Anthropo-was-bitte?

Mitreden, wenn das A-Wort fällt. Ein Crashkurs in zehn Fragen zu unserer neuen Erdepoche

54 Minuten
Die US-amerikanischen Stadt Phoenix bei Nacht. Aufgenommen aus der Internationalen Raumstation.

Seit vielen Jahren kursiert ein neuer Begriff in der Diskussion um den Einfluss des Menschen auf die Erde: Anthropozän.

Anthropo-was-bitte? Viele Menschen können mit dem Begriff intuitiv nichts anfangen.

Wenn es auch Ihnen so geht, machen Sie sich keine Sorgen. Hier bekommen Sie einen Crashkurs Anthropozän. Nachdem Sie diesen Artikel bis zum Ende gelesen haben, sind Sie dafür gewappnet, im Büro, beim Essen mit Freunden oder bei einer Party mitzureden, wenn das A-Wort aufkommt.

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1. Was bedeutet Anthropozän überhaupt?

Jeder kennt die vieldiskutierten Umweltprobleme, die derzeit die Welt verändern: den Klimawandel, den Schwund von Tier- und Pflanzenarten, die Verschmutzung der Meere mit Plastik. Und jeder kennt das, was Menschen Neues schaffen, Städte, Straßen, Elektrogeräte, Industrieanlagen. Im Umgang damit gibt es noch immer die Haltung: Wir Menschen sind viel zu klein und unwichtig, um die Erde grundlegend zu verändern. Und was wir Schlechtes tun, das verschwindet nach ein paar Jahrzehnten oder Jahrhunderten wieder, wenn wir Menschen uns eines Besseren besonnen haben oder ausgestorben sind.

Eine große Zahl von Wissenschaftlern widerspricht dieser Auffassung. Sie sagen: Zusammengenommen sind alle Umweltveränderungen, die wir Menschen derzeit herbeiführen, derart tiefgreifend und vor allem über viele Generationen hinaus so langfristig, dass sie über geologische Zeiträume spürbar, sichtbar und messbar sein werden, also auch noch in Hunderttausenden oder in Millionen Jahren. Diese Wissenschaftler sagen: Wir verändern die Erde dauerhaft und sind dabei, ein neues Kapitel in der Erdgeschichte zu eröffnen, ähnlich bedeutend wie frühere neue Kapitel, zum Beispiel das Ende der Eiszeit. Im Jahr 2000 schlug der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen einen Namen für das neue Kapitel vor: „Anthropozän“, von den altgriechischen Wörtern „anthropos“ (Mensch) und „kainos“ (neu, noch nie dagewesen, unerwartet). Die Endsilbe -zän benutzen Geologen für eine Abfolge von Erdepochen seit dem Aussterben der Dinosaurier. Anthropozän heißt in der Sprache der Wissenschaft so viel wie „die Erdepoche des Menschen“.

2. Mir liegt’s auf der Zunge, aber wie heißt unsere bisherige Erdepoche noch gleich?

Nach der Zeitrechnung der Geologen leben wir seit dem Abschmelzen der großen Eiszeitgletscher, also seit knapp 12.000 Jahren, in einer neuen Erdepoche namens Holozän. Dem ging das Pleistozän voraus, das vor 2,6 Millionen Jahren begann und von der Vergletscherung geprägt ist. So lernt man es bis heute in der Schule. Holozän bedeutet wörtlich übersetzt „das völlig Neue“. Der Mensch erschien übrigens nicht im Holozän, wie es im Romantitel von Max Frisch heißt, sondern im Pleistozän.

3. Und wer entscheidet darüber, wie wir Erdepochen und Erdzeitalter nennen?

Zuständig dafür, die Erdgeschichte in Kapitel und Unterkapitel einzuteilen, ist die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS). Auf Deutsch heißt die Disziplin Schichtenkunde, sie ist jener Teil der Geologie, der sich mit den Gesteinsschichten und ihrer Abfolge beschäftigt. Die „ICS“ gibt die offiziell gültige Zeittafel der Erdgeschichte heraus und schreibt die Methoden fest, nach denen Zeitabschnitte eingeteilt und voneinander abgegrenzt werden. Die Experten der Kommission sind also die „Hüter der Erdzeit.“ Das Kriterium dafür, dass eine neue Erdepoche ausgerufen wird, sind tiefgreifende und globale Veränderungen, die sich in den Gesteinsschichten auch der tiefen Zukunft wiederfinden lassen.

Vorschläge von Wissenschaftlern, neue Zeitabschnitte zu benennen oder die zeitlichen Grenzen bestehender Epochen und Zeitalter nach oben oder unten zu verschieben, werden von der Internationalen Stratigraphie-Kommission intensiv geprüft. Vor ihrer Gründung im Jahr 1974 dauerte es zum Beispiel rund 100 Jahre vom Vorschlag, das Holozän einzuführen, bis zur weltweiten Verwendung des Begriffs Ende der 1960er Jahre.

4. Also ist das Anthropozän noch gar keine offizielle Bezeichnung unserer Zeit?

Genau. Was Paul Crutzen vorschlug, ist bis heute eine naturwissenschaftliche Hypothese: Eine Behauptung, die durch Forschung überprüft werden muss.

Crutzens Vorstoß wurde von vielen Wissenschaftlern aber sehr ernst genommen, weil der 1933 in den Niederlanden geborene Atmosphärenchemiker einer der weltweit meistzitierten Wissenschaftler überhaupt ist. Besondere Verdienste hat er sich dabei erworben, die Rolle von Stickstoffverbindungen in der Atmosphäre zu erforschen, die schützende Ozonschicht der Erde zu verstehen und die Folgen eines Nuklearkriegs zu modellieren. Vor allem das Ozonloch hat Crutzen dazu motiviert, das Anthropozän vorzuschlagen. Dass wir Menschen quasi nebenher mit FCKW-Abgasen aus Kühlschränken und Spraydosen die Schutzschicht der Erde gefährdet haben, hat ihm nach eigenen Worten sehr zu denken gegeben und Sorge bereitet. Crutzen gehörte zu den Wegbereitern des „Montreal-Protokoll“ der Vereinten Nationen, das den Ausstoß an FCKWs verringern soll.

2009 fand sich eine Arbeitsgruppe von Geologen unter dem Dach der ICS zusammen, um die Anthropozän-Hypothese wissenschaftlich zu überprüfen. Die „Anthropocene Working Group" ist seitdem auf 35 Mitglieder angewachsen, die nun teilweise auch aus anderen Disziplinen stammen, um andere Perspektiven auf das Anthropozän zu berücksichtigen. 2016 hat die Gruppe erstmals über den Vorschlag abgestimmt und sich klar dafür ausgesprochen, das Anthropozän offiziell auszurufen. Bis das dann wirklich geschieht, sind aber noch weitere Schritte nötig (siehe Frage 9).

5. Ist so ein Name nicht egal?

Nein, denn das Anthropozän ist kein abstraktes Konzept. Es bezieht sich auf Dinge, die fast alle Menschen tagtäglich tun: Lebensmittel zu konsumieren, Strom zu verbrauchen, sich mit Hilfe fossiler Energieträger fortzubewegen und Abfall zu erzeugen zum Beispiel. In unserem bisherigen Zeitgefühl spielen die Geologie und ihr langer Zeithorizont allerdings kaum eine Rolle. Wir denken in Stunden, Tagen, Jahren, höchstens Jahrzehnten. Aber die Anthropozän-Idee macht uns klar, dass unser Handeln von heute weit darüber hinaus Konsequenzen hat.

Zudem rührt die Anthropozän-Idee ganz grundsätzlich an unser Konzept von Zeit – eine ziemlich fundamentale Sache. Bisher unterscheiden wir zwischen zwei Formen von „Geschichte“: Da ist die Geschichte aus dem Geschichtsunterricht, die der Herrscher, Kriege und Völkerwanderungen. Und dann gibt es die Geschichte aus dem Biologieunterricht, die Erdgeschichte, in der es um die Evolution von Tieren und Pflanzen, um Klimaveränderungen und Gebirgsbildung geht. Die Anthropozän-Idee besagt nun: Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte sind eins geworden. Demnach bestimmen wir Menschen von heute die Lebensbedingungen auf der Erde für extrem lange Zeiträume. Wir sind selbst zur Naturgewalt geworden.

Das wiederum stellt bisherige Gegensätze wie „Natur“ und „Kultur“ ebenso infrage wie noch grundsätzlicher das Konzept einer „Umwelt“, die nach gängiger Vorstellung von der Menschenwelt getrennt ist. Der Geograf Erle Ellis hat gesagt: Früher bildete die menschliche Zivilisation Inseln inmitten einer wilden, unerschöpflichen Natur. Heute gibt es nur noch kleine Inseln unberührter Natur inmitten einer vom Menschen geprägten Welt. Die Verhältnisse haben sich demnach umgekehrt. Der deutsche Geologe Reinhold Leinfelder, Mitglied der „Anthropocene Working Group“, spricht deshalb von der „Unswelt“.

6. Über Klimawandel und Artenschwund wird doch schon lange diskutiert. Was soll daran neu sein?

Das Anthropozän schafft einen Blick auf das Ganze (siehe Frage 7). Es fasst alle vom Menschen verursachten Veränderungen in einem einzigen Begriff und einem gemeinsamen Konzept zusammenfasst, während die Probleme sonst getrennt voneinander von verschiedenen Expertengruppen behandelt werden.

Zudem bringt es eine neue Dimension ins Spiel: die Zeit. Schon im 19. Jahrhundert war bekannt, dass die Industrialisierung gravierende Umweltveränderungen mit sich bringt. Im 20. Jahrhundert trat ins öffentliche Bewusstsein, dass wir Menschen die Erde in globalem Maßstab verändern und nicht nur regional an örtlich begrenzten Stellen.

Das Neue an der Anthropozän-Hypothese ist nun die Einbeziehung der zeitlichen Dimension. Die Veränderungen wirken nicht nur in der Gegenwart, sondern sie reichen tief in die Zukunft. Landet in einer Million Jahren ein Raumschiff mit außerirdischen Forschern, werden sie feststellen, dass in unserer Zeit etwas Besonderes passiert ist – ähnlich wie Forscher von heute frühere Zeitbrüche mit dramatischen Auswirkungen ermitteln, zum Beispiel das Aussterben der Dinosaurier.

7. Welche Indizien gibt es für das Anthropozän?

Die Mitglieder der Anthropocene Working Group sammeln seit 2009 Indizien und Belege für das Anthropozän aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Neben der vom Menschen verursachten Erhöhung der CO2– und Methan-Konzentration in der Atmosphäre und dem Aussterben von Arten zählen dazu viele weitere Faktoren.

Wir Menschen

  • schaffen urbane Gebilde aus Gestein, Metall und Glas, die sich über immer größere Teile der Landmasse erstrecken
  • synthetisieren Mineralien sowie neuartige radioaktive Isotope und Elemente, die sich in Gesteinsschichten ablagern
  • bringen Rohstoffe wie zum Beispiel Phosphor oder Koltan in riesigen Mengen aus den Förderregionen in weit entfernte Konsumgebiete, verlagern also geologische Materie in großem Stil.
  • legen Hunderttausende Kilometer Straßen, Eisenbahnstecken und Kabel an, die aus langlebigen Materialien bestehen, und bohren Zehntausende Kilometer Tunnel in Bergen
  • erzeugen riesige Mengen Fossilien – die Knochenrückstände von Hühnern, Rindern und Schweinen, deren Biomasse längst die der wildlebenden Landwirbeltiere um ein Vielfaches übersteigt
  • breiten aktiv Tausende gebietsfremde Arten auf anderen Kontinenten aus, deren Skelette ebenfalls als neuartige Fossilien überdauern können
  • verursachen durch industrialisierte Landwirtschaft Erosionsprozesse, die natürliche Stofftransporte um ein Vielfaches übersteigen und stauen Sedimente an großen Wasserkraftwerken auf
  • hinterlassen durch die Trawlerfischerei auf riesigen Flächen auf dem Boden der Ozeangebiete dauerhafte Furchen und gefährden die Existenz von Korallenriffen, weil das Meereswasser saurer und wärmer wird
  • umgeben die Erde mit einem Mantel an Weltraumschrott erzeugen Millionen Tonnen von „Technofossilien“ wie Industrieanlagen und Elektrogeräte
  • stellen so viel Beton her, dass wir auf jedem Quadratmeter Erde ein Kilogramm ablagern könnten und so viel langlebiges Plastik, um die Erde einmal in Folie einzuwickeln.

Die Summe dieser Prozesse verändert laut „Anthropocene Working Group“ die Geologie der Erde dauerhaft und messbar.

8. Wann soll das Anthropozän begonnen haben?

Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Anthropocene Working Group spricht sich für ein Anfangsdatum im Zeitraum 1945–1950 aus. Der Fallout der damaligen Kernwaffenexplosionen und die erste globale Welle von Plastikkonsum würden demnach den Beginn der neuen Erdepoche markieren.

Andere Wissenschafter wollen den Beginn schon in der Zeit der ersten großen Waldrodungen und des ersten Reisanbaus vor rund 5000 Jahren ansetzen, weil dadurch die globalen Methan-Emissionen nachweisbar stiegen. Andere setzen die Zeit des Genozids an den nordamerikanischen Ureinwohnern an, weil dies zu einer flächigen Waldausbreitung geführt habe, in deren Verlauf die globale CO2-Konzentration in der Atmosphäre gesunken und es zur „Kleinen Eiszeit“ gekommen sei.

Wieder andere Wissenschaftler halten wegen der Bedeutung fossiler Brennstoffe ein Anfangsdatum in der Frühphase der Industrialisierung für sinnvoll, also im 19. Jahrhundert. Allerdings gehört es zu den Anforderungen einer neuen Erdepoche, dass ihre Merkmale dauerhaft global nachweisbar sein müssen. Nach Ansicht der Anthropozän-Arbeitsgruppe erfüllen erstmals die Spuren aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Kriterium.

9. Sind sich alle Wissenschaftler einig, dass das Anthropozän bereits eingetreten ist?

Nein. Zwar wird der Begriff Anthropozän in der wissenschaftlichen Literatur mit zunehmender Selbstverständlichkeit benutzt. Zahlreiche Geologen befürworten das Konzept. Doch es gibt auch Wissenschaftler, die sich gegen eine baldige Anerkennung aussprechen oder die Hypothese ganz ablehnen. Sie führen als Argumente an, dass die vom Menschen verursachten Änderungen noch lange nicht mit anderen geologischen Prozessen mithalten könnten und es nicht klar sei, wie langfristig messbar sie seien. Kritik gibt es auch aus anderen Richtungen. Einige sehen einen zu starken Fokus auf den Menschen. Andere finden, dass es zu vage ist, allgemein „den Menschen“ als Verursacher zu benennen statt zum Beispiel den Kapitalismus.

Bis zu einer Anerkennung muss der Vorschlag der Anthropocene Working Group zuerst die übergeordnete Arbeitsgruppe überzeugen, die für Pleistozän und Holozän zuständig ist. Dann muss die gesamte Führung der Internationale Kommission für Stratigraphie abstimmen und zuletzt die wiederum übergeordnete International Union of Geological Sciences.

Insofern war eine Aussage von Bundeskanzlerin Merkel, das Anthropozän sei 2016 „von der internationalen geologischen Gesellschaft übernommen“ worden, nicht korrekt. Wann der Entscheidungsprozess abgeschlossen sein wird und wie er ausgeht, ist derzeit offen. Der Urheber der Idee, Paul Crutzen, sagte dem Autor dazu im Herbst 2018, dass er eine formale Anerkennung gar nicht so wichtig finde. Wichtiger sei die Diskussion über die realen Probleme, die es zu lösen gelte.

10. Ist das Anthropozän nur ein akademisches Wort für Öko-Apokalypse oder ist es eine neue Ideologie?

Weder noch. Rein geologisch betrachtet, bedeutet die Anthropozän-Diagnose zunächst kein Werturteil. Sie trifft zunächst keine Aussage darüber, ob eine Veränderung gut oder schlecht ist. Es geht primär um die Wucht und die Dauer von Veränderungen im Vergleich zu anderen Kräften in der Natur.

Anthropozän-Forscher machen sich aber auch Gedanken, welche zusätzliche Verantwortung dadurch entsteht, dass wir wissen, wie langfristig unsere heutigen Handlungen nachwirken. Denn das eine einzelne Spezies wissentlich den Lauf der Erdgeschichte verändert, ist in der Geschichte des Planeten ein absolut neues Phänomen.

Von einem Weltuntergang ist im Kontext des Anthropozäns nicht die Rede. Im Gegenteil zeigt das Konzept auf, dass heutige Umweltveränderungen noch in ferne Zukunft nachwirken werden. Das Anthropozän beschreibt also den Beginn einer neuen Zeit, kein Ende.

Wichtig an der Hypothese ist, dass sie aus der Naturwissenschaft stammt und von einer engen Verbindung von Menschen und Erde ausgeht. Sie definiert Homo sapiens als die dominierende Kraft, die für die Zukunft der Erde eine entscheidende Rolle spielt. Ansonsten ist die Idee offen für Interpretationen. Paul Crutzen wird von Kritikern mit dem Geoengineering, also mit dem Versuch einer künstlichen Kühlung des Weltklimas, in Verbindung gebracht, weil er dazu publiziert hat. Crutzen steht dem Geoengineering aber kritisch gegenüber.

Es gibt bereits heute eine große Vielfalt von natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie ethischen und philosophischen Interpretationen des Anthropozäns. Gemeinsam haben sie, dass sie die Wechselwirkungen von Menschen und Erde als dringliches Thema von epochaler Bedeutung auffassen und ein stärkeres Bewusstsein für globale Zusammenhänge und Abhängigkeiten einfordern. Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte sagt: „Das Anthropozän ist ein Prozess, der über sich selbst reflektiert.“

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