Leseprobe aus „Anleitung zum gärtnerischen Ungehorsam“ von Christiane Habermalz

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
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Im April ist im Heyne-Verlag das Buch „Anstiftung zum gärtnerischen Ungehorsam: Bekenntnisse einer Guerillagärtnerin" von Christiane Habermalz erschienen. Sie arbeitet als Korrespondentin für Kultur und Bildungspolitik im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks und ist seit der ersten Stunde bei den „Flugbegleitern" dabei. Hier bieten wir einen Auszug aus Kapitel 15 des Buchs, das unsere Lust und Leidenschaft für die Artenvielfalt befeuern will. Es geht um eine Liebesbeziehung zu Ohrwürmern, die von Christianes Tochter Frida…aber lesen Sie selbst…


„Ich will Ohrwürmer! Andere Mütter wollen Pralinen, ich will Ohrwürmer“

Ich chatte mit Frida, die mittlerweile tatsächlich ein Freiwilliges Ökologisches Jahr macht. Allerdings nicht auf einer Vogelinsel, wie es für ihre geistige Entwicklung und die künftige ornithologische Laufbahn, die ihre Mutter für sie ausgesucht hat, sinnvoll gewesen wäre, sondern in Plön in Schleswig-Holstein. Sie arbeitet bei einem Träger, der Jugendarbeit und ökologische Bildung miteinander verbindet.

Dort ist sie für die Pflege einer Streuobstwiese, eine Schafherde und einen Hühnerstall zuständig. Außerdem darf sie sich um den Gemüse- und Kräutergarten kümmern und Führungen mit Schulkindern organisieren, die nicht mehr wissen, dass Äpfel nicht im Supermarkt sondern an Bäumen wachsen. Es ist ein weitläufiges, artenreiches Gelände mit vielen Vögeln. Ich bin sehr neidisch.

  • ICH: Fridi, gibt’s bei dir Ohrwürmer? Kannst du mir am Wochenende welche mitbringen?
  • F: (Drei sich totlachende Smileys)
  • (Drei Smileys, die sich die Hand vors Gesicht halten)
  • ICH: Hast du oder hast du nicht?
  • F: Meinst du Ohrenkneifer? Wie soll ich die denn bitte transportieren?
  • ICH: In den Ohren? (zwinkernder Smiley)
  • F: Ich kann dir ein paar getrocknete Mehlwürmer anbieten.
  • ICH: Ich will Ohrwürmer! Andere Mütter wollen Pralinen, ich will Ohrwürmer.
  • F: (Smiley, der die Augen nach oben verdreht)
  • F: Wofür brauchst du die denn?
  • ICH: Die sind gut gegen Blattläuse. Ich will im Garten ein Ohrwurmparadies anlegen.
  • F: Gibt’s die nicht in Berlin? Oder bei deinem Nützlingsversand?
  • ICH: Nee.
  • F: Die find ich so schnell jetzt hier nicht. Muss gleich zum Zug.
  • ICH: Und morgen?
  • F: (keine Antwort)

Ich gebe zu, ich habe mich auf die Ohrwürmer ein bisschen eingeschossen. Alles fing mit dem Totholz an, das ich aus dem Park mitgenommen habe. Ein großer, wunderbar morscher Ast liegt jetzt in meinem Beet. Und bei der Recherche, welche Insekten ich damit beherbergen könnte, bin ich auf Ohrwürmer gestoßen. Auch so ein Insekt, das mich durch meine Kindheit begleitet hat. Ohrenkneifer nannten wir sie, sie krabbelten hervor, wenn wir einen Stein anhoben oder rieselten uns entgegen, wenn wir auf Apfelbäume kletterten. Manchmal fanden wir sie auch im Gehäuse eines verfaulten Apfels.

Ich mochte sie schon als Kind, und die Gruselmär, dass sie nachts den Menschen in die Ohren kriechen sollen, um sie in den Wahnsinn zu treiben, machte sie in meinen Augen noch attraktiver. Natürlich wussten wir, dass das nicht stimmte, wir waren aufgeklärte Kinder. Manchmal fanden wir zwei ineinander verhakte Tiere, und wir bauten kleine Arenen, in denen wir die Ohrwürmer mit ihren Zangen gegeneinander antreten ließen. Die Tiere waren allerdings am Kämpfen maximal desinteressiert. Mittlerweile weiß ich, dass es bei ihren Hakelspielchen, wie so oft im Leben, nicht ums Kämpfen, sondern um die Liebe geht. Die Tiere setzen ihre Zangen vor allem bei ihrem Paarungsritual ein.

Die Männchen wedeln damit herum und spreizen sie, so weit sie können, um die Weibchen zu beeindrucken. Beim Akt an sich halten sie die Damen zärtlich mit den Zangen fest. Anschließend kümmern sie sich liebevoll um das Ergebnis ihres Liebesspiels. Die Ohrenkneifer sind aufopferungsvolle Eltern und beschützen ihre Eier, säubern sie regelmäßig, sortieren verpilzte Exemplare aus, ja sie verteidigen sogar die geschlüpften Larven und füttern ihren Nachwuchs, was in der Insektenwelt nicht sehr häufig vorkommt.

„Wenn ich sie in meinem Garten ansiedele, kann ich mir den Einsatz meiner per Postversand importierten Killermaschinen im nächsten Jahr vielleicht sparen.“

Für den Menschen sind die Ohrwürmer, obwohl sie als angebliche Ohrenkneifer einen so schlechten Ruf genießen, sehr nützlich, denn sie vertilgen nichts lieber als Blattläuse, von denen ich ja reichlich habe. Wenn ich sie in meinem Garten ansiedele, kann ich mir den Einsatz meiner per Postversand importierten Killermaschinen im nächsten Jahr vielleicht sparen.

Da Ohrwürmer aber auch gelegentlich an Obst und Blättern nagen, werden sie von den meisten Gartenbesitzern gnadenlos mit Gift, Klebefallen und Ungezieferspray verfolgt. Und auf Obstplantagen mit Unmengen an Pestiziden vernichtet. Dadurch sind ausgerechnet die Orte garantiert ohrwurmfreie Zonen, wo die Tiere den größten Nutzen erbringen könnten, da sie neben Blattläusen auch Eier und Maden der Apfelwickler – und ja, auch der Pflaumenwickler! – fressen.

Ich habe einen Pflaumenbaum mit Pflaumenwicklermaden, ich habe Blattläuse, ich habe einen Laubhaufen und ich habe seit neuestem einen wunderbaren morschen Totholzast als Versteck. Aber keine Ohrwürmer. Da sie nicht fliegen, können sie mein Trittsteinbiotop nicht von selber erreichen. Ich muss sie also ansiedeln. Zugegebenermaßen möchte ich sie auch deswegen gern in meinem Garten haben, weil ich zu gerne einmal das Ohrwurm-Familienleben mit eigenen Augen beobachten würde. Da meine Tochter mich schmählich im Stich gelassen hat, rufe ich meine Freunde in der Uckermark an. Sie versprechen, sich für mich in ihrem großen Garten auf die Suche zu machen. „Aber nicht, dass wir junge Familien auseinanderreißen“, sagen sie, als ich ihnen von der Brutpflege erzähle. „Woran kann man Männchen und Weibchen unterscheiden?“

„Warum die Jungstadien vieler Insekten Nymphen heißen, habe ich auch nie verstanden“

„Junge Nymphen sehen genauso aus wie die Alten, nur in klein und hellbraun. Männchen haben gebogene Zangen, bei Weibchen sind sie gerade“, erkläre ich. „Nymphen?“, fragt meine Freundin. Sie hat Literatur studiert und denkt bei dem Begriff eher an griechische Naturgeister in wallenden Gewändern als an Ohrwürmer. Warum die Jungstadien vieler Insekten Nymphen heißen, habe ich auch nie verstanden. Ich beschließe, einen Entomologen zu fragen, wenn ich das nächste Mal einen treffe. Was in letzter Zeit ja häufiger der Fall ist.

Ich warte. In der Zwischenzeit bereite ich den Tieren schon mal das Quartier. Doch wie es so ist, wenn man etwas sehr begehrt, dann findet man es nicht. Sucht man nicht danach, läuft es einem aus allen Ritzen entgegen. Sie hätten alle Steine im Garten umgedreht, aber keine Ohrwürmer auftreiben können, erzählen mir meine Freunde, als wir uns das nächste Mal sehen. Ich bin enttäuscht. Und vertreibe mir die Zeit, indem ich eine neue Lilie für die Lilienhähnchen pflanze. Die alte sieht schon sehr mitgenommen aus. Eigentlich ist es nur noch ein Lilienskelett, das anklagend in meinem Garten steht. In meinem Insektenbuch habe ich gelesen, dass die Lilienhähnchen ähnlich wie Heuschrecken ein zirpendes Geräusch erzeugen können. Sie sind die Musiker unter den Käfern. Wie mit einem Geigenbogen streichen sie mit den Kanten ihrer Flügeldecken über eine geriffelte Stelle ihres Körpers.

Warum sie das tun, ist selbst Käferforschern nicht so richtig klar. Es dient wohl auch der Verteidigung, um Fressfeinde zu irritieren. Vögel, die nichtsahnend ein Lilienhähnchen aufpicken, um es zu ihrem Nest zu tragen, können von dem unvermittelten wütenden Gezeter des scheinbar stummen Opfers komplett überrumpelt werden. Nicht selten lassen sie vor Schreck ihre Beute fallen und suchen sich ein anderes Insekt, das weniger Lärm macht. Aber die Käfer singen auch, wenn gar keine Feinde in der Nähe sind. Und zwar wie die Wahnsinnigen, mit 200 Tönen pro Minute.

Es soll der innerartlichen Kommunikation dienen, heißt es lapidar, was bei Biologen die gängige Formulierung ist, wenn sie keine Ahnung haben, warum die Tiere irgendetwas tun. Es ist ungefähr so aussagekräftig wie wenn Archäologen von ausgegrabenen Objekten der Vorzeit behaupten, es handele sich um Kultgegenstände. Wann immer das als Erklärung auf einem Schildchen im Museum steht, kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Wissenschaftler keinen blassen Schimmer davon haben, wofür das Ding einmal verwendet wurde.

„Wann immer ich im Garten oder auf dem Balkon sitze, lausche ich auf den Gesang der Lilienhähnchen. Doch bislang vergeblich. Sie nagen an meiner Lilie und bleiben stumm“

Ich stelle mir vor, dass das Singen der Tierchen eine Art Liebeswerben und Restauranttip in einem ist. Hat ein Lilienhähnchen bei seinen Erkundungsflügen eine hübsche Lilie in einem Garten entdeckt, lässt es sich nieder und testet erst mal das Menü. Ist es mit Qualität und Lage des Etablissements einverstanden, fängt es an, mit seinem Chitin-Fiedelbogen zu geigen, um andere Lilienhähnchen anzulocken, damit man sich beim gemeinsamen Essen näherkommen kann. Vielleicht will es auch nur prahlen: „Seht her, was für eine fette Lilie ich hier gefunden habe, und sie war bis eben noch ganz schier und unversehrt!“ In diesem Punkt würden sie sich kaum von Touristen unterscheiden, die jede Speise, die sie in einem Lokal bestellen, erst einmal fotografieren und in die Gegend posten.

Vielleicht ist das Lied der Käfer aber auch viel poetischer und hat einen tieferen Sinn, der sich nur ihnen erschließt. Wann immer ich im Garten oder auf dem Balkon sitze, lausche ich auf den Gesang der Lilienhähnchen. Doch bislang vergeblich. Sie nagen an meiner Lilie und bleiben stumm.

Unterdessen hat sich meine Suche nach Ohrenkneifern zu einer Obsession entwickelt. Ich rufe meine Freunde in der Uckermark an und bitte sie, einen umgedrehten strohgefüllten Blumentopf ins Laub zu stellen. Auf Gartenseiten im Netz habe ich gelesen, dass die Tiere darin Unterschlupf suchen, und dass man sie dann einfach hochheben und mitnehmen kann, wie beim Einkaufen in einem Supermarkt. Meine Freunde sind schon ein klein wenig genervt vom Ohrenkneifersuchen, versprechen aber, in Gottes Namen auch noch diese Töpfe für mich aufzustellen. Auf einem Familienfest bei Verwandten mit einem wunderbaren großen Obstgarten verschwinde ich für längere Zeit von der Kaffeetafel, um im Garten Steine umzudrehen und in verfaulten Äpfeln herumzustochern.

Doch alles vergebliche Liebesmüh. Dabei antworten alle Gartenbesitzer, die ich frage, ob sie Ohrwürmer haben, wie aus der Pistole geschossen: „Natürlich!“ Und sie meinen nicht das Lied, das man nicht wieder los wird, sondern tatsächlich die Insekten.

Ich bin besorgt. Haben die fürsorglichen, familienfreundlichen Ohrenkneifer bereits das gleiche Schicksal erlitten wie viele andere Insekten? Die Ergebnisse der Krefelder Entomologen bezogen sich nur auf Fluginsekten, denn nur diese werden mit den aufgestellten Malaise-Fallen erwischt. Insekten, die zu Fuß unterwegs sind, wie die Ohrenkneifer, laufen einfach unter den Fallen hindurch. Was nicht heißt, dass Laufinsekten nicht genauso vom Insektensterben betroffen wären, denn Insektizideinsatz und Überdüngung treffen sie genauso.

Dabei gehören Ohrenkneifer offiziell sogar zu den Fluginsekten. Sie haben nur vergessen, dass sie eigentlich fliegen können. Unter zwei winzigen Deckflügeln aus Chitin verbergen sich in kompliziertem Origami zusammengefaltete Hautflügel, die so kunstvoll ineinander gelegt sind, dass die Tiere ihre Zangen zu Hilfe nehmen müssen, um sie bei Bedarf auseinander zu falten. Was ein spontanes Losfliegen, etwa um einem Feind zu entkommen, eher schwierig macht. Bis die Flügel entfaltet sind, ist der Ohrwurm gefressen. Kein Wunder, dass sie sie selten benutzen und im Zweifel lieber die Beine in die Hand nehmen, um unter dem nächsten Stein zu verschwinden. Und vorsichtshalber in der Dunkelheit unterwegs sind.

„Ich such mir eine neue Tochter. Eine, die sich nicht zu schade ist, für ihre liebende Mutter ein paar Ohrwürmer zu sammeln“


Chat mit Frida:

  • ICH: Hast du schon Ohrwürmer gefunden?
  • FRIDA: Mama, ich muss arbeiten!
  • ICH: Gehört das nicht auch zur Aufgabe von Ökologischen Freiwilligen, freundliche Anfragen von umweltinteressierten Bürgern zu bearbeiten?
  • FRIDA: (Keine Antwort)
  • ICH: Ich such mir eine neue Tochter. Eine, die sich nicht zu schade ist, für ihre liebende Mutter ein paar Ohrwürmer zu sammeln.
  • F: (Keine Antwort)


***

Das Buch:

Christiane Habermalz, Anstiftung zum gärtnerischen Ungehorsam: Bekenntnisse einer Guerillagärtnerin – Gebt Insekten ein Zuhause!, Heyne-Verlag, 2020, 9,99 Euro

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