Verlasst die Hütten
Wieso Vogelfreunde ab und zu einen weiten Bogen um Beobachtungshütten machen sollten. Von Markus Hofmann
Flugbegleiter-Kollegin Johanna Romberg hat vor kurzem ein Loblied auf Beobachtungshütten angestimmt. Und sie führte gute Gründe an: In den „Vogelgucks“, wie sie die Hütten liebevoll nennt, lasse sich das Treiben der Vögel entspannt verfolgen, dort würden Ornithologen Gleichgesinnte zum Fachsimpeln treffen, und so mancher Anfänger habe in einer Hütte seine Leidenschaft für die Ornithologie entdeckt. Bei aller Zustimmung: In den teilweise hochgerüsteten Beobachtungshütten entgeht einem so einiges.
Unsichtbar für die Umwelt schleichen sich die Vogelbeobachter an; die Wände auf beiden Seiten des Weges bieten besten Sichtschutz. Ein paar wenige Meter, dann haben sie, ausgerüstet mit Fernglas, Spektiv und Stativ, das schützende Gebäude erreicht, das wie ein notgelandetes Ufo an der Küste Norfolks liegt. Der vor wenigen Jahren im Naturreservat Titchwell Marsh eröffnete „Parrinder Hide“, entspreche dem „state of the art“, schwärmt der Experte des britischen „Bird Watching Magazine“ im Video.
Die grossen Fenster dieser Beobachtungshütte, nein, dieser Beobachtungs-Villa lassen sich lautlos öffnen, damit sich die Vögel draussen nicht erschrecken. Hier können die Besucher bequem sitzen, es gibt genug Platz, sie kommen einander nicht in die Quere. Das gefällt nicht nur eingefleischten „Birdwatchers“, sondern auch Jugendlichen und Familien mit Kindern.
Ein weiteres, bei den vogel-verrückten Engländern beliebtes Reservat liegt ganz in der Nähe von Titchwell Marsh. Dort gibt es sogar ein Restaurant: Die Besucher geniessen englischen Tee und Kuchen und können gleichzeitig bequem mit dem Fernglas durch die Panoramafenster das Schilfgebiet nach Rohrweihen absuchen. Ist grad nichts los im Schilf, holen sich die „Birder“ noch ein Ale an der Theke.
Diese beiden Beispiele sind Luxus-Versionen, sozusagen das High End unter den „Hides“, wie die Beobachtungshütten im englischsprachigen Raum heissen. Man findet sie nicht nur in Grossbritannien, auch in Deutschland gibt es Edel-Vogelgucks wie zum Beispiel die Hamburger Carl-Zeiss-Vogelstation des Nabu, die auch als Werbefläche für optische Geräte dient. Im hübschen Häuschen mit begrüntem Dach können die Besucher Ferngläser ausleihen und testen.
Hides kommen in verschiedensten Ausführungen vor, vom einfachen Holzverschlag bis zum geheizten Haus mit Verpflegungsmöglichkeit. Doch bei aller Unterschiedlichkeit ist eines allen Hides gemeinsam: Wer es sich darin gemütlich macht, verpasst etwas Wesentliches beim Beobachten.
Vor einem Jahr war ich am Flachsee im Kanton Aargau unterwegs, einer für ihren Vogelreichtum bekannten Region in der Schweiz. Die Informationszentrale für Ornithologen Ornitho.ch hatte rastende Kraniche gemeldet, die wollte ich finden. Ich streifte am Waldrand entlang, den Blick auf die angrenzenden Felder gerichtet, auf denen sich Kraniche gerne aufhalten. Plötzlich verschlechterte sich das Wetter, und es setzte ein Schneesturm ein. Der Schnee peitschte mir ins Gesicht, das Fernglas war nutzlos geworden, die Sicht betrug lediglich noch ein paar Meter.
Nicht weit entfernt lag eine Beobachtungshütte. Kurz zuvor war ich daran vorbeigekommen und hatte gesehen, wie Teleobjektive und Fernrohre aus den Gucklöchern starrten. Doch ich war froh, befand ich mich hier draussen mitten im Schneetreiben, fern des schützenden Kokons des Hide. Dort in der Hütte hätte ich mich wie im Zoo gefühlt: sozusagen Tierbeobachtung in der Komfortzone. Draussen hingegen schlug ich den Kragen der Jacke hoch und zog mir Handschuhe über. Während ich das Abflauen des Sturms abwartete, beobachte ich im Wald in unmittelbarer Nähe Kleiber, Tannenmeisen sowie einen Buntspecht.
Am Ende des Tages hatte ich die Kraniche nicht gesehen. Aber das Erlebnis des Schneesturms war mehr als eine Kompensation dafür. Die hautnahe Erfahrung der Umgebung und der Witterung – auch einer unangenehm windig-kalten: Das gehört für mich essenziell zur Vogelbeobachtung. Genau vor solchen Eindrücken aber schirmt mich ein Hide zu stark ab.
Es mag sein, dass man von einem Hide aus viele Vögel zu sehen bekommt. Doch es bleibt das schale Gefühl zurück, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Vögelbeobachten in Hütten ist Naturerfahrung in Watte gepackt.