Gegen die Egomanie: Eine Freiheit, die auch die Zukunft meint

Wofür wird nicht alles das hohe Wort der „Freiheit“ strapaziert: Rasen auf der Autobahn, unbekümmertes Schnitzelessen, trotz Klima- und Naturkrise einfach so weiterleben. Doch das läuft der tieferen Bedeutung von Freiheit zuwider. Ein Essay über Vulgärliberalismus und die Alternativen dazu

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Symbolfoto SUV: Ein SUV steht auf der Straße in einer Wüste.

Dieser Essay beruht auf dem Buch „Menschenzeit“.

Am Ursprung der Moderne lebte ein deutsch-französischer Gelehrter, der den Aufstieg des Menschen zur Kraft, die die Erde verändert, kommen sah. Er hat für die Herrschaft des Menschen über das Klima und die Artenvielfalt gedanklich vorgebaut und er hätte jenen einiges zu sagen, die heute schrill „Freiheit!“ rufen, wenn ihre Gewohnheiten infrage gestellt werden, übergroße Autos zu fahren, Flugreisen als Selbstverständlichkeit zu sehen oder weiter ohne Rücksicht auf Verluste zu konsumieren.

Dieser Mann war kein Religionsgründer, der autoritär Regeln aufstellte. Kein Anführer nordamerikanischer Ureinwohner, der gegen die Geldsucht des weißen Mannes wetterte, nur um dann von Esoterikern vereinnahmt zu werden. Kein Asket, der den Alltag der Menschen gar nicht verstehen konnte.

Der Mann, von dem hier die Rede sein soll, wurde am 8. Dezember 1723 mit dem Namen Paul Thiry in Edesheim bei Landau in der Pfalz als Sohn eines Winzers geboren. Ein reicher Onkel, der sein intellektuelles Talent erkannt hatte, machte ihn zum „Baron d’Holbach“. Als solcher starb er am 21. Januar 1789 in Paris – also kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, die er so sehr herbeigesehnt hatte.

In die angespannte Welt des vorrevolutionären Frankreich hinein schrieb Holbach eine Schrift, die uns Heutigen sehr viel mitteilen und uns helfen kann, das Anthropozän zu meistern. Sie heißt wie das Buch, das Carl von Linné 1735 veröffentlicht hat, um die Vielfalt der Tiere und Pflanzen zu ordnen: „System der Natur“. Doch was Holbach 1770 veröffentlichte – anonym, aus Furcht vor Verfolgung und Bestrafung durch die Kirche – war kein Naturatlas.

Holbach gehörte zum Kreis der Enzyklopädisten um den Pariser Verleger André-François Le Breton, die das Weltwissen versammeln und damit ein Fundament für Aufklärung und Fortschritt schaffen wollten. Doch sein „System der Natur“ ging über eine Enzyklopädie weit hinaus. Aus heutiger Sicht betrachtet, hat dieser Mann eine Anleitung für das Zusammenleben im Anthropozän geschaffen, in dem wir Menschen lernen müssen, symbiotische Lebensweisen einzuüben – mit den Mitmenschen und mit der Natur.

Ein Fanal, Freiheit als Rücksicht zu begreifen

Das „System der Natur“ ist der Versuch eines viel größeren Systems: einer ethischen Ordnung, die nicht vom Himmel herab gilt, sondern aus dem Menschen heraus kommt. Holbachs Mehrwert liegt darin, den Anti-Machiavelli, die Kunst des guten Herrschens zu formulieren. Er schreibt:

„Die Rechte des Menschen über seine Mitgeschöpfe können sich nur auf die Glückseligkeit gründen, die er ihnen gewährt. Auf jede andere Weise würde die Macht, die er über sie ausübt, Gewalttätigkeit, Usurpation und offenbare Tyrannei sein. Denn jede rechtmäßige Oberherrschaft kann sich nur auf die Aussicht gründen, andere glücklich zu machen.“

Und wie definiert er Glückseligkeit? Diese, schreibt Holbach, könne für den Menschen grundsätzlich nur aus der „Zusammenstimmung seiner Begierden mit seinen Umständen“ entstehen. Also, um es zeitgemäß auszudrücken, daraus, seine Bedürfnisse auf die Möglichkeiten des Planeten Erde auszurichten.

Das „System der Natur“ ist weit mehr als ein Rat an die französische Aristokratie. Holbach geht fest davon aus, dass die Aufklärung ein Erfolg sein und ganze Länder in ihren Bann ziehen wird. Er hat zu Diderots „Encyclopédie“ 414 Beiträge, vor allem über Naturwissenschaft und Bergbau, beigesteuert. Er erkannte die stromartige Kraft von Wissenschaft und Technik, mit der die ganze Gattung Mensch zum milliardenfachen König der Welt wird. Daher richtete er an jeden aufgeklärten Menschen der Zukunft eine Erwartung.

Dem „rechtschaffenen und aufgeklärtesten Manne“ könne man allen Reichtum dieser Welt zu Füßen legen, schreibt er.

„Er wird dadurch nicht in Verlegenheit gesetzt. Seine große und edle Seele wird sich nur aufgefordert fühlen, den Kreis ihrer Wohltaten zu erweitern…Er wird in seinen Vergnügungen mäßig sein, um dieselben besser genießen zu können; weil er weiß, dass das Geld keineswegs eine Seele wiederherstellen kann, die durch übermäßigen Genuss erschlafft, Organe, die durch Übermaß geschwächt, und einen Körper, der in Zukunft unfähig geworden ist, sich ohne eine Menge Versagungen zu erhalten; weil er weiß, dass der Missbrauch des Genusses das Vergnügen in seiner Quelle erstickt und alle Schätze der Welt dem Menschen keine neuen Sinne erkaufen können.“

Schon zu Holbachs Zeiten war das ein flammender Appell. Heute ist es ein Fanal, aufgestellt als Warnfeuer an der Stelle, wo die drei großen Ströme der Agrarrevolution, der Wissenschaftsrevolution und der Gleichheitsrevolution zum Anthropozän zusammenfließen.

Ein Kreuzfahrtschiff fährt auf dem Meer.
Kreuzfahrtreisen gehören zu den umweltschädlichsten Urlaubsformen - und dennoch boomen sie. Wo liegt die Freiheit, im Reisen selbst oder in der Rücksicht auf die Rechte anderer?

In einem kleinen Teil der Erde liegen alle Verbrauchswerte, ob für Energie oder Agrarfläche, um Faktoren über dem Verbrauch anderer Erdregionen: Der zur globalen, westlich orientierten Mittel- und Oberschicht verwandelte Adel prasst, das Landvolk hungert. Wenn aber viele Milliarden Menschen in Asien, Afrika und Südamerika so leben wollen wie die eine Milliarde Amerikaner und Europäer, wo liegt dann das Maß? Wo liegen die Grenzen, sollen wir die Erde nicht von einem Schutthaufen herab regieren? Es bedeutet auf jeden Fall, dass jeder Mensch ein gleiches Recht auch auf die Ressourcen dieser Erde hat.

Mentale Konstruktionen, um Verschwendung zu rechtfertigen

Es wird heute gefährlich und folgenreich, im gemeinsamen Lebensraum Erde so viel zu beanspruchen, dass andere einen Schaden davontragen. Das ist der Ausgangspunkt für eine neue Gleichheitsformel. Weil aber die Unterschiede im materiellen Verbrauch weltweit noch so groß sind, gibt es eine globale vorrevolutionäre Stimmung. Sie kann sich auf verschiedenste Weise entladen: als Ressourcenkrieg oder als Effizienzrevolution, als Weltwirtschaftsimplosion oder als Kreativitätsexplosion.

Noch ist der Ausgang offen.

Die billige Energie von massenweise Öl, Kohle und Gas hat über die Jahrzehnte wie eine Überdosis Treibmittel gewirkt: Statt perfekter Systeme öffentlicher Mobilität sind ganze Flotten von Individualpanzern entstanden und haben die Städte verformt. Statt eines weltweiten Kraftwerksparks erneuerbarer Energien, den es schon seit Jahrzehnten geben könnte, schießen immer noch Kraftwerke aus dem Boden, die mehr als sechzig Prozent der Energie als Abwärme in den Himmel schicken. Und statt aus Häusern, die Energie erzeugen, bestehen die Städte aus Häusern, die ihre kostbare Wärme ins Freie entlassen.

Immer größere Tiefkühltruhen in den Kellern der Nachkriegsgeneration verwandelten sich in die ständig rollenden Tiefkühltruhen der Just-in-time-Logistik. Kreuzfahrten, die ganze Wirtschaftswunderjahrgänge in sich aufnehmen und Fressorgien wie Armenbesichtigung im Preis einschließen, sind zum Massenphänomen geworden. Auf die Nachkriegsgenerationen wirkte der erste Ölschock nur kurz. Freiheit braucht heute einen Zeitbezug: Die „freie“ Marktwirtschaft ist nur so frei, wie sie auch den Menschen des Jahres 2030,2050 oder 2150 die Freiheit lässt, nicht Sklaven einer verarmten, vergifteten und klimatisch gestörten Umwelt zu sein.

Abenteuerliche mentale Konstruktionen sind entstanden, um Verschwendung zu rechtfertigen. Der eigene Wohlstand gilt als überlegen und gottgegeben. Die Wohlstandssehnsucht anderer Menschen gilt als minderwertig und illegitim. Logbuchaufzeichnungen der Frontex-Beamten und Grenzwächter gen Mexiko sprechen davon Bände.

Die westliche Welt ist trotz vierzig Jahren Umweltdebatte, trotz Blauen Engels und Biomärkten ein Gegenuniversum zur „aufgeklärtesten“ Welt geblieben, die Holbach vor sich sah. Weil „der Missbrauch des Genusses das Vergnügen in seiner Quelle erstickt“, wird an der Quelle immer tiefer gegraben, mit realen Baggern und mit den Grabwerkzeugen der Illusionsindustrie.

Mäßigung im Sinne Holbachs ist in unserer Kultur zum Synonym für Langeweile, Naivität und Mittelmaß geworden. Ökonomisch gewendet steht sie für „Kaufzurückhaltung“ und hat so ein beinahe staatsfeindliches Potenzial. Der blinde Wachstumsglaube besteht fort, doch nicht nur Krebszellen wachsen ihren Organismus zu Tode, nicht nur Ferienorte ersticken am Zuviel.

Der Holbach-Code dagegen beschreibt Mäßigung sowohl als Mittel wie als Ziel der Aufklärung.

Das hätte Greenpeace auffallen können: Die Einsicht, dass man Geld nicht essen kann und Bedürfnisse nicht einfach nur wachsen dürfen, entstammt nicht den Indianertipis der amerikanischen Prärie, sondern dem Geburtsort und der Geburtsstunde der europäischen Aufklärung, dem Fortschrittsglauben selbst.

Es geht dabei also nicht um eine Sehnsucht nach einer primitiveren Vergangenheit, sondern um die Sehnsucht nach einer aufgeklärteren Zukunft.

Ein Flugzeug im Start Richtung Sonnenuntergang.
Der Inbegriff modernen Wohlstands – billige Flugreisen an jeden Ort der Welt. Doch was, wenn das die Freiheit anderer einschränkt?

Die Krisen der Ernährung, der Energie, des Klimas und der Finanzen verlangen im Dienst einer solchen Aufklärung nach neuen Metrik. Die Logik des stetigen Wachstums reicht schon lange nicht mehr. Das Maß der Dinge verschiebt sich. Die globalen Obergrenzen des Maßvollen für den Einzelnen sinken in dem Maß, wie die Ansprüche und Verbräuche einer wachsenden Zahl von Menschen steigen und wie die Technik es nicht schafft, die Grenzen des Maßvollen auszuweiten. Das betrifft am stärksten die Menschen in den materiell bereits reichen Ländern.

Bisher verschanzten sie sich hinter der Formel, ihre Handlungen durch die Milliardenzahl der Menschen zu teilen und daraus abzuleiten, dass man selbst doch nur einen minimalen Teil Verantwortung tägt. Die Zukunftsformel lautet dagegen, seine eigene Lebensweise mal acht, neun, zehn Milliarden zu nehmen und zu sehen, was die Folgen wären.

Marktwirtschaft, wirklich frei

Wenn nicht jetzt, wann dann sollte die Stunde des „aufgeklärtesten“ Menschen schlagen, den Holbach kurz vor der Französischen Revolution beschrieben hat, als die Moderne an Fahrt gewann? Es ist die Zeit nicht eines erzwungenen „neuen Menschen“, den die Sozialingenieure und Diktatoren zum Glück noch immer vergeblich zu erschaffen versuchten, sondern die Stunde eines neuen Freiheitsdrangs.

Die indogermanische Wortwurzel für „frei“ stand ursprünglich für „vertraut, lieb, eigen“, für „helfen, lieben, umsorgen“, für „Zuneigung, Freundschaft“. Das ist ein ferner Hall einer Freiheit, die tiefer geht als das ungehinderte, von Rücksichtnahme entbundene, sich kostenlos bedienende Wirtschaften, das sich heute im Freiheitsbegriff einer primitiven Ausprägung des Liberalismus niederschlägt.

Freiheit braucht heute einen Zeitbezug: Die „freie“ Marktwirtschaft ist nur so frei, wie sie auch den Menschen des Jahres 2030,2050 oder 2150 die Freiheit lässt, nicht Sklaven einer verarmten, vergifteten und klimatisch gestörten Umwelt zu sein. Freiheit kann gerade in Begrenzung bestehen: Die Freiheit, die allein auf eine Maximierung des Umsatzes und des Konsums abzielt, bringt zwanghafteres Verhalten hervor als die Freiheit, sich zu bescheiden und zu mäßigen.

Freiheit von heute kommt in einer dicht besiedelten Welt ohne ein Gegenüber nicht aus: Das ist heute nicht nur der Andersdenkende, sondern auch der anderswo oder erst künftig lebende Mensch, den man ungefragt in den eigenen Stoffwechsel einbindet. Auch die andersartigen Lebewesen, die vom eigenen Lebensstil betroffen sind, gehören dazu.

In diesem Sinn ist eine Marktwirtschaft, die in ihren Bilanzen Natur einen Eigenwert und Umweltschäden einen hohen Preis zumisst und die nicht vom beständigen Wachstum des Materialverbrauchs abhängig ist, viel freier als das, was bei selbsternannten „Liberalen“ unter „freier Marktwirtschaft“ verstanden wird. Ein in diesem Sinn freiheitsliebender Mensch muss heute wild entschlossen sein, so zu leben, dass er keine Spur der Zerstörung hinterlässt und sein Geld dazu dient, technologisch mit den Ökosystemen der Natur zu wachsen statt gegen sie.

Dieser neue Freiheitsdrang gärt allerdings erst noch: Er wird indirekt spürbar in den Pathologien des westlichen Lebensstils wie Diabetes, Depressionen, Übergewicht und Burn-out, in den sporadischen Wellen von medialer Erregung über Klimawandel und von Spendenbereitschaft bei humanitären Katastrophen, in der generellen Offenheit für umweltfreundliche Produkte, bevor die „Zwänge des Alltags“ wieder zuschlagen.

Das Unwohlsein in einem Lebensstil, der den Einzelnen bis zur Überforderung beschleunigt und statt Wohlstand Materialumsatz erzeugt, wächst trotz der vielfältigen medialen Möglichkeiten, es zu ersticken. Doch ein tiefer gehender kultureller Wandel ist bisher ausgeblieben.

Wann ändert sich das Leben nicht von wenigen, sondern von Hunderten Millionen Menschen spürbar, wie bei den vorangegangenen Schüben von Modernisierung? Wann beginnt der reale Ausbruch aus den Negativprognosen der Klima- und Naturkrise, denen zufolge schon besiegelt ist, dass Kohlendioxidemissionen, Naturverbrauch, Fleischkonsum bis 2030,2040,2050 um soundso viele Prozent „zunehmen werden“, wie es meist heißt, statt zu sagen: „zunehmen könnten, falls die Menschen nicht von ihrer Freiheit Gebrauch machen, es anders zu tun“?

Für die Freiheit, es anders kommen zu lassen, ist noch Zeit. Schon das ursprüngliche Modell der „Grenzen des Wachstums“, das Donella und Dennis Meadows Anfang der siebziger Jahre am Massachusetts Institute of Technology entwickelt haben, sah eine krisenhafte Wende erst ab dem Jahr 2020 vor. Bis dahin sieht alles so aus, als wären die Probleme lösbar. Für Prognosen wie den IPCC-Bericht steht nun eine millionenfach größere Modellierkraft zur Verfügung, als Meadows sie hatte. Sie führt zu einem ähnlichen Zeithorizont: Immer stärker werden die verschiedenen einzelnen „Umweltprobleme“ zusammenwirken, sich verstärken, zu neuen Phänomenen führen und schließlich mit großer Wahrscheinlichkeit in einen gefährlichen Modus des Anthropozäns münden.

Es gibt keinen Grund mehr, auf Vorgaben von oben herab zu warten

Die Bürger der Industrieländer stehen vor der Wahl: Entweder sie führen die Exzesse weiter an. Oder sie gehen den kreativeren Weg: zu einer Kultur gemäßigten Verbrauchs und exzessiver Forschung. Er ist anstrengender, aber ungleich lohnender. Er führt in eine schlankere, besonnenere Gesellschaft mit neuen Rhythmen, neuen Wohlstandsquellen, neuen Technologien. Ein führender Automanager sagte über die Effizienzstrategie seines Unternehmens: „Wir verdienen, indem wir verzichten.“ Das könnte das Motto einer neuen Ökonomie werden.

Im Moment ist diese Entwicklung künstlich blockiert, weil jeder auf den anderen starrt. Keiner will als Erster umsteigen. Dabei mehren sich die Hinweise, dass immer weiteres Wachstum die Lebensqualität ab einem gewissen Punkt nicht mehr steigern kann. Zufriedenheit und Wohlbefinden hängen offenbar weniger vom absoluten Reichtum ab als von der Frage, wie viele Menschen um den Einzelnen herum mehr zur Verfügung haben.

Für die Armen in Entwicklungsländern ist das keine relevante Botschaft – für sie geht es darum, die Grundbedürfnisse von Nahrung, Bildung, Wohnraum zu erfüllen. Für die globale Mittel- und Oberschicht gilt es sehr wohl. In Umfragen stellen die „gut situierten“ Menschen das höchste Umweltbewusstsein unter Beweis. Sie projizieren es aber viel zu oft auf höhere Instanzen, von denen Lösungen kommen sollen.

Ein medium gebratenes Steak.
Was, wenn ein Steak die Freiheit jener Menschen beeinträchtigt, die dort gelebt haben, wo der Regenwald stand, aus dem Weidefläche für Rinder oder ein Sojaacker für Tierfutter gemacht wurde?

Was aber kommt „von oben“? In regelmäßigen Abständen werden UNO-Weltgipfel inszeniert, die den Eindruck erwecken, dass sich die Regierungen kümmern. Das Vertrauen darauf, dass die nötigen Veränderungen im richtigen Moment von oben herab erlassen werden, erweist sich nun aber als gefährlich.

Im Jahr 1992 kamen in Rio de Janeiro Politiker aus aller Welt zum Erdgipfel zusammen. Sie versprachen, den Klimawandel, den Verlust von Biodiversität und die Wüstenbildung gemeinsam zu bekämpfen. Rund zwanzig Jahre später ist die Bilanz verheerend. Seit dem Rio-Gipfel haben sich die weltweiten Kohlendioxidemissionen mehr als verdoppelt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich der Schwund von Genvielfalt, Tier- und Pflanzenarten und Ökosystemen verlangsamt hätte. Und das dritte Ziel der Nachhaltigkeit, Wohlstand durch umweltfreundliches Wirtschaften, ist nur punktuell zu besichtigen, aber nicht in der Fläche.

Der neuerliche Erdgipfel in Rio im Jahr 2012 stand ganz im Schatten der damaligen Weltwirtschaftskrise – doch kein Staatenlenker wagte es, die tieferen Muster der Krisen zu formulieren: dass die westliche Lebensweise eine multiple Überschuldung verursacht und es neuer Grundmuster der Entwicklung bedarf. Hier beginnt die wirkliche Freiheit von Individuen, Familien, Firmen und anderen Gruppen in einer freien Marktwirtschaft: das Leben so zu ändern, dass jeder Mensch es leben könnte.

Ohne die Bemühungen in der Regie der Vereinten Nationen wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Es gibt keinen Grund mehr dafür, auf die Prozesse von oben herab zu warten, so dringend nötig sie sind, um die Treibhausgase zu begrenzen, gefährliche Chemikalien zu bannen, gefährdete Tierarten zu schützen oder ein wirklich funktionierendes Netz von Schutzgebieten zu erhalten.

Erst eine globale Bürgerbewegung, eine Masse von Menschen, die das herbeilebt, was auf den Weltgipfeln herauskommen soll, schafft die nötigen politischen Impulse.

Sollen dabei ernsthaft die ein bis zwei Milliarden wirklich Armen in den Entwicklungsländern vorausgehen, die noch ohne Strom leben, kaum Abfall verursachen und so gut wie kein Fleisch essen? Oder sollen sich die Menschen in den Schwellenländern – die gerade erst eine Ahnung davon bekommen, was es heißt, in westlichem Wohlstand zu leben – als Erste an den neuen Maßen orientieren?

Ein verlogener Individualismus, der sich groß und klein zugleich macht

Man kann das wünschen und fordern, nur wird es nicht passieren. Die Macht der Bilder aus dem Westen ist zu groß. Ein führender chinesischer Politiker schockierte seine westlichen Zuhörer gern damit, dass er sich den Kragen lockerte und um Wasser bat. Es sei so heiß hier im Saal, sagte er dann. Seine Gastgeber gerieten in diesem Moment in Panik, weil sie dachten, der Mann erleide gleich einen Herzinfarkt.

Es war alles ein Schauspiel. Nachdem er zum dritten Mal gesagt hatte, wie heiß es doch sei, rückte der Minister mit der Pointe heraus: Er hat als Kind in einer Wohnung ohne Zentralheizung gelebt und musste sich an Kälte gewöhnen. Fünfhundert Millionen Menschen in China müßten noch heute ohne Heizung leben, sagte er dann. Der Westen könne von China nicht verlangen, seinen Verbrauch fossiler Brennstoffe zu drosseln, während in seinen Städten die Räume überheizt seien.

Die Reise in das Zentrum des Anthropozäns führt eben nicht zum nächsten, angeblich wegweisenden Weltgipfel, auch nicht auf den Capitol Hill oder ins Regierungsviertel von Peking. Sie führt zuerst ins innerste Herz der Globalkultur, die sich aus der Gleichheitsrevolution von 1789 hervorgehend weltweit ausgebreitet hat: zum Individuum und seinen sozialen Organisationsformen.

Der Individualismus ist die stärkste Kraft, die aus der Aufklärung hervorgegangen ist. Das kommt in wirklich allen Dimensionen der Gesellschaft zum Ausdruck. Das Individuum ist der Ausgangspunkt der Demokratie, der Menschenwürde und der Menschenrechte. Es steht auch in der Konsumwelt im Mittelpunkt, so sehr, dass im Massenverbrauch wenigstens der Anschein des Individuellen entstehen muss. Die kollektive Kaufkraft ist heute größer als die Regenerationskraft der Erde. Hier das Richtige zu tun ist nicht einfach.

Es handelt sich meist nur um vorgetäuschten individuellen Nutzen und lediglich um scheinbare Individualität. Deshalb wimmelt es nur so von „persönlichen Einstellungen“, die man vornehmen kann, und von Fernsehshows, die aus Unbekannten „Stars“ zu machen versprechen.

Dieser Individualismus ist nicht zu Ende gereift. Jedes „Ich“ versteht sich als Zentrum der Welt, ausgestattet mit dem Naturrecht des Wohlstands – bis die Frage nach den Folgen auftaucht. Dann versteckt sich dieses Ich in der anonymen Masse. Das ist eigentlich kein Individualismus, sondern ein „Dividualismus“. Genuss und Verantwortung sind dabei getrennt. Hier die Privatsache Autofahren, dort das Gesellschaftsproblem Klimawandel. Hier das tägliche Fleischvergnügen, dort das Kollektivproblem Regenwaldzerstörung. Hier der Überfluss der Produkte, dort der Ausfluss der Abfälle.

Alltagszwänge der Verschwendung

Dieses Ich profitiert täglich von der Komplexität der Welt und Dienstleistungen. Nur wenn eine eigene Handlung außerhalb der Reaktionsnorm gefragt ist, dann ist die Welt plötzlich zu kompliziert und unklar, um etwas zu tun. Dieses Ich navigiert die Einkaufsräume perfekt und vergleicht jedes Merkmal von Produkten, bis es aufgefordert wird, darauf zu achten, dass der Fisch als nachhaltig zertifiziert ist oder die Gartenmöbel nicht aus Walddiebstahl stammen. Dann wird auf Überforderung reklamiert.

Es ist ein verlogener Individualismus, der sich im entscheidenden Moment kleinmacht, indem er alles durch acht Milliarden Menschen teilt. Wie sich der Einzelne als 0,000000000125. Teil der Menschheit verhält, ob er zum Beispiel Energie verschwendet oder nicht, spielt so betrachtet kaum eine Rolle. Einer von acht Milliarden, was macht das aus? Das erlaubt es, sich den kleinen, persönlichen Vorteil zu verschaffen, sich auf der Welle der Produkte treiben zu lassen, sich einzufügen in die Alltagszwänge der Verschwendung, die wahren Kosten des eigenen Tuns auszublenden. Es ist, als könnte man im Supermarkt auf Kredit einkaufen und die Rechnung mit Zinseszins an seine Kinder in der Zukunft schicken.

Die kollektive Kaufkraft ist heute größer als die Regenerationskraft der Erde. Hier das Richtige zu tun ist nicht einfach. Vieles ist verschleiert, weit entfernt, herrlich verpackt. Oft ist der Wissensstand selbst der Wissenschaft noch vorläufig. Oft heißt es, dass das Individuum an sich überhaupt keine Macht hat und es nur ein Spielball übermächtiger oder versteckter Interessen ist. Aber wer soll dann handeln? Kann man es allein den neuen Technologien überlassen, das Gebotene zu tun, sich so zu verhalten, wie es sozial ist?

Muss erst die Technik ethischer sein als wir selbst? Der Philosoph Günther Anders warnte bereits in den fünfziger Jahren, dass es so kommen könnte: „Die Sitten werden heute von Dingen durchgesetzt.“ Deshalb alle Hoffnung auf Technologie zu setzen hat jedoch etwas Abergläubisches.

Hier beginnt die wirkliche Freiheit von Individuen, Familien, Firmen und anderen Gruppen in einer freien Marktwirtschaft: das Leben so zu ändern, dass jeder Mensch es leben könnte, durch Verzicht und durch Investitionen in neues Wissen das Richtige herbeizuleben, lernunfähige Firmen und Marken durch Verzicht zu zerstören sowie lernfähige Systeme zu belohnen.

Den Menschen von heute wird verboten, in einer zivilisationsfreundlichen Umwelt zu leben

Oder muss es zuerst eine „Energetische Revolution“ geben, die aus den versinkenden Metropolen des Südens, aus Jakarta, Kalkutta und Port-au-Prince das Recht auf gleichen Rohstoffverbrauch einfordert und die Kohlenstoffreichen das Fürchten lehrt?

Einen globalen Öko-Kommunismus, der eine einheitliche, verträgliche Ressourcenzuteilung mit aller staatlichen Gewalt durchsetzt?

Eine Gelehrtenherrschaft, in der Wissenschaftler des Weltklimarats IPCC die klimaverträgliche Zahl der Rinder festsetzen, was von Agrarministerien umgehend in Verkaufsbeschränkungen für die Metzgereien und Supermärkte umgesetzt wird?

Das sind gruselige Szenarien, die dem Freiheitsgedanken zuwiderlaufen. Doch die Legitimität von drakonischen Gesetzen, Ökosteuern, Zöllen, die das Gemeingut vor der Gier der Gegenwart schützen, steigt mit jedem Tag, an dem eine Bewegung der freien Bürger ausbleibt. Der Ruf nach autoritären Systemen, die den Menschen die nötigen Entscheidungen abnehmen, wird auf beunruhigende Weise bereits lauter.

Die vulgäre Konsumfreiheit ist eine Diktatur über die Zukunft

Wenn das „Weiter so“ weitergeht, beschwört das letztlich sogar unfreie Verhaltenstechnologien herauf, wie sie der Psychologe Frederic Skinner beschrieben hat. Heute wirken solche Manipulationen überall im Dienst des Konsumismus, um Bedürfnisse zu erfinden.

Darauf gründen ganze Industriezweige. Das machte Skinner selbst am Beispiel der Mode deutlich, die voll funktionsfähige Kleidung künstlich entwertet. Doch manche der Verzweifelten unter den Zukunftsdenkern fragen sich, welche Ereignisse eigentlich eintreten müssten, um ein Land wie die USA von der Energieverschwendung abzubringen und davon, den Klimawandel zu leugnen. Wäre es da vielleicht ethisch geboten, die Manipulationstechniken der Konsumstrategen einzusetzen?

Diese angeblich humanistische Manipulation des Verhaltens hat Skinner in seinem Roman „Walden Zwei“ ausgemalt und in „Jenseits von Freiheit und Würde“ akademisch untermauert. Sie ist nicht weniger unheimlich, denn sie gründet nicht auf der aufgeklärten Einsicht in die Bedingungen des eigenen Handelns, sondern auf einer elitären Manipulation dieser Bedingungen.

Veränderungen auf allen Ebenen von privat bis global

Wird letztlich ein künstliches Mäßigungs-Pheromon oder Empathie-Hormon nötig sein, das dem Trinkwasser beigesetzt wird und die Menschen davon abhält, weiter auf ihrem Heimatplaneten zu randalieren? Eine Art Verhütungsmittel für Überkonsum? Verlangt die Entwicklung nach einer solchen gesteigerten Form von crowd control? Es wäre der Horror.

Aber was sonst soll rettend sein? Was passiert, wenn die Menschheit es überhaupt nicht schafft, die Konsequenzen ihres Handelns einzudämmen, ist vielfach ausgemalt. Die Szenarien des multiplen Organversagens der Erde sind hinreichend bekannt. Die Szenarien eines multiplen Gesellschaftsversagens werden deutlicher hervortreten, je chaotischer und krisenhafter es wird, auf der Erde zu leben.

Freiheitlich eingestellt zu sein heißt, heute zu beweisen, dass weder Öko-Autoritarismus noch eine künstliche Konditionierung ganzer Gesellschaften nötig sind, um die nötigen Veränderungen für den Schutz unserer Lebensgrundlagen herbeizuführen.

Veränderungen sind dafür nicht nur auf der Ebene des Einzelnen oder der Umweltgesetze nötig: die Einkaufsregeln der Handelsketten, die Kreditregeln der Banken, die Förderregeln der Staatssubventionen, die Verteilungsregeln der Steuereinnahmen, die Rentenformeln und alles andere, was Ressourcen bindet, stehen ebenfalls zur Diskussion.

Es geht darum, das Betriebssystem der Gesellschaften umzuschreiben: Endlose Wachstumsraten sind nur noch für das realistisch, was das Erdsystem schont und regeneriert, was Wohlstand global gleichmäßiger verteilt, den Schutz vor Infektionskrankheiten verbessert und Bildungsprozesse fördert. Mit dem Wachstum des Energie- und Ressourcenverbrauchs wächst derzeit noch immer das Falsche.

Die heute „Freiheit“ rufen, wenn sie für den Klima- und Naturschutz auf Gewohnheiten verzichten sollen, sind in Wahrheit die Vertreter einer Diktatur über die Zukunft. Was sie zelebrieren – das Gewohnheitshandeln von Autofahrern, Flugreisenden, hemmungslosen Fleischkonsumenten – macht eine Welt existentieller Verbote jeden Tag wahrscheinlicher.

Den Menschen der nahen und fernen Zukunft wird verboten, frei von Wetterextremen zu leben, eine lebendige, vielfältige Natur zu genießen, ihre Nahrung von Feldern zu holen, die nicht umkämpft sind, in ihrer Heimat zu bleiben, statt sie im Meer absaufen zu sehen. Auch das ist ein Wesensmerkmal des Anthropozäns: Dass unsere Handlungen von heute tief in die Zukunft reichen – und vielfach kaum oder nur mit riesigem Aufwand rückgängig gemacht werden können, ob nun bei der Erderhitzung, der chemischen Zersetzung von Korallenriffen oder dem Veschwinden von Tier- und Pflanzenarten.

Der „aufgeklärteste Mensch“ von heute – er und sie lebt eine neue Freiheit, in der die Freiheit der Zukünftigen eingebettet ist.

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