Menschheit sichern
Dass wir als Menschen durchaus in der Lage sind, gegenzusteuern und in den grünen Bereich zurückzukehren, zeigt die Doku am Beispiel Ozon: Durch entschiedenes politisches Handeln ist es seit den 1980er Jahren gelungen, das Ozonloch in der Stratosphäre wieder schrumpfen zu lassen und die Gefahr durch schädliche UV-Strahlen von der Sonne zu bannen.
Das Fenster um zu handeln ist noch offen. Die eindeutige Botschaft der Doku und der Mitwirkenden: Es kommt entscheidend auf unser Handeln in diesem Jahrzehnt an. Um als Menschheit eine sichere Zukunft auf der Erde zu haben, müssen wir nicht nur aktiven Klimaschutz betreiben, sondern beispielsweise auch den Naturverlust und die Überdüngung stoppen. Der Film vermittelt die zentrale Erkenntnis, dass die verschiedenen Bereiche wie Klima und Biosphäre eng miteinander zusammenhängen. Deswegen lassen sich die Belastungsgrenzen nicht einzeln, sondern nur gemeinsam betrachten.
Daraus ergibt sich aber auch eine positive Nachricht: Synergieeffekte sind möglich. Manche Maßnahmen helfen gleich bei mehreren der neun planetaren Belastungsgrenzen, wieder in Richtung des grünen Bereichs zu kommen.
Dabei kommt es vor allem auf eine effizientere und nachhaltigere Landwirtschaft an. „Unsere heutige Lebensmittelproduktion setzt bis zu einem Viertel aller Treibhausgase frei und ist der größte Verursacher von Biodiversitäts- und Waldverlusten, Landnutzungsänderungen, von Wasserverbrauch und Überdüngung durch Stickstoff und Phosphor, “ sagt Johan Rockström.
Bäume Pflanzen und weniger Fleisch Essen sind nur erste Schritte
An diesem Punkt macht sich „Breaking Boundaries“ allerdings angreifbar: Die Filmemacher bemühen sich um einen leichten, hoffnungsvollen Tonfall, sie wollen dem Publikum konkrete Lösungen präsentieren. Die fallen aber teilweise ziemlich simpel aus und bleiben hinter den umfassenden notwendigen Änderungen auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zurück, von denen die Wissenschaft spricht.
Die Filmemacher nehmen für klare Botschaften die Gefahr in Kauf, nur bedingt die Realität abzubilden: Bäume zu pflanzen und einfach gesünder und weniger Fleisch zu essen – das klingt gut, es sind aber nur erste kleine Schritte, die nicht reichen werden, um die Erde zurück in den grünen Bereich zu bringen. Johan Rockström vermutet, dass diese Darstellung Stoff für Debatten geben könnte und sagt: „Meiner Meinung nach bringt es uns nicht in eine klimaneutrale Zukunft, Bäume zu pflanzen. Es besteht das Risiko, dass das als Allheilmittel wahrgenommen wird. Wir müssen beides tun: Aus der Nutzung fossiler Brennstoffe aussteigen – und zusätzlich Bäume pflanzen.“
Gipfeltreffen als Weichensteller
Die Verantwortung für die Rückkehr in den grünen Bereich liegt eben nicht nur bei den Verbraucherïnnen. Es ist auch entschiedenes politisches Handeln der Weltgemeinschaft notwendig. Dabei hebt der Erdsystemforscher Rockström in unserem Gespräch über den Film auch auf die beiden großen Gipfel zum Naturschutz und zum Klimaschutz im Herbst 2021 hervor: „Ich hoffe, dass auf dem Biodiversitätsgipfel in Kunming ein globales Ziel für die Natur verabschiedet wird – nämlich netto null Biodiversitätsverlust von jetzt an.“
In der Doku bringt Rockström es mit Blick auf das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens so auf den Punkt: „Die Entsprechung zu einer maximalen Erwärmung von 1,5 Grad wäre null Naturverlust von jetzt an.“ Für die Weltklimakonferenz in Glasgow sieht er die Chance, dass sie zu dem Gipfel wird, der endlich die Natur in den Klimaschutz integriert, weil es erstmals in großem Stil um die sogenannten „Naturbasierten Lösungen“ gehen soll. Der Wissenschaftler hofft, dass sich folgende Erkenntnis durchsetzt: „Wir werden die Pariser Klimaschutzziele nicht erreichen, wenn wir nicht alle Kohlenstoffsenken und -speicher erhalten.“ Dazu gehören unter anderem Moore und die Wälder im Amazonas- und im Kongobecken.
Erdsystem-Wissen für ein breites Publikum
Der Untertitel der Doku lautet: Die Wissenschaft hinter „Unser Planet“. Das bezieht sich auf die erste Naturdokuserie, die Netflix in Auftrag gegeben hat. Sie kam in sechs Teilen im Jahr 2019 raus – eine bildgewaltige Kampfansage an die britische Rundfunkanstalt BBC, die sonst den Bereich Naturfilm dominiert. Im Gegensatz zu vielen früheren BBC-Produktionen ist die Produktionsfirma Silverback Films mit „Unser Planet“ über die Abbildung heiler Natur hinausgegangen. In den Folgen wird durchgehend die Bedrohung der gezeigten Ökosysteme und Arten durch Lebensraumzerstörung, Übernutzung oder Klimawandel thematisiert.
Laut der Streaming-Plattform haben bislang mehr als 100 Millionen Zuschauerïnnen weltweit „Unser Planet“ gesehen. Vermutlich setzt Netflix darauf, dass dieses Publikum auch „Breaking Boundaries“ schaut. „Ich hoffe, dass diese Wissenschaftsdoku so viele Menschen wie irgend möglich erreicht, denn es ist dringend“, sagte mir Johan Rockström. „Wir haben nur dann eine Chance, im notwendigen Umfang zu handeln, wenn entsprechend viele Menschen verstehen, mit welchen Herausforderungen wir es zu tun haben.“
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.