Die verborgene Rettung: Wie ein Rancher versucht, mit Gras das Klima zu schützen
Graslandschaften sind bedroht, wenig erforscht – und vor allem unterschätzt. Doch einige wenige Menschen setzen sich für ihren Schutz ein.
Wenn James Olson über seine Leidenschaft spricht, rupft er sie aus dem Boden, bricht Teile von ihr ab und streicht sie sorgfältig glatt. Er umschließt einen Grashalm mit seinen Händen. „Diese Knospe wird eine neue Pflanze erschaffen“, sagt der Landwirt und zeigt auf eine weiße Erhebung an den Wurzeln. Ein Prozess, der zunächst bedeutungslos klingt. In der kanadischen Prärie ist es ein Kampf ums Überleben. Würde aus der Knospe ein Stängel wachsen, müsste er sich zwei Jahre gegen andere Pflanzen durchsetzen. Seine Wurzeln würden mit jenen von anderen Grashalmen einen dichten Teppich knüpfen, der sich in grün und gelb über die Täler und Berge Kanadas erstreckt. Sie würden eine enorme Weite, eine Fläche an Nichts erschaffen.
Doch nur auf den ersten Blick. Denn die nordamerikanische Prärie, die rund ein Fünftel Kanada bedeckt ist alles andere als eine Monokultur. Und alles andere als bedeutungslos: Olson gab das Gras eine Lebensaufgabe, seinem Vieh zu Essen und eine Möglichkeit, die Natur zu schützen. Den Menschen könnten die Pflanzen ein wichtiges Mittel gegen die Klimakrise geben. Die Graslandschaften der Erde wie die nordamerikanische Prärie, die südamerikanische Pampa oder die eurasische Steppe gehören zu den am meisten unterschätzen Ökosystemen. Doch sie zählen auch zu den am meisten bedrohten.
Eine „zuverlässigere Wahl“ als Bäume
Während andere Landwirte mit ihren teuren Traktoren über die Felder ziehen, reichen Olson ein Auto, ein Elektrozaun und seine Stimme. Nachdem er das eiserne Gitter am Eingang seiner Ranch aufschließt, fährt er nur wenige Minuten mit einem roten PKW. Er hält an und läuft durch das kniehohe Gras. Die Sonnenstrahlen treffen auf seine Cappy, die einen Schatten über seine hellblauen Augen, Kotletten und einen langen Schnauzbart wirft.
„Die Kühe leben hier draußen, fressen das Gras und verwandeln es in Fleisch“, erzählt er, als er plötzlich in der Mitte von dutzenden Tieren steht: „Man braucht kein Benzin für riesige Traktoren, um diese Nahrung für den Menschen zu produzieren.“
Olson hält schon seit zehn Jahren Rinder. Einige Tiere stehen am Bach, den sein Großvater angelegt hat, hinter ihnen die Hügel mit dem kleinen Häuschen, in dem Olsons Mutter aufwuchs. Ein paar weitere Kühe grasen nah bei der Straße, die die Weide von den Getreidefeldern der Umgebung trennt. Der Viehhalter ist einer der Wenigen mit einer natürlichen Weide. Er vermutet, dass hier das Gras seit der letzten Eiszeit gewachsen ist.
Olsons Ranch liegt etwa hundert Kilometer südöstlich von der kanadischen Stadt Edmonton, am Rande der nordamerikanischen Prärie, die sich von Kanada bis nach Mexiko erstreckt. Hier dominieren Gräser und Kräuter, die wenige Zentimeter bis zu zwei Meter in die Höhe schießen. Sie besitzen Namen wie Prairie Junegrass, Western Wheatgrass, Blue Grama, Little Bluestem oder Green Needlegrass. Die karg aussehenden Flächen sind jedoch nicht nur artenreich.
Graslandschaften weltweit speichern rund ein Drittel des Kohlenstoffs, der sich in den Böden befindet. Selbst tausende Jahre alte und somit eher junge Wiesen wie in Europa seien laut dem Biologen Joseph Veldman von der Texas A&M University wichtig. Landschaften wie die nordamerikanische Prärie bieten Flora und Fauna seit Millionen von Jahren ein wertvolles Habitat. Solche uralten Graslandschaften seien bei der Klimakrise auch die „zuverlässigere Wahl“ als Wälder, erklärt Veldman. Bäume speichern laut einer internationalen Studie Kohlenstoff eher im Holz und in den Blättern. Das bedeutet: Wenn es in einem Wald brennt, wird das Gas direkt in die Atmosphäre freigesetzt. Gräser hingegen fixieren den Kohlenstoff eher in den Wurzeln und im Boden. Dort bleibt er, selbst wenn Flammen die Stängel und Blätter verzehren.
Ein Fazit der Forschenden: Wenn die Temperaturen stark ansteigen und es mehr Brände gibt, könnten Graslandschaften zumindest in Kalifornien verlässlicher als Wälder CO2 speichern. Vielleicht wäre es eine Idee, sie auszuweiten. Das widerspricht aber den derzeitigen Entwicklungen.
Das richtige Management
Olson ist schon als Kind über die Weiden seines Großvaters gerannt. Später liebte er es, in der Natur zu arbeiten. Spätestens nach dem Studium zum Management nachhaltiger Ressourcen war ihm klar: Er will die Flora und Fauna in seiner Umgebung schützen. Doch die ist bedroht. Laut kanadischen Nichtregierungsorganisationen sind schon 70 Prozent der Wiesen und Wälder des nordamerikanischen Landes verschwunden. Eine Folge: Die Populationen der Vögel, die in der Prärie leben, sind in 60 Jahren um 40 bis 60 Prozent zurückgegangen. Arten wie das Kleine Präriehuhn, das seine Nester aus Gras und Unkraut baut, sind sogar vom Aussterben bedroht.
Ein Grund dafür ist gerade das, worauf Olson setzt: Kühe.
An diesem Tag möchte der Viehhalter demonstrieren, dass sie auf ihn hören. Die tiefe Stimme von Olson hallt über die Weide. Die Rinder antworten mit einem noch tieferen „Muh“. Kühe und Kälber schlendern zu dem Landwirt, ihre Hufe streifen trockene Sträucher. Plötzlich stehen dutzende Tiere um ihn herum, schmatzen und glotzen. „Jetzt sind sie verwirrt“, sagt Olson und lacht: „Normalerweise rufe ich sie nur, wenn sie mir folgen sollen.“
Durch das Rufen führt Olson normalerweise die Rinder von einer Fläche zur nächsten, statt sie dauerhaft an einem Ort zu halten. Dieses sogenannte „rotational grazing“ praktizierte bereits sein Großvater, von dem er die Weide übernahm. „Man sollte die Tiere grasen lassen“, erklärt Olson: „aber sie sollen nicht die komplette Fläche niedermähen.“ So könnten die Rinder die Grasstängel bis zu einer gewissen Höhe abbeißen, was die Wurzeln der gekappten Pflanzen zum Austreiben anregt. Das dichte Geflecht wächst im Boden immer weiter und speichert noch mehr Kohlenstoff. Alle profitieren: Die Kühe können fressen, das Gras überlebt und wächst und zieht dabei gigantische Mengen Kohlenstoff aus der Atmosphäre. Wenn die Rechnung stimmt.
Nicht alle sind davon überzeugt, dass die Bilanz passen kann. Viehzucht ist für 14, 5 Prozent aller Treibhausgasemissionen weltweit verantwortlich. Um das auszugleichen, müsste der Boden unter ihren Hufen sehr viel Kohlenstoff speichern.
Erst kürzlich untersuchten Forschende bei einer Studie im Fachmagazin „Science“, wie sich eine Viehhaltung darauf auswirkt, ob mehr oder weniger Kohlenstoff im Boden gespeichert wird. Sie kamen zum Schluss, dass die Tiere den Graslandschaften eher schaden. Pflanzenfresser verringern etwa die „Pflanzendecke und -vielfalt“.
Zwei Ausnahmen aber gibt es: Zum einen das saisonale Grasen, bei dem die Kühe nur zu gewissen Zeiten im Jahr auf der Weide stehen. Zum anderen das „rotational grazing“, das auch Olson praktiziert. Diese beiden Methoden zeigen laut der Studie die „am wenigsten negativen Effekte“ oder sorgten sogar dafür, dass mehr Kohlenstoff gespeichert werden kann. Würde man davon ausgehen, dass es die Tiere unbedingt braucht, wäre dies also eine positive Bilanz. Ansonsten müsste man aber gegenrechnen, wie viel die Rinder selbst ausstoßen.
Der Kampf der ersten Jahre
„Schauen Sie, dort hat er das Vieh zu lange grasen lassen“, sagt Olson und kniet sich auf die Weide eines befreundeten Pferdebesitzers, die ein paar dutzend Kilometer von seiner eigenen Ranch entfernt liegt. Olson zeigt auf etwas, das wie Löwenzahn aussieht: „Dort hat sich das Unkraut wieder eingeschlichen.“ Olson ist mit seinen Kollegen der Umweltorganisation Ducks Unlimited unterwegs, für die er nun hauptberuflich arbeitet. Gemeinsam wollen sie sich mehr und weniger gut erhaltene Graslandschaften anschauen und das auch mir, der Reporterin aus Deutschland zeigen. Denn der Kanadier sucht nicht nur naturnahe und klimafreundlichere Wege, um Viehwirtschaft zu betreiben. Er versucht auch, zerstörte Flächen wiederherzustellen.
Der befreundete Pferdebesitzer etwa hat Olson und seine Organisation darum gebeten, ein Feuchtgebiet nahe seiner Weide zu erneuern. Eine Seltenheit, denn viele der Landwirte der Gegend trocknen ihre Felder aus, um etwa Getreide anzubauen.
Landwirtschaft trägt neben intensiver Viehhaltung am meisten zum Verschwinden der nordamerikanischen Prärie bei – laut einer Analyse des WWF müssen die Gräser meistens Mais, Soja oder Weizen weichen. Biologe Veldman erklärt, dass die Graslandschaften weltweit oft als „leere Fläche“ gesehen werden, die man leicht in Ackerland verwandeln kann.
Wie lässt sich die Prärie schützen?
Olson und seine Kollegen haben also oft mit bereits geschädigten oder verwüsteten Flächen zu tun. Im ersten Schritt geht es darum, Feuchtgebiete wiederherzustellen, die die Umgebung mit Wasser versorgen. Olson zeigt auf eine Fläche nahe am Horizont: Statt Getreide durchbricht ein Streifen an gelben, hüfthohen Gras die grünen Landschaften, in deren Ferne die Pferde weiden. Bei genauerem Hinsehen ist es mit Schilf überwuchert, um das Spinnen ihre Netze gezogen haben. Vertrocknete Stängel biegen sich im Wind.
Jetzt ist alles trocken, aber im Herbst und Winter soll hier Wasser den Horizont spiegeln und Enten auf der Oberfläche des kleinen Teichs schwimmen. Durch das Wasser können sich wieder Tiere ansiedeln. Kleine Sträucher im Gras bieten vielen Arten Schutz, um ihre Jungen aufzuziehen. „Wenn Leute an Feuchtgebiete denken, denken sie normalerweise an etwas Dauerhaftes“, erklärt Olson, „Aber oft geht es darum, saisonale Feuchtgebiete zu erschaffen.“ Also Seen oder Bäche, die im Frühjahr und Sommer austrocknen, im Herbst und Winter aber zurückkehren.
„Ein Feuchtgebiet wiederherzustellen ist einfach“, sagt Olson, während er auf aufgeschichtete Steine am Ende des Schilfs zeigt: „Du machst einmal einen Stöpsel drauf und die alte Vegetation kommt zurück.“ Seine Kollegen und er dichten also den Abfluss ab, damit sich das Wasser wieder sammeln kann. Uralte Graslandschaften erholen sich nicht so einfach. Olson und seine Kollegen müssen in den ersten Jahren viel Unkraut entfernen, also andere Pflanzen, die wuchern und die ganze Fläche einnehmen. Erst dann hat das Gras eine Chance, sich wieder zu etablieren.
Olson und seine Kollegen zeigen einen ganzen Tag lang Flächen, in denen sie vor ein, zwei oder mehreren Jahren die Samen typischer Graspflanzen gesät haben. Mit Erfolg: Grüne Pflanzendecken legen sich auf die ehemals kargen Böden. Sie haben sich erholt, weil Olson und seine Mitstreitenden ihren Wert begriffen. Doch damit sind sie die Ausnahme. Weltweit sind die Grasflächen nicht nur von intensiver Viehhaltung oder Landwirtschaft bedroht, sondern auch von Ignoranz. Sie schlägt allem entgegen, was nicht in prächtigen Farben blüht oder eine dicke Rinde hat.
In einem Artikel im Fachmagazin „Science“ kritisierten Veldman und sein Team vor acht Jahren diese „Tyrannei der Bäume“. Sie merkten an, dass „Grasbiome“ etwa in Übereinkommen der Vereinten Nationen nicht anerkannt werden. Die Folge: Sie seien oft Ziele für Wiederaufforstung.
Die Forschenden schreiben, dass zum Beispiel laut einer Karte des Weltressourceninstituts 23 Millionen Quadratkilometer der Erde ausgewiesen werden, um neue Bäume zu pflanzen. Das Problem: Der Großteil der Flächen für die Wiederaufforstung würden laut Veldman und seinen Kollegen in den ältesten Graslandschaften der Erde liegen. „Eine alte Graslandschaft zu zerstören“, erklärt der Wissenschaftler heute: „Das wäre wie einen alten Wald zu roden.“ Die Vielfalt und Gemeinschaft der hochspezialisierten Pflanzen wäre für Jahrzehnte, wenn nicht gar hunderte Jahre verloren. Auch heute gelte: „Wenn die Kampagnen so laufen, wie bisher geplant, werden sie zu einer riesigen Bedrohung werden.“
Am Ende sei es kein Kampf zwischen Wäldern und Gräsern, da sind sich Veldman und andere Forscher einig. Es gehe eher darum, wo und wie neue Pflanzen aus dem Boden sprießen. Vor allem sei es ein Kampf gegen die Klimakrise. Gegen den zunehmenden Ausstoß von Treibhausgasen, gegen schädliche Industrie und die Ausnutzung von Böden: „Graslandschaften werden die Klimakrise nicht lösen“, erklärt Veldman: „Aber sie werden ihr zum Opfer fallen.“
Für Olson und seine Mitstreitenden hingegen geht es vor allem um die Arbeit im Kleinen. Es geht darum, ein Feuchtgebiet nach dem anderen anzusiedeln und Gräser anzupflanzen – Samen für Samen. Sie wollen die zerstörten Flächen wieder mit Leben füllen. Und warten noch darauf, dass auch andere ihren Wert begreifen.
Die Recherche für diesen Artikel wurde durch eine Förderung der Heinrich Böll Stiftung Washington (Transatlantic Media Fellowship) möglich gemacht. Der Besuch fand im Herbst 2022 statt.