G7-Gipfel: „Von Elmau muss ein Signal an die Welt gehen – wir kümmern uns um die Natur“
Senckenberg-Generaldirektor Klement Tockner über einen Brandbrief an Kanzler Olaf Scholz vor dem Treffen der Industriestaaten am Wochenende und über seine Erwartungen an den UN-Weltnaturgipfel im Dezember
Rund 1700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich bereits hinter die „Berliner Erklärung“ gestellt, in der die Direktoren der drei Leibniz-Naturforschungsmuseen die Bundesregierung zu einem stärkeren Engagement für den weltweiten Naturschutz aufrufen.
Gefordert wird eine sofortige Verdoppelung der Mittel für die internationale Naturschutzfinanzierung und mittelfristig eine Verzehnfachung. Zudem müsse die Bundesregierung ihre derzeitige Präsidentschaft in der Gruppe führender Industrienationen (G7) nutzen, um die stockenden Verhandlungen für das Weltnaturabkommen voranzubringen. Im Vorfeld des am Sonntag auf Schloss Elmau in Bayern stattfindenden G7-Gipfels sprachen wir mit Klement Tockner, dem Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und federführenden Initiator der Berliner Erklärung, über seine Erwartungen.
Die Initiatoren der Berliner Erklärung haben sich vor einigen Tagen mit einem Brandbrief an Kanzler Scholz gewandt. Darin fordern Sie und ihre Kollegen ihn auf, seine Rolle als derzeitiger G7-Vorsitzender zu nutzen, um den Verhandlungen für das neue Weltnaturabkommen Schub zu verleihen. Welches Signal erhoffen Sie sich vom bevorstehenden Gipfel der sieben führenden Industrienationen?
Der G7-Gipfel ist der passende Rahmen für ein richtig großes Signal an die Welt – für eine Botschaft die lautet: Wir kümmern uns, wir übernehmen Verantwortung, denn es geht um das Überleben der nächsten Generationen auf dieser Erde. Der Rückgang der biologischen Vielfalt ist aus meiner Sicht die größte Herausforderung, vor der wir stehen – wohl noch mehr als der Klimawandel, wobei man beides – Biodiversitätsverlust und Klimawandel – immer gemeinsam sehen muss. Wir sprechen daher von einer Zwillingskrise.
Wie begründen Sie diese Gewichtung?
Was die Natur in 100 Millionen Jahren aufgebaut hat, zerstören wir in nur 15 Menschengenerationen. Wir berauben damit unsere zukünftigen Generationen ihrer Lebensgrundlage. Was aber einmal verloren ist, ist für immer verloren, und wir wissen nicht, was ein Verlust der biologischen Vielfalt um 10,20 oder 30 Prozent für den Planeten und uns mittel- und langfristig bedeuten. Die Politik ist aber zur Vorsorge verpflichtet – und in der G7-Präsidentschaft liegt die Möglichkeit, hier einen Pflock einzuschlagen. Es ist Zeit, ein wirklich mutiges Signal an die Welt zu senden.
In Ihrem Brief zeigen Sie sich besorgt, dass die Bundesregierung das im Koalitionsvertrag gegebene Versprechen nicht einhalten wird, die Finanzmittel für die Umsetzung des neuen Weltnaturabkommens erheblich zu erhöhen. Kommt die Natur angesichts des Kriegs in der Ukraine und seiner Folgen wieder einmal unter die Räder, weil andere Prioritäten gesetzt werden?
Diese Gefahr besteht auf jeden Fall. Wir sehen schon, dass das Geld in einigen Bereichen knapp wird, weil es für akute Krisen verwendet wird. Wir sehen zugleich innerhalb der Regierung aber auch, dass derWille vorhanden ist, ihrer globalen Verantwortung gerecht werden zu wollen. Daran habe ich keinen Zweifel.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert aber unzweifelhaft eine Zeitenwende, die auch die politischen Schwerpunkte verschiebt. Nun gelte es eben, akute Krisen zu lösen und andere Probleme hinten anzustellen, wird argumentiert. Was ist daran so falsch?
Der Krieg darf nicht als Gelegenheit verwendet werden, opportunistisch gegen Veränderungen vorzugehen. Ein Politiker sagte kürzlich, wer jetzt gegen Wasserkraft in Gebirgsflüssen sei, spiele Diktatoren in die Hände. Auch Fracking wird wieder ins Gespräch gebracht, der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, das Aufschieben von Moor-Wiedervernässung, Getreideanbau auf Brachflächen – es gibt viele Beispiele dafür, dass Dinge sich wieder in die falsche Richtung drehen.
Mit welchem Risiko?
Da werden langfristige Strategien für kurzfristige windows of opportunity aufgegeben. Das verkennt aber eines: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es gegenzusteuern – und desto teurer wird es. Wenn wir jetzt nicht investieren, werden unsere Kinder und Enkelkinder dafür massiv bezahlen. Naturschutz ist eine Präventionsmaßnahme – und dazu ein weitaus günstigerer Weg als abzuwarten und dann zu heilen. Auch der Biodiversitätsverlust ist eine akute Krise – sie ist nur nicht so sichtbar, wie andere!
Das bringt uns zum Thema Geld. Konkret fordern Sie mit Blick auf die laufenden Verhandlungen für das Weltnaturabkommen von Scholz eine Aufstockung der Ausgaben für den globalen Naturschutz um mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr und auf acht Milliarden im Laufe der Legislaturperiode. Das wäre dann eine Verzehnfachung. Ist das realistisch?
Es geht darum, dass wir jetzt nicht nur ein weiteres Schrittchen machen, sondern einen Sprung. Diesen Mut braucht es. Mit nur leichten Anhebungen werden wir nichts bewegen können. Der Gipfel wird scheitern, wenn der globale Norden nicht bereit ist, deutlich mehr Geld zu investieren. Und was sind zwei Milliarden oder auch acht Milliarden, die man benötigen würde im Vergleich zu den jährlich fast 70 Milliarden, die für naturschädliche Subventionen aufgebracht werden? Öffentliche Mittel müssen für das Gemeinwohl der Bevölkerung ausgegeben werden – und angesichts des Zustands der biologischen Vielfalt weltweit und bei uns brauchen wir jetzt nicht weitere Ankündigungen, sondern ganz konkrete und verlässliche Zusagen für spürbar mehr Geld.
Was erwarten Sie vom UN-Weltnaturgipfel im Dezember in Kanada?
Es müssen endlich wegweisende Fortschritte eingeleitet werden beim Schutz der Natur und der Renaturierung der Ökosysteme, wobei wir unbedingt immer Natur und Mensch gemeinsam betrachten sollten. Wir als wohlhabender Norden profitieren stark von der biologischen Vielfalt im Süden und tragen über unseren Konsum stark zu deren Zerstörung bei. Wir haben also eine globale Verantwortung, das betrifft Deutschland sehr stark. Deshalb muss es gelingen, einen Schutz der Natur mit Afrika und nicht in Afrika, einen Schutz der Natur mit und nicht in Südamerika zu gewähren. Es geht um eine gemeinsame Anstrengung, bei der wir als der wohlhabende Norden eine absolute Verantwortung und Verpflichtung haben, hier finanziell einzutreten – und bei der die lokale und regionale Bevölkerung einbezogen wird: sie muss am Steuerrad des Prozesses sitzen.
Wenn Schutz und Renaturierung die großen Prioritäten sind, geben wir Europäer bislang kein sehr gutes Beispiel. Wie glaubwürdig sind wir hier?
Wir sind ja nicht einmal in der Lage, die verbliebenen Naturgebiete in Europa dauerhaft zu sichern, die letzten frei fließenden Flüsse oder die letzten Naturwälder, etwa in den Karpaten. Wenn wir nicht in der Lage sind, diese winzigen Reste von Natur langfristig zu erhalten, sind eigentlich auch die Diskussionen über Renaturierungen weltweit obsolet. Das muss uns bewusst sein. Es ist ganz klar, dass wir in Europa unsere Hausaufgaben machen müssen.
Es scheint sich doch etwas in die richtige Richtung zu bewegen. Die EU-Kommission etwa hat gerade ihre Pläne für verbindliche Vorgaben an die Mitgliedstaaten zur Renaturierung von Ökosystemen vorgestellt. Wie wichtig sind solche Initiativen?
Die EU-Renaturierungspläne können ein großer Wurf werden. Aber dazu muss es den Mut geben, Dinge nicht nur anzukündigen, sondern groß an die Herausforderungen heranzugehen.
Was heißt das konkret?
Wir haben zu oft große Visionen verkündet, ohne dass etwas passiert ist – oder zumindest ohne, dass ausreichend viel davon umgesetzt wurde. Nehmen wir beispielsweise die EU-Wasserrahmenrichtlinie, die bei ihrer Verabschiedung vor 22 Jahren auch ein großer Wurf war. Sie hat das Ziel festgeschrieben, dass bis 2027 alle Binnen- und Küstengewässer in einen guten ökologischen Zustand sein müssen. Jetzt, im Jahr 2022, sind wir bei den Flüssen in Deutschland gerade mal bei 8 Prozent. Das ist fast derselbe Wert wie vor 22 Jahren. Nichts ist besser geworden seitdem.
Die Berliner Erklärung haben in den ersten Wochen schon rund 1700 Forscherinnen und Forscher unterzeichnet. Was verrät Ihnen ein Blick in die Liste der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen?
Es sind sehr viele bekannte Namen dabei, was uns natürlich sehr freut. Ich war aber überrascht, dass sie von vielen Klimaforschern nicht unterschrieben wurde, obwohl wir sehr klar von einer Zwillingskrise sprechen. Klima- und Biodiversitätsschutz wird noch immer nicht als gemeinsames Thema angesehen.
Auch in der Wissenschaft sind das zwei Communities. Die Krisen kooperieren viel besser miteinander als diejenigen, die sie bewältigen sollen. Dabei sind diese Krisen miteinander gekoppelt, das sehen wir überall. Und mit dem Ansatz naturbasierter Lösungen – also dem Schutz von Gebieten, die gleichzeitig Kohlenstoff speichern und artenreiche Lebensräume sind – haben wir den richtigen Ansatz, um Klima und Natur zu schützen und zudem das Wohlbefinden des Menschen zu erhalten.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.