Weltklimarat IPCC: Für Klimaschutz und Klima-Anpassung „braucht es jeden Einzelnen von uns“
Weiteres Zögern beim Klimaschutz führt in eine Katastrophe, warnen Klimawissenschaftler:innen mit Blick auf den aktuellen Stand der Forschung. Wie Menschen sich jetzt an den Klimawandel anpassen können, um seine Folgen auf Gesundheit, Ernährung, Wirtschaft und die gesamte Biosphäre noch einzudämmen, behandelt der am 28. Februar 2022 veröffentlichte Sachstandbericht der Arbeitsgruppe II des Weltklimarats IPCC.
„Halbe Sachen sind keine Option mehr“, sagt Hoesung Lee, der Vorsitzende des Weltklimarats IPCC. Der aktuelle Sachstandbericht sei eine „deutliche Warnung vor den Folgen der Untätigkeit“. Der Verzicht darauf, die „unkontrollierte Verschmutzung durch CO2“ zu stoppen sei „kriminell“, so UN-Generalsekretär Antonio Guterres in einer eindringlichen Rede. Guterres: „Fast die Hälfte der Menschheit lebt in der Gefahrenzone – jetzt. Für viele Ökosysteme gibt es kein Zurück mehr – jetzt.“
Klimabericht basiert auf 34.000 wissenschaftlichen Veröffentlichungen
Der heute vorgestellte Sachstandbericht der Arbeitsgruppe II des Weltklimarats IPCC befasst sich mit der Frage, wie der Mensch sich an den Klimawandel anpassen kann. Der Schwerpunkt des Berichts liegt damit auf Lösungen. Dies ist der zweite von vier Teilberichten, die zum 6. Sachstandbericht des Weltklimarats 2021 und 2022 vorgelegt werden.
270 Hauptautor:innen, 675 weitere Autor:innen aus 67 Staaten arbeiteten ehrenamtlich über fünf Jahre an diesem Teil des 6. Sachstandberichts (Assessment Report AR6). Dafür trugen sie den aktuellen Stand der Forschung aus rund 34.000 wissenschaftlichen Veröffentlichungen zusammen, um nach der Durchsicht von rund 62.000 Review-Kommentaren wissenschaftsbasierte Empfehlungen für die Politik zu formulieren.
Schnellere Anpassungsmaßnahmen nötig
Die Antwort der Wissenschaftler:innen ist eindeutig: Um die zunehmende Verluste von Menschenleben, biologischer Vielfalt und Infrastruktur zu vermeiden, seien „ehrgeizige, beschleunigte“ Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel erforderlich, die mit einer raschen und tiefgreifenden Senkung der Treibhausgasemissionen einhergehen.
„Wir befinden uns in einer Notlage, die auf eine Katastrophe zusteuert“, warnt Inger Andersen vom UN-Umweltprogramm UNEP eindringlich. „In fünf Jahren werden wir bereits in einer anderen Welt leben“, sagt Debra Roberts, die Co-Vorsitzende der Arbeitsgruppe II. Deshalb müssten wir unsere Handlungen und Planungen schneller anpassen.
Der Bericht betont, dass Ausmaß und Tragweite des Klimawandels größer seien als in früheren IPCC-Berichten geschätzt. Schon jetzt stoßen Pflanzen und Tierarten an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit. „In vielen Fällen“ verringere sich die Fähigkeit der Natur, „die wesentlichen Leistungen zu erbringen, auf die wir zum Überleben angewiesen sind“. Dazu gehören der Küstenschutz, die Nahrungsversorgung oder die Klimaregulierung durch die Aufnahme und Speicherung von Kohlenstoff, etwa in Wäldern und Mooren.
Anpassung bei über 2 Grad in manchen Regionen nicht mehr möglich
Bereits bei der heutigen Erderwärmung von 1,1 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter ist die Anpassung für die menschlichen Gesellschaften herausfordernd. Wird das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens verfehlt, verringern sich Anpassungsmöglichkeiten. Wird das 2-Grad überschritten, so stellt der aktuelle Sachstandbericht deutlich fest, ist eine Anpassung in manchen Regionen wie kleinen Inselstaaten, Wüsten und polaren Regionen nicht mehr möglich.
„Wir sehen einen Verlust an Habitat“, warnt der Co-Vorsitzende der IPCC-Arbeitsgruppe II, Hans-Otto Pörtner. Medien müssten darüber aufklären. Ein Schüssel sei dazu, Kinder entsprechend zu unterrichten und Erwachsene zu informieren. Dies ermögliche ein „ambitioniertes Handeln“ der Politik, um die aktuellen Ungleichgewichte in vielen Bereichen auszugleichen. Debra Roberts stellt klar: „Es braucht jeden Einzelnen von uns. Jeder muss eine Rolle hier wahrnehmen.“
Der Bericht betont: „Je schneller und weiter die Emissionen sinken, desto mehr Spielraum bleibt für Mensch und Natur, sich anzupassen.“ Damit werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise umso dringlicher. Zwischen 3,3 und 3,6 Milliarden Menschen sind in den Hotspots der Erderwärmung den Klimarisiken besonders ausgesetzt: In Afrika, Südostasien, Südamerika, Inselstaaten und der Arktis. Der ansteigende Meeresspiegel bedroht eine Milliarde Menschen in küstennahen Gebieten. Die gegenwärtige nicht-nachhaltige Entwicklung erhöht diese Risiken und gefährdet Ökosysteme zunehmend, warnt der Bericht. Und die Lücken zwischen dem, was getan werden sollte, und dem, was getan wird, nehmen weiterhin zu.
Ukraine-Krieg verzögert drängende Maßnahmen für Klimaanpassung
Vor dem Hintergrund, dass die drängenden Maßnahmen für Klimaschutz und Klimaanpassung hochgradige Kooperation der Menschen über Sektor- und Ländergrenzen hinweg erfordern, Hans-Otto Pörtner: „Angesichts dieser Herausforderungen fühlt sich der Ukraine-Krieg an wie aus der Zeit gefallen.“ Es werde zu Verzögerungen kommen.
Mit Blick auf die Ende Februar vom Bundestag beschlossenen 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr sagte Pörtner: „Wir haben einen großen Nachholbedarf, der Dringlichkeit begründet. Und in diesem Kontext kann es nur kontraproduktiv sein, die nationalen Ressourcen in Verteidigung und Kriegsführung zu stecken.“ Würden die konzertierten globalen Maßnahmen weiter verzögert, drohe man „ein kurzes und sich schnell schließendes Zeitfenster zur Sicherung einer lebenswerten Zukunft zu verpassen."
Jörn Birkmann von der Universität Stuttgart, Leitautor im Kapitel 8 „Armut, Existenzgrundlagen und nachhaltige Entwicklung“, zog auf der SMC-Pressekonferenz noch einen weiteren Vergleich heran: „Wir haben für das Ahrtal, eine kleine ländliche Region, die besonders wichtig ist, 30 Milliarden Euro in zwei Wochen auf die Beine gestellt.“ Das könne man aber für schwer vom Klimawandel betroffene Länder wie Afghanistan oder Somalia nicht erwarten, die überdies über ganz andere Anpassungskapazitäten verfügten.
Uneinheitliche Maßnahmen zur Anpassung
Bislang gibt es nur uneinheitliche Fortschritte bei der Anpassung an den Klimawandel. Dabei werden, so der Bericht, die Lücken zwischen den ergriffenen Maßnahmen und dem, was zur Bewältigung der zunehmenden Risiken erforderlich ist, immer größer. Am größten sind diese Lücken bei den Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen. Damit setzt der Bericht das Thema der sozialen Klimagerechtigkeit ganz oben auf die Agenda der globalen Klimapolitik.
Der Klimawandel ist zwar eine globale Herausforderung, doch wirkt er sich in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich aus. Deshalb konzentrierte sich die Arbeitsgruppe II darauf, regionale Informationen ausführlich aufzuarbeiten. In einem Atlas werden die Daten und Befunde auf einer globalen bis regionalen Skala angezeigt, um Entscheidungsträgern mehr Einblicke in Klimarisiken zu ermöglichen. Stärker als frühere IPCC-Sachstandberichte integriert dieser Bericht der Arbeitsgruppe II des Weltklimarats Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, um die Folgen des Klimawandels auf unsere Gesellschaften greifbarer zu machen.
Herausforderung für Städte und Infrastrukturen
Der Bericht befasst sich auch detailliert mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Städte, in denen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. „Die zunehmende Verstädterung und der Klimawandel schaffen insbesondere für die Städte komplexe Risiken, die bereits unter schlecht geplantem Stadtwachstum, hoher Armut und Arbeitslosigkeit sowie Mangel an grundlegenden Dienstleistungen leiden“, sagt Debra Roberts.
Städte bieten aber auch Chancen für den Klimaschutz, etwa über grüne Gebäude, eine zuverlässige Versorgung mit sauberem Wasser und erneuerbare Energien. Nachhaltige Verkehrssysteme können städtische und ländliche Gebiete miteinander verbinden und zu einer „integrativeren, gerechteren Gesellschaft“ führen.
Für effektive Lösungen müssen alle zusammenarbeiten
Die Botschaft der Wissenschaftler ist eindeutig: Weil die Herausforderung so groß ist, braucht es jeden Einzelnen, um sie zu bewältigen. Debra Roberts betont, „dass zur Bewältigung all dieser verschiedenen Herausforderungen alle Beteiligten – Regierungen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft – zusammenarbeiten müssen“, um bei Entscheidungen und Investitionen für Klimagerechtigkeit zu sorgen.
Mit Fokus auf Gleichheit und Gerechtigkeit könnten unterschiedliche Interessen, Werte und Weltanschauungen miteinander in Einklang gebracht werden, raten die Wissenschaftler mit Blick auf Anpassungsmaßnahmen wie Dämme, die zu Naturzerstörungen führten. Für effektive Lösungen gelte es wissenschaftliches und technologisches Know-how sowie indigenes und lokales Wissen zusammenzuführen. Debra Roberts warnt: „Gelingt es nicht, eine klimaresistente und nachhaltige Entwicklung zu erreichen, wird dies zu einer suboptimalen Zukunft für Mensch und Natur führen."
Brücken zwischen dem Schutz von Biodiversität und Klima bauen
Ökosysteme gehören zu den Schlüsselfaktoren bei der Klimaanpassung: „Gesunde Ökosysteme sind widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel und stellen lebenswichtige Dienstleistungen wie Nahrung und sauberes Wasser bereit“, erklärt Hans-Otto Pörtner.
Der Sachstandbericht der Arbeitsgruppe II übernimmt hier in weiten Teilen die Ergebnisse des ersten gemeinsamen Berichts von Weltklimarat und Weltbiodiversitätsrat (IPBES). Bei einer einwöchigen Sitzung im Juni vergangenen Jahres hatten Experten beider UN-Organisationen gemeinsame Strategien zur Bewältigung der ökologischen Zwillingskrise erarbeitet und in einem 256 Seiten starken Report festgehalten. Das Fazit des Berichts: Der Schutz von Arten und Ökosystemen kann und muss eine zentrale Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen. Nur so ließen sich die gesteckten Klimaziele langfristig erreichen.
Hans-Otto Pörtner sagt dazu: „Wir haben die Beziehungen zwischen den Systemen Mensch, Natur und Klima deutlich herausgearbeitet und haben gesehen, dass wir dort die Wechselwirkungen zwischen diesen Systemen gut benennen können.“ Die Wissenschaftler erarbeiteten ein neues Rahmenwerk für Lösungen, das zeigt, wie mit Klima-Anpassungsmaßnahmen auch die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) erfüllt werden können.
Im Zentrum des gemeinsamen Kampfes gegen Artensterben und Klimawandel steht das Konzept der „Nature-based Solutions“. Es sieht den Schutz von Lebensräumen vor, die gleichzeitig Hotspots der Artenvielfalt und wichtige CO2-Senken sind: beispielsweise alte Wälder, Moore, Savannen, Mangroven oder Seegraswiesen. Auch beim zurückliegenden Klimagipfel in Glasgow standen naturbasierte Lösungen im Klimaschutz als wichtiger Baustein gegen die Erderwärmung im Mittelpunkt zahlreicher Veranstaltungen und geschlossener Abkommen.
Die neue Bundesumweltministerin Steffi Lemke hat in diesem Sinne bereits die Vorlage eines milliardenschweren Aktionsplans zum naturbasierten Klimaschutz angekündigt. Zugleich warnen IPCC und IPBES aber davor, den Beitrag der Natur als Kohlenstoffspeicher und Treibhausgas-Filter als Argument dafür zu nutzen, weniger strenge Reduktionsziele für Treibhausgase aus Industrie und Mobilität zu setzen. Das Erreichen der Pariser Klimaziele sei die Voraussetzung dafür, dass Ökosysteme ihre klimaschützenden Leistungen überhaupt erbringen könnten, unterstreicht der Report.
30 bis 50 Prozent der Land-, Süßwasser- und Meereslebensräume müssen geschützt werden
„Durch die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme und die wirksame und gerechte Erhaltung von 30 bis 50 Prozent der Land-, Süßwasser- und Meereslebensräume der Erde kann die Gesellschaft von der Fähigkeit der Natur, Kohlenstoff zu absorbieren und zu speichern, profitieren“, wirbt Pörtner für die notwendige Wende. Die Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung könnten beschleunigt werden, aber eine angemessene Finanzierung und politische Unterstützung sei „unerlässlich“.
Biodiversität-Schutz und Klimaschutz befinden sich noch zu sehr in Denksilos, doch es gehe darum Brücken zu bilden. „Wenn das als eine Botschaft unseres Berichtes verstanden wird“, so Pörtner, „dann haben wir etwas erreicht“.
Zusätzliche Berichterstattung in diesem Bericht zur Frage der Biodiversität: Thomas Krumenacker