Klimakrise: Hat sich das CO2-Restbudget seit dem jüngsten Weltklimabericht halbiert?

Eine neue Studie nennt 247 Gigatonnen CO2 als noch verbleibendes Maximum, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Wie entsteht die Zahl – und was bedeutet sie?

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
5 Minuten
Qualmende Kraftwerkstürme mit einem reifen Getreidefeld im Vordergrund

Die Menschheit kann noch 247 Gigatonnen CO2 emittieren, bevor die Erderwärmung mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit die 1, 5-Grad-Grenze überschreitet. Das ist das Ergebnis einer Studie, die am Montag im Fachjournal Nature Climate Change erschienen ist. Diese Zahl ist nur halb so groß wie jene, die der Weltklimarat noch in seinem jüngsten Sachstandsbericht benannt hat. Wie erklärt sich dieser enorme Unterschied – und was bedeutet das vor allem für Klimaschutz und Klimaanpassung?

Was steht in der neuen Studie zum CO2-Restbudget?

Die am 30. Oktober erschienene Studie hat mit aktuellen Daten und Methoden errechnet, wie viel CO2 die Menschheit noch emittieren kann, bevor ein bestimmtes Ausmaß der Erderwärmung erreicht ist. Die 1, 5-Grad-Grenze wäre demnach bereits überschritten, wenn die Emissionen noch sechs Jahre auf dem aktuellen Niveau verharrten.

Um die Grenze von 2 Grad mit 67 Prozent Wahrscheinlichkeit einzuhalten, dürften die CO2-Emissionen 1.150 Gigatonnen nicht übersteigen. Demnach wäre dieses Restbudget in 23 Jahren aufgebraucht, wenn sich die jährlichen Emissionen nicht änderten.

Für die Emissionsminderung bedeutet das, dass die Menschheit im Jahr 2035 die Klimaneutralität erreicht haben muss, um eine Erwärmung auf 1, 5 Grad zu begrenzen, vorausgesetzt, die Minderung erfolgt gleichmäßig über diesen Zeitraum. Je länger die Emissionen nicht in diesem Maß sinken, desto näher rückt der Termin an die Gegenwart. Für die 2-Grad-Grenze wäre 2070 das späteste Jahr, um Netto-Null bei den CO2-Emissionen zu erreichen. Soll die Wahrscheinlichkeit bei 90 Prozent liegen, dass die Schwelle nicht überschritten wird, wäre selbst für 2 Grad die Klimaneutralität bis 2050 erforderlich.

Wie erklärt sich der große Unterschied zum 6. IPPC-Sachstandsbericht?

„Das Budget im IPCC-Bericht von 500 Gigatonnen CO2 beginnt am 01.01.2020, das in dieser aktuellen Studie neu berechnete Budget am 01.01.2023. Dazwischen liegen drei Jahre, also grob geschätzt 120 bis 125 Gigatonnen CO2-Emissionen“, erklärt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zu den 247 Gigatonnen der aktuellen Studie betrage die Differenz also nur 125 bis 130 Gigatonnen.

Diese verbleibende Differenz hat drei Ursachen. Erstens haben sich die Emissionen anders entwickelt als angenommen: „Das ursprüngliche Budget des IPCC-Berichts deutete darauf hin, dass die Emissionen nach der COVID-19-Pandemie weiter zurückgingen, während sie in Wirklichkeit wieder anstiegen“, sagt Tatiana Ilyinaneu vom Exzellenzcluster CLICCS der Universität Hamburg.

Zweitens hängt das CO2-Budget von den übrigen Treibhausgasen wie Methan und Lachgas ab: Emittiert die Menschheit davon mehr, bleibt weniger CO2, das in die Atmosphäre gelangen darf, bevor eine bestimmte Temperaturschwelle überschritten ist. „Das Problem ist, dass die Budgets im Beitrag der Arbeitsgruppe I zum IPCC-Sachstandsbericht – veröffentlicht 2021 – noch ohne das Wissen über die Emissionsminderungspfade aus dem Beitrag der Arbeitsgruppe III – veröffentlicht 2022 – kalkuliert wurden“, erläutert Geden. „Im IPCC-Synthesebericht durften diese beiden Wissensstränge aufgrund der strengen IPCC-Regularien nicht kombiniert werden. Im Grunde holt diese aktuelle Studie dies jetzt nach.“ Letztlich sei die in der Studie erfolgte Anpassung daher für Expert:innen nicht überraschend.

Drittens verändert der Klimaschutz die Konzentration der Aerosole in der Atmosphäre: „Aerosolemissionen sind größtenteils mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe verbunden und aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen auf die regionale Luftqualität für die Menschheit meist unerwünscht, haben aber eine kühlende Wirkung auf das Klima“, schildert Gabriel Abrahão vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Mit der Verbesserung der Luftqualitätsnormen und dem Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe werde diese kühlende Wirkung abnehmen, sodass die Erwärmung zunehme und das verbleibende Kohlenstoffbudget sich verringere. „Dieser Effekt wurde schon immer im Budget berücksichtigt und hatte einen spürbaren Einfluss darauf. Die revidierten Daten über frühere Aerosolemissionen deuten jedoch darauf hin, dass ihre kühlende Wirkung etwas unterschätzt wurde, und diese revidierten Erkenntnisse führten letztlich zu einem geringeren Budget.“

Diagramm mit aufsteigenden Linien (blau und rot) sowie angrenzenden blasseren Unsicherheitsbereichen, die das Verhältnis von CO2-Restbudget zu Temperaturanstieg beschreiben.
Die Grafik zeigt, wie groß inzwischen die Unsicherheiten (blasser Farbbereich) im Verhältnis zum CO2-Restbudget sind, weil das Restbudget so klein geworden ist.

Was bedeutet das geringere CO2-Restbudget?

„Es besteht die sehr reale Möglichkeit, dass wir das 1, 5-Grad-Ziel bereits in diesem Jahrzehnt überschreiten werden“, warnt Abrahão. „In der öffentlichen Debatte und den internationalen Klimaverhandlungen sollte daher bereits darüber diskutiert werden, wie man nach einer Überschreitung wieder zu einer 1, 5-Grad-Erwärmung zurückkehren kann, damit die vorläufige Überschreitung nicht dauerhaft wird.“

Denn die neue Studie besagt keineswegs, dass Klimaschutz nun hoffnungslos ist. „Das CO2-Budget ist eines der wichtigsten Konzepte der Klimaforschung und Klimakommunikation. Allerdings ist es – wie andere Kerngrößen des Klimasystems natürlich auch – mit einiger Unsicherheit behaftet“, ordnet Carl-Friedrich Schleussner, Klimaforscher bei Climate Analytics, ein. Der Fokus auf eine einzelne Zahl sei daher schon immer problematisch gewesen. „Das ist jetzt insbesondere der Fall, wenn die Unsicherheiten größer werden als das verbleibende Budget.“ Ein verschwindend kleines Budget heiße daher nicht automatisch, dass das 1, 5-Grad-Ziel nicht mehr erreicht werden könne. „Es wird aber zunehmend unwahrscheinlicher.“

Für Niklas Höhne, Leiter des New Climate Institute, bedeutet die neue Zahl keine große Veränderung für die Klimapolitik: „Es ist fast irrelevant, ob das Budget bei gleichbleibenden Emissionen in sechs Jahren – wie in dieser Studie – oder in zehn Jahren – wie vorher gedacht – aufgebraucht ist. Es ist in jedem Fall extrem eng. Und das ist keine neue Erkenntnis.“

Was können wir tun, um die Klimakrise zu begrenzen?

„Wissenschaft, Politik und Ölkonzerne sind sich des Problems schon seit vielen Jahrzehnten bewusst, doch es wurden noch keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, wir haben immer noch steigende Emissionen“, sagt Klaus Hubacek, Professor für Wissenschaft, Technik und Gesellschaft an der Universität Groningen. „Der Fokus muss daher darauf gerichtet werden, wie man Emissionsreduzierungen erreichen kann, und dabei ein verstärkter Schwerpunkt gelegt werden auf sozial-, wirtschafts- und politikwissenschaftliche Fragestellungen, wie man Wirtschaft und Gesellschaft schnellstmöglich dekarbonisieren kann.“ Die Forschung müsse Mechanismen untersuchen, die uns daran hindern, dringende Maßnahmen zu ergreifen.

Auch Niklas Höhne betont, dass Klimaschutz und Dekarbonisierung nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben, auch nicht durch die Ergebnisse der neuen Studie: „Selbst wenn 1, 5 Grad im mehrjährigen Mittel überschritten werden, ist es gut, vorher so viele Emissionen wie möglich eingespart zu haben, da jede eingesparte Tonne zu geringerer globaler Temperaturerhöhung führt und damit zu geringeren Schäden.“ Außerdem könne die globale mittlere Temperatur wieder sinken, wenn Emissionen auf null gesenkt seien und mehr CO2 aus der Atmosphäre entfernt werde. „Auch dafür ist es von Vorteil, wenn vorher weniger emittiert wurde.“

Sein klares Fazit: „Diese Studie ist ein weiterer Aufruf, in den Notfallmodus zu schalten und alles daran zu setzen, Treibhausgasemissionen so schnell wie irgend möglich zu reduzieren.“

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