Die Kehrtwende von Kopenhagen
Auf dem Klimagipfel von 2009 wurde mehr erreicht, als viele denken
Im Dezember 2009 scheiterte der große Klimagipfel in Dänemark, von dem sich alle den Durchbruch erhofft hatten. Doch die Klimadiplomatie fiel nicht auf null zurück. Sie erfand sich vielmehr neu und wahrte so die Chance auf einen effektiven Klimaschutz. Ein Rückblick.
Mein erster Eindruck war ein Schreck: Ich rief das offizielle PDF auf und sah eine fast leere Seite. Ich musste die Ansicht vergrößern, um den einen Satz lesen zu können, der oben notiert war: „The Conference of the Parties, Takes note of the Copenhagen Accord of 18 December 2009.“ (Es handelt sich um die Seite 4 in diesem PDF.) Das war also das Ergebnis der großen UN-Klimakonferenz von Kopenhagen, der COP15. Kein Weltklimavertrag, wie es alle erwartet oder zumindest erhofft hatten. Nur ein knappes Bekenntnis, dass man die Bemühungen einiger Staats- und Regierungschefs, in letzter Minute doch noch ein Abkommen zu beschließen, nicht völlig ignoriert. Ein Foto der Agentur Reuters zeigt, wie die Mächtigen in der letzten Nacht der Konferenz bei Sandwiches zusammensaßen und den Copenhagen Accord aushandelten. Das Bild verdeutlicht auch das Problem: Die meisten Staaten waren nicht vertreten – und viele von ihnen lehnten das Papier schließlich ab.
„Damit demonstriert die Weltgemeinschaft nicht gerade Handlungsfähigkeit“, sagte mir damals der Ökonom Reimund Schwarze vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, der die Klimagipfel schon seit vielen Jahren beobachtete. Aber er fügte hinzu: „Ich nehme aus Kopenhagen die Erkenntnis mit, dass die Welt im 21. Jahrhundert selbstbewusst geworden ist. Sie lässt sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen.“ Tatsächlich haben bis heute nur 141 von 196 Staaten den Copenhagen Accord unterzeichnet. Er ist völkerrechtlich nicht verbindlich, sondern eine politische Absichtserklärung geblieben.
Die Vertragsstaaten beschlossen in Kopenhagen allerdings, die zähen Verhandlungen zu einem Weltklimavertrag fortzusetzen. Die Schlussworte im Interview mit Reimund Schwarze waren damals geradezu prophetisch: „Irgendwann wird man auf diesem Weg zu einem schönen Abkommen gelangen. Leider vollzieht sich der Klimawandel schneller.“ Sechs Jahre nach Kopenhagen gelang der Durchbruch mit dem Paris Agreement, das inzwischen von 178 Staaten ratifiziert worden und in Kraft getreten ist. Nur wenige Länder, darunter Russland, die Türkei und der Iran, haben das Abkommen noch nicht verbindlich als Recht anerkannt – und Donald Trump will die USA als Präsident wieder aus dem Vertrag lösen. Hat die Staatengemeinschaft mit dem Scheitern in Kopenhagen also bloß sechs Jahre verloren? Ich glaube, diese These unterschätzt den Gipfel, und kann mich dabei auf die Expertise von Fachleuten stützen.
Platzhalter statt Paragrafen
Damals sah ich das freilich nicht so, sondern bemühte mich, den Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit auszumessen. In der „Stuttgarter Zeitung“, für die ich arbeitete, schrieb ich:
In den Entwürfen, die im Laufe des letzten Verhandlungstages diskutiert wurden, stand noch ein hoffnungsvolles X als Platzhalter für ein konkretes Reduktionsziel für das Jahr 2020. Im endgültigen Text fehlt der entsprechende Satz. Auch die Zusage, die Emissionen bis 2050 weltweit um 50 Prozent zu senken, wurde in den letzten Verhandlungsstunden gestrichen.
Stattdessen sah der Copenhagen Accord vor, dass die Unterzeichner ihren Beitrag zum Klimaschutz selbst festlegen und an das Klimasekretariat der Vereinten Nationen melden. Erstmals galt das nicht nur die Industrienationen, sondern auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Doch ich beschrieb den neuen Ansatz mit Skepsis: „Der Copenhagen Accord enthält zwei bis jetzt leere Tabellen im Anhang, in welche die Ziele eingetragen werden können.“
Das Kyoto-Protokoll von 1997 hatte noch konkrete Ziele festgeschrieben, allerdings nur für die Industriestaaten im sogenannten Anhang B. Die EU wurde zum Beispiel verpflichtet, ihre Emissionen um acht Prozent zu senken – sie schaffte sogar zwölf Prozent. Doch die USA ratifizierten das Abkommen letztlich doch nicht, Kanada trat sogar aus (mehr zum Scheitern der kanadischen Klimapolitik in diesem KlimaSocial-Interview). Und obwohl die moderaten Reduktionsziele des Protokolls erfüllt wurden, kletterten die weltweiten Emissionen währenddessen nach Zahlen des Global Carbon Projects um fast 50 Prozent.
Der Copenhagen Accord brach mit dem System des Kyoto-Protokolls: Die Reduktionsziele wurden nicht mehr gemeinsam beschlossen, jeder konnte sich selbst etwas vornehmen, dafür machten alle Länder irgendwie mit. Schon wenige Wochen nach dem Klimagipfel in Kopenhagen hatten 56 Staaten, die für 78 Prozent der weltweiten Emissionen standen, ihre Reduktionsziele ans UN-Klimasekretariat gemeldet. Im Rückblick kann man darin einen Probelauf für das spätere Paris Agreement sehen. Reimund Schwarze kommentiert heute: „Die Idee der Mengenbeschränkung top-down war durch das damalige Scheitern endgültig aus der Welt – leider! Jetzt bleibt nur die Kärnerarbeit von unten.“ Auch heute reichen die Selbstverpflichtungen der Staaten bei weitem nicht aus, um den Klimawandel auf ein akzeptables Maß zu begrenzen, wie der Forschungsverbund Climate Action Tracker berechnet hat.
Doch die Rechtswissenschaftlerin Kayla Clark von der US-amerikanischen University of Notre Dame bezeichnet den Klimagipfel von Kopenhagen „nicht als totale Enttäuschung“. In einer kürzlich veröffentlichten Analyse schreibt sie über den Ansatz des Copenhagen Accords: „Dieser neue Dialog schien für diejenigen Staaten viel attraktiver zu sein, die vom Zwangscharakter des Kyoto-Protokolls abgeschreckt wurden … Der Accord brachte einige der größten Verschmutzer an den Verhandlungstisch.“ In einer Analyse aus dem vergangenen Jahr wird der Rechtswissenschaftler Daniel Bodansky von der Arizona State University noch deutlicher und spricht von einem „Paradigmenwechsel“ in Kopenhagen, der im Paris Agreement letztlich seine verbindliche Form gefunden habe.
Vertrauen statt Verpflichtung
Wie ein System der freiwilligen Selbstverpflichtungen funktionieren soll, konnte ich mir lange nicht vorstellen. Als ich im Dezember 2015 den Klimagipfel in Paris besuchte, bekam ich zum ersten Mal einen Eindruck von der Anziehungskraft dieser Freiheit: Jedes Land fühlte sich mit seinen Nöten ernst genommen, weil es sie bei der Formulierung seiner Klimaziele berücksichtigen durfte. Aber erst, als ich 2016 begann, mit Kollegen ein Onlineportal zum Paris Agreement zu gestalten, lernte ich den Reiz des neuen Systems wirklich zu schätzen. Auf der Website „Heiße Paragraphen“ versuche ich anhand des Vertragstextes zu erklären, wie das Abkommen seine Wirkung entfalten soll. Und es kann wirken, obwohl es mit freiwilligen Selbstverpflichtungen beginnt: Es setzt auf Einsicht, Verantwortungsbereitschaft, Kooperation – und politischen Druck.
Die Anforderungen, die das Paris Agreement macht, sind abgestuft (hier geht es zur entsprechenden Passage im Vertragstext): Die Industriestaaten sollen ihre Emissionen deutlich senken, die Entwicklungsländer sollen sich mit der Zeit um eigene Reduktionsziele bemühen und dürfen dabei auf Unterstützung hoffen. Die am wenigsten entwickelten Länder sollen ihre künftige Wirtschaftsweise möglichst emissionsarm planen. Grundsätzlich prüft jedes Land für sich, welche Maßnahmen es für sinnvoll und praktikabel hält, aber es muss sich der Diskussion stellen, ob seine Ambitionen angemessen sind. Und natürlich muss es sich daran messen lassen, ob es seine Ziele erreicht: Es drohen keine Strafen, aber kritische Diskussionen – auf einer allgemein akzeptierten Datenbasis und im offiziellen Rahmen. Damit geht das Pariser Abkommen in einigen Punkten über den Vorläufer aus Kopenhagen hinaus:
- Es fordert nicht nur nationale Reduktionsziele bis zum Jahr 2020 wie der Copenhagen Accord, sondern setzt ein Verfahren in Gang, in dem die Ziele ab 2020 alle fünf Jahre verschärft werden müssen.
- Es verspricht – detaillierter als der Copenhagen Accord – ein Regelwerk zur Ermittlung der Emissionen, damit die Ziele und Leistungen der Staaten transparent und vergleichbar werden. (Dieses Regelwerk soll auf dem kommenden Klimagipfel in Polen beschlossen werden.)
- Es führt regelmäßige Zwischenbilanzen ein, auf denen die Vertragsstaaten über ihre Erfolge und Versäumnisse diskutieren müssen.
Der Grundgedanke aber stammt aus der letzten Verhandlungsnacht in Kopenhagen, als den Mächtigen der Welt klar wurde, dass sie sich nicht mehr auf ein für alle geltendes Regime der Reduktionsziele einigen können. Damals wurde ein neues System eingeführt, das den Ländern mehr Freiheiten zugesteht und damit die Hoffnung auf einen Weltklimavertrag wahrt. Im Dezember 2009 waren viele Länder noch nicht bereit, den neuen Bottom-up-Ansatz mitzutragen. Doch in den folgenden Jahren änderte sich einiges: Kayla Clark verweist auf das gestiegene Engagement der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Kommunen. Reimund Schwarze sagt, die technische Entwicklung der Erneuerbaren Energien sei besser gelaufen, als er erwartet habe. Daniel Bodansky diagnostiziert in einigen Ländern ein stilles Abrücken von alten Positionen. Und irgendwie muss zwischen den Staaten wieder Vertrauen gewachsen sein – nicht viel, aber genügend, um sechs Jahre später dann doch noch einen Weltklimavertrag zu verabschieden.
Und so wurde ich im Dezember 2015 erneut überrascht. Auf dem Konferenzgelände waren die Stände schon abgebaut, in den Kantinen gab es nichts mehr zu essen. Während in vielen Runden hinter verschlossenen Türen allerlei letzte Änderungen ausgehandelt wurden, ging ich ins Hotel zurück und verfolgte von dort schließlich die Abschlusssitzung. Der französische Außenminister und Konferenzpräsident Laurent Fabius präsentierte eine neue Version des Abkommens, schlug es dem Plenum zur Annahme vor, blickte kurz in den Saal, sah keinen Widerspruch und erklärte das Abkommen für angenommen (die wenige Sekunden dauernde Episode kann man hier im Video nachsehen).
Die drei Jahre, die seit diesem historischen Augenblick vergangen sind, haben gezeigt, wie schwierig Klimaschutz auch im neuen System ist. Kurzfristige Erfolge scheinen fast ausgeschlossen zu sein, obwohl sie dringend nötig wären. Aber die Delegierten aller Länder reden miteinander, probieren sogar neue Formate wie den sogenannten Talanoa-Dialog aus (KlimaSocial berichtete kürzlich über die jüngste Diskussionsrunde). Und das Wichtigste: das Kartenhaus der Klimarahmenkonvention steht noch. Das war Ende 2009 alles andere als selbstverständlich. Natürlich kann ich mir viele Wege vorstellen, die internationalen Verhandlungen zu torpedieren. Doch vielleicht analysieren die Delegierten in einigen Jahren tatsächlich die nationalen Emissionsberichte und diskutieren, wie man schwachen Ländern helfen und starke Länder nachahmen kann. Dann wird sich zeigen, wie historisch die Kehrtwende von Kopenhagen war.