„Der Ausbau der Offshore-Windenergie wird eine riesige Herausforderung für den Meeresschutz“
Seit einem halben Jahr ist Sebastian Unger als erster Meeresbeauftragter der Bundesregierung im Amt. Im Interview spricht er über die Ergebnisse des Weltnaturgipfels in Montreal, die Umsetzung der Beschlüsse in Deutschland und den Konflikt zwischen Artenschutz und Ausbau der Offshore-Windenergie.
Herr Unger, gerade wurde bei derUN-Biodivdersitätskonferenz COP15beschlossen, dass bis 2030 mindestens 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter einen wirksamen Schutz gestellt werden müssen. Wie wichtig ist dieses Ziel für die Meere der Erde und wie stark ist dieses Ziel am Ende in der konkreten Formulierung ausgefallen?
Die Einigung bei der Weltnaturkonferenzkonferenz in Montreal auf das sogenannte 30×30-Ziel ist ein wichtiger und historischer Meilenstein, auch wenn wir uns in manchen Teilen noch ambitioniertere Formulierungen gewünscht hatten. Um einen wirksamen und dauerhaften Beitrag zum Natur- wie auch Klimaschutz zu leisten, brauchen wir effektive Schutz- und Rückzugsräume im Meer genauso wie auch an Land. Die Potentiale der Meere dabei sind sehr groß und werden bei Weitem noch gar nicht umfassend genutzt. Dies wollen wir auch mit Maßnahmen aus dem Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz voranbringen.
Wie sieht es vor unserer eigenen Haustüre aus: Wie bewerten Sie den Zustand von Nord- und Ostsee?
Da gibt es nichts zu beschönigen. Er ist nicht gut. Nach der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie hätte schon bis 2020 ein guter Umweltzustand für alle deutschen Gewässer in Nord- und Ostsee erreicht werden müssen. Dieses Ziel wurde leider nicht erreicht. Im Gegenteil: Der Zustand ist teilweise weit davon entfernt. Auch deshalb haben wir uns ja auch im Koalitionsvertrag verpflichtet, eine verbindliche Meeresstrategie zu erarbeiten. Darin wird es auch darum gehen, mit welchen gezielten Maßnahmen wir den Zustand der Meere, national und international verbessern können, in Ergänzung zu dem, was schon gemacht wird. Wir fangen ja nicht erst an.
Auf dem Papier hat Deutschland das 30-Prozent-Ziel auf dem Meer schon erreicht, mit 40 Prozent Schutzgebieten sogar übertroffen. Trotzdem ist der ökologische Zustand dorterschreckend schlecht.Sind unsere Meeresschutzgebiete ein abschreckendendes Beispiel dafür, wie „30×30“ nicht laufen sollte?
Nein, das sind sie keinesfalls. Vielmehr sind sie Teil eines Prozesses, in dem es darum geht, die Qualität unserer Meeresschutzgebiete kontinuierlich zu verbessern. Das wurde so auch im Koalitionsvertrag festgehalten. Dazu gehört unter anderem, mindestens zehn Prozent streng geschützter Gebiete einzurichten. Insofern kann man das als notwendigen Entwicklungsschritt sehen. Andere Länder gehen teilweise einen anderen Weg. Die Ausweisung von vielmals auch deutlich kleinräumigeren Meeresschutzgebieten als in Deutschland dauert dort oft länger, sie ist dann aber gleich mit gezielteren Schutzmaßnahmen verbunden. Bei uns wurde mit den Managementplänen für die Schutzgebiete in der ausschließlichen Wirtschaftszone von Nord- und Ostsee, für die der Bund zuständig ist, eine wichtige Voraussetzung für das Erreichen der Schutzziele geschaffen. Unsere Fachleute arbeiten mit Hochdruck daran, die in diesen Plänen enthaltenen Schutzmaßnahmen umzusetzen und sind zuversichtlich, bis 2030 ganz wesentliche Fortschritte dabei zu erzielen.
Was wollen Sie konkret tun?
Wir wollen unter anderem dafür sorgen, dass die Qualität der Schutzgebiete verbessert wird, indem wir auf mindestens zehn Prozent der Fläche einen strengen Schutz erreichen – was bedeutet, keine schädlichen Auswirkungen auf die Schutzgüter mehr zuzulassen. Dass kann unterschiedliche Nutzungsformen betreffen. Das kann mal die Fischerei sein, auch die Schifffahrt muss betrachtet werden, und wir müssen noch einmal darüber nachdenken, ob die Schutzgebietskulisse, wie sie jetzt ist, ausreicht oder ob es noch Lücken gibt. Das muss man unter Umständen nachjustieren, nicht nur nach dem Gesichtspunkt, wo dies in unseren relativ durchgeplanten Meeren, in der Nordsee und Ostsee, möglich ist, sondern auch daran orientiert, wo es ökologisch sinnvoll und notwendig ist.
Sie sprechen den strengen Schutz auf zehn Prozent der Meeresfläche an. Auch die EU-Biodiversitätsstrategie will das erreichen. Was muss dort vor allem passieren?
Wenn wir einen strengen Schutz erreichen wollen, ist einer der wesentlichen Faktoren, eine ökosystemverträgliche Fischerei zu etablieren. Das Problem hat zwei Komponenten: Überfischung und destruktive Fischereipraktiken. Die Schleppnetzfischerei beeinträchtigt den Meeresboden stark, und viele Meeressäuger und Seevögel sterben als sogenannter Beifang in den Stellnetzen der Fischerei. In deutschen Meeresschutzgebieten gibt es viel Fischerei. Was wir dringend brauchen, sind Ruheräume für die Natur, Gebiete, in denen sich die Natur störungsfrei entfalten kann. Es gibt viele Beispiele dafür, dass solche Ruheräume nicht nur für den Naturschutz erfolgreich sind, sondern auch beispielsweise zu besseren Fangerträgen in den umgebenden Gewässern geführt haben und so auch für die Fischerei positiv wirken. Aber auch die negativen Auswirkungen anderer menschlicher Nutzungen, wie Schifffahrt und Energiegewinnung sind in diesem Zusammenhang zu betrachten. Sehr weitgehend störungsarme Meeresgebiete oder Zonen, die gänzlich frei von schädlichen Nutzungen gehalten werden können, sind klar ein wichtiger Baustein für die Erholung der Biodiversität in den Meeren.
Heißt „strenger Schutz“ eigentlich automatisch Nullnutzung eines Gebietes?
Es geht immer darum, zu definieren, welches Schutzgut in den Meeresgebieten geschützt werden soll und mit welchen Maßnahmen das erreicht werden kann. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, kann es auch Formen der Nutzung geben, die keine oder kaum negative Auswirkungen haben. Das lässt sich durch Vorgaben nach dem Motto „One Size fits all“ nicht immer ganz leicht abbilden. Maßnahmen müssen auf die jeweiligen Bedingungen ausgerichtet werden.
Können Sie Beispiele nennen?
Die Schifffahrt beispielsweise ist nicht in jedem Fall schädlich, wenn wir ein unterseeisches Riff schützen wollen. Wenn wir aber ein Gebiet haben, in dem es vor allem darum geht, rastende oder mausernde Seevogelbestände zu schützen, kann es sehr störend sein, wenn zur falschen Zeit Schiffe dort durchfahren.
Wann gibt es echte Nullnutzungszonen in deutschen Meeresschutzgebieten?
Das können wir als Nationalstaat nicht allein lösen, sondern das müssen wir beispielsweise für die Berufsfischerei über die Gemeinsame EU-Fischereipolitik mit betroffenen EU-Mitgliedstaaten abstimmen und der Europäischen Kommission zur Umsetzung vorlegen. Das hat entsprechend vorgegebener Verfahren und Abstimmungsprozesse zu erfolgen, die manchmal länger dauern, als wir uns das wünschen.
Welche weiteren Kriterien für Schutzgebiete außer der reinen Flächengröße sind aus Ihrer Sicht entscheidend, um den Zustand von Nord- und Ostsee zu verbessern?
In unserem regionalen Zusammenhang OSPAR – das ist ein völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz der Nordsee und des Nordostatlantiks aus der Oslo-Konvention und der Paris-Konvention – sprechen wir beispielsweise davon, dass wir Schutzgebiets-Netzwerke einrichten, die kohärent und repräsentativ sind. Beide Kriterien sind sehr wichtig, um zu erreichen, dass möglichst alle bedrohten Arten und Lebensräume, die wir ja schützen wollen, durch das Schutzgebiets-Netzwerk abgedeckt sind und diese auch Lebensräume von weitwandernden Arten einbeziehen.
Was wäre jenseits von Schutzgebieten noch nötig, um den Meeresschutz voranzubringen?
Hier sind neben den Schutzgebieten noch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zur Bekämpfung des Artenverlustes, der Verschmutzung und der Klimakrise wichtig. Was leider bisher häufig übersehen wird, der Erfolg von Meeresschutz entscheidet sich auch an Land. Eine bessere EU-Agrarpolitik und ein verbessertes Düngerecht sind auch für den Meeresschutz relevant. Weiterhin viel zu hohe Schad- und Nährstoffeinträge vor allem durch die Landwirtschaft tragen dazu bei, dass sich die Meeresökosysteme nicht so erholen, wie sie es vielleicht könnten, was sich letztendlich auch auf die Arten im Meer und die Fischbestände auswirkt. Aber auch jede und jeder Einzelne kann durch eine nachhaltige und gesunde Ernährung, die Wahl seines Transportmittels und vieles mehr einen Beitrag zum Meeresschutz leisten: Man kann den Zustand der Meere also als Indikator für die Nachhaltigkeit unserer Lebensweise an Land ansehen.
Die Bundesregierung strebt auf der einen Seite einen besseren Schutz der Meere an und plant zugleich in einem sehr großen Umfang, die Meere viel stärker zur Energieerzeugung zu nutzen. Sind mit den gewaltigen Ausbauzielen für die Offshore-Windenergie die Schutzziele für das Meer überhaupt umsetzbar?
Kein Zweifel, das ist eine riesige Herausforderung für den Meeresschutz. Mir ist aber wichtig, das in den Gesamtkontext zu stellen. Die Meere sind auch Leidtragende des Klimawandels. Das bedeutet, dass wir Meeresschutz auf Dauer nur erfolgreich betreiben können, wenn wir auch beim Klimaschutz durch Emissionsreduktion vorankommen. Wir müssen die Klimawende hinbekommen und auf den 1, 5 Grad-Pfad kommen. Ich war auch auf der Klima-COP in Scharm el-Scheich dabei und hatte Gelegenheit, dort die wunderbaren Korallenriffe zu bestaunen. Gleichzeitig schwingt immer mit: Mit dem, was dort verhandelt wird, sind wir nicht auf dem Pfad, diese Naturwunder zu erhalten. Es muss weiterhin alles dafür getan werden, dass die 1, 5-Grad-Grenze nicht überschritten wird und dazu gehört auch, dass ein Industrieland wie Deutschland belegen kann, die Energiewende hinzubekommen – an Land und auf dem Meer. Dazu mussten der Natur- und Meeresschutz teilweise auch weitgehende Kompromisse eingehen. Dennoch werden die Natur- und Artenschutzbelange beim weiteren Offshore-Ausbau beachtet. Es gilt weiterhin, erhebliche Beeinträchtigungen zu vermeiden und vermindern sowie geeignete Ausgleichsmaßnahmen zu schaffen.
Für ziehende und überwinternde Seevögel sind Offshore-Windparks ein großes Problem. Auch zu deren Schutz ist Deutschland verpflichtet. Wie kann das bei diesen Ausbauzielen gelingen?
Sie haben völlig recht, dass auch Seevögel durch Offshore-Windanlagen beeinträchtigt werden. Es gibt verschiedene Wege, diese Auswirkungen zu mindern. Zum einen können wir durch eine kluge Planung und Flächenausweisung Beeinträchtigungen von Rast- und Zugvögel verhindern oder geringhalten. Zum anderen ist das zeitweise Abschalten von Anlagen ein geeignetes Instrument, um Zugvögel zu schützen. Die hierdurch entstehenden Ausfälle im Betrieb der Anlagen sind vergleichsweise gering. Gleichzeitig kann damit ein wichtiger Beitrag für die Naturverträglichkeit des Offshore-Ausbaus geleistet werden. Nicht zuletzt wird auch das Nationale Artenhilfsprogramm einen Beitrag zum dauerhaften Schutz insbesondere der durch den Ausbau der erneuerbaren Energien betroffenen Arten, einschließlich deren Lebensstätten, leisten.
Die Vögel meiden die Strukturen großflächig. Abschalten wird gegen diese Art des Lebensraumverlustst nicht viel bringen. Macht das Osterpaket letztlich das Schutzgebietskonzept kaputt?
Die Herausforderungen, denen wir uns zu stellen haben, sind nicht trivial. Aber ich glaube nicht, dass die gesetzlichen Änderungen das Schutzgebietskonzept in Frage stellen. Wir müssen sowohl die einzelnen Schutzgüter, als auch die kumulativen Wirkungen betrachten und für beides Lösungen finden. Es ist so, dass wir durch den angestrebten starken Ausbau der Offshore-Windenenergie verstärkt auch die Mehrfachnutzung von Flächen miteinbeziehen müssen. Dies ist vor allem eine raumplanerische Frage. Wir brauchen eine Zukunftsvision, wie wir in den Meeren die unterschiedlichen Nutzungsformen miteinander in Einklang bringen. Es ist im Übrigen in den Ausbauplänen vorgesehen, dass die Meeresschutzgebiete zunächst vom Ausbau der Offshore-Windenergie ausgespart bleiben. Das sind die Bereiche, die als Letztes und auch nur dann betroffen wären, wenn alle anderen Möglichkeiten des Ausbaus in anderen Bereichen ausgeschöpft wurden.
Die Bedeutung des Klimaschutzes auch für die Meeres-Biodiversität haben Sie schon angesprochen. Wie kann ein besserer Schutz von Nord- und Ostsee seinerseits auch zum Klimaschutz beitragen?
Meere spielen eine große Rolle beim Klimaschutz und deshalb ist auch im Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz des BMUV ein substanzieller Teil für die Meere und ihre natürlichen Lebensräume vorgesehen: der Erhalt und die Wiederherstellung von Salz- und Seegraswiesen wie auch Algenwäldern beispielsweise. Dort, wo es möglich und sinnvoll ist, soll ihre Renaturierung auch über dieses Programm finanzierbar sein, denn diese Lebensräume haben ein hohes Potenzial Kohlenstoffe zu binden und helfen im Kampf gegen die Klimawandel. Und auch eine geänderte Nutzung der Meere könnte direkt zum Klimaschutz beitragen.
Wie das?
Durch die Schleppnetzfischerei wird der Meeresboden nicht nur aufgewühlt – das ist lange bekannt – sondern dadurch werden auch Klimagase freigesetzt. An Land wird viel investiert, um beispielsweise Häuser zu isolieren oder mit Hilfe von Wärmepumpen Emissionen bei der Wärmeerzeugung zu reduzieren. Gleichzeitig werden bestimmte Fischereipraktiken subventioniert, die die Meeresnatur schädigen und dazu beitragen, dass zusätzliche Treibhausgase freigesetzt werden. Es ist ein wenig wie an Land: Dort hat es auch eine geraume Zeit gedauert, bis wir zu der Erkenntnis gekommen sind, dass wir Moore besser nass sein lassen oder wiedervernässen, um sowohl Biodiversität zu schützen als auch Klimagase im Boden zu halten. Ähnlich sieht es beim Meeresthema auch aus. Im Rahmen des Aktionsprogramms natürlicher Klimaschutz soll es hierzu weitere Untersuchungen geben. Eine Frage dabei wäre dann auch: welche Gebiete – auch auf dem Meer – wären aus Klimagesichtspunkten schützenswert?