Steffi Lemke legt Biodiversitätsstrategie vor: Deutschlands Fahrplan aus der Naturkrise
Die Bundesumweltministerin hat ihren Plan zur Umsetzung des Weltnaturabkommenms in Deutschland vorgelegt. Bis 2030 will sie das Artensterben stoppen und den Zustand der Ökosysteme entscheidend verbessern. Experten bezweifeln, dass das mit Lemkes Plan gelingt.
30 Prozent der Erde unter Schutz, großflächige Renaturierung überall auf der Erde und eine nachhaltigere Landnutzung: Der Jubel kannte kaum Grenzen als sich die Staaten der Erde kurz vor Weihnachten nach zähen Verhandlungen im kanadischen Montreal auf ein neues Weltnaturschutzabkommen geeinigt hatten. Delegierte, Minister und Vertreter indigener Gemeinschaften vom Nordkap bis zum Amazonas beklatschten sich und den historischen Erfolg im fensterlosen Konferenzsaal des Montrealer Kongresszentrums frenetisch – einige waren zu Tränen gerührt.
Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke war in der historischen Nacht dabei, als das ambitionierteste Naturschutzabkommen seit Jahrzehnten, vielleicht aller Zeiten, beschlossen wurde. „Die Staatengemeinschaft hat sich dafür entschieden, das Artenaussterben endlich zu stoppen“, sagte sie.
Die Grünen-Politikerin wusste da bereits, dass die Arbeit für sie mit dem erfolgreichen Verhandlungsabschluss erst begonnen hatte. Denn die am grünen Tisch in Montreal vereinbarten mehr als 20 Ziele gegen die ökologische Existenzkrise müssen in den einzelnen Ländern umgesetzt werden. Alle 196 Unterzeichnerstaaten müssen innerhalb eines Jahres einen nationalen Plan erarbeiten. Ihren Deutschland-Plan zur Rettung der Natur hat Lemke am Donnerstag mit dem Entwurf für eine neue Nationale Biodiversitätsstrategie vorgelegt.
Ziele für die Wende in der ökologischen Krise
Die Strategie umfasst 65 einzelne Ziele, verteilt auf 21 Handlungsfelder. Berührt sind viele Bereiche des Lebens und der Wirtschaft. Den Kern bilden Ziele zur ökologischen Wiederbelebung in den unterschiedlichen Lebensräumen von Nord- und Ostsee bis zum Gebirge. So sollen sich Küsten und Meere, Moore, Wälder und Flussauen gestützt von einzelnen Maßnahmenpaketen innerhalb weniger Jahre von ihrem oft katastrophalen Zuständen erholen können.
Für die Küsten beispielsweise soll dazu bis 2026 ein Wiederaufbauprogramm für Seegras- und Salzwiesen entwickelt werden. In Wäldern sollen Wiederaufforstungen dazu genutzt werden, klimaresistente und artenreiche Lebensräume zu schaffen und Städte werden unterstützt, bis 2030 150.000 neue Bäume zu pflanzen.
Mit diesen Maßnahmen soll nicht nur die Natur um ihrer selbst willen geschützt werden. Sie sollen sicherstellen, dass das Netz aus Tieren, Pflanzen und Lebensräumen weiter seine für die Menschheit überlebenswichtigen Funktionen erfüllen kann: Wälder sollen Treibhausgase speichern, Insekten Nahrungsmittel bestäuben und gesunde Böden und Meere sollen Getreide und Fische für eine wachsende Weltbevölkerung liefern können.
Trendwende für alle Lebensräume und ihre Arten bis 2030
Als übergeordnetes Leitziel nennt die Strategie denn auch das Bestreben, alle Lebensräume und die darin lebenden Arten bis 2030 in einen guten ökologischen Zustand zu versetzen. Dieser Punkt ist die praktische Übertragung der wichtigsten Vereinbarung des Montreal-Abkommens in die deutsche Politik: innerhalb der nächsten sieben Jahre den Artenrückgang weltweit zu stoppen und die Ökosysteme wieder auf einen Pfad der Besserung zu bringen.
Dieses Szenario ist global und auch in Deutschland weit von der Realität entfernt. Weltweit ist das Artensterben nach Analysen des Weltbiodiversitätsrates IPBES heute mindestens zehn- möglicherweise sogar einhundertmal höher als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Erst vor wenigen Tagen haben Wissenschaftler davor gewarnt, dass bereits sieben von acht Grenzen des Erdsystems überschritten wurden. In Deutschland sind mehr als zwei Drittel der besonders wertvollen Lebensräume in keinem guten Zustand, mehr als ein Viertel aller Tier-Pflanzen- und Pilzarten sind bestandsgefährdet, ausgestorben oder verschollen – eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.
Die wichtigsten Montreal-Ziele werden eins zu eins übernommen
Die Messlatte liegt also hoch. Um die Wende in der Öko-Krise zu schaffen, übernimmt Lemkes Vorschlag in zentralen Bereichen Beschlüsse aus Montreal oder der EU-Biodiversitätsstrategie eins zu eins. So sollen bis 2030 jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche Deutschlands effektiv geschützt sein – für zehn Prozent davon soll ein strenger Schutz gelten. Auch den gerade auf europäischer Ebene heftig umstrittenen Plan zur großflächigen Renaturierung geschädigter Ökosysteme übernimmt der Strategie-Entwurf für Deutschland. Danach sollen in den nächsten sieben Jahren ökologische „Wiederherstellungsmaßnahmen“ auf mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen Deutschlands eingeleitet sein.
In vielen Bereichen schreibt das Konzept schon früher krachend verfehlte Ziele fort, ohne sie weiter zu verschärfen, wie Naturschützer angesichts des voranschreitenden Artenverlusts fordern. Beim Insektenschutz etwa sind keine über das noch von der Vorgängerregierung aus Union und SPD beschlossene Aktionsprogramm hinausgehenden Maßnahmen geplant. Als Oppositionspolitikerin hatte Lemke das Paket scharf als unzureichend kritisiert.
WWF kritisiert geringen Ehrgeiz beim Schutz natürlicher Wälder
Beim Schutz natürlicher Wälder fällt die Strategie nach Einschätzung von WWF-Waldexpertin Susanne Winter sogar hinter die Pläne der EU zurück. Während Lemke lediglich das Ziel anstrebe, fünf Prozent der Wälder ohne Nutzung sich selbst entfalten zu lassen, sehe die EU-Strategie einen 10-Prozent-Anteil vor.
„Das sind alles andere als ambitionierte Ziele für einen ökologisch so herausragend wichtigen Lebensraum“, kritisiert Winter. Auch werde die Rolle der Wälder zu sehr auf den Klimaschutz verengt, statt ein klares Leitbild des Waldes als Hotspot der Biodiversität festzuschreiben. Dies schaffe Schlupflöcher für nicht-ökologischen Nutzungsformen durch Aufforstung mit nicht heimischen Baumarten und ökologisch problematische Waldbaumethoden.
Strategie ist erst ein Entwurf
„Diese Strategie bietet nicht den erhofften und so dringend nötigen Fahrplan aus der ökologischen Krise“, sagt auch Georg Schwede vom Umweltverband Campaign for Nature. Viele Ziele seien zu vage, als dass sie die großen Fortschritte erreichen könnten, die angesichts des katastrophalen Zustands der Natur nötig seien, um eine Trendwende zu schaffen. „Würden wir den Klimawandel so verzagt angehen, wie diese Strategie die Naturkrise, wäre der Aufschrei groß“, sagt Schwede.
Das Konzept ist noch nicht innerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Auch Naturschutzverbände und andere Interessengruppen haben in den kommenden Wochen Gelegenheit, Änderungsvorschläge zu machen. Ein Kabinettsbeschluss soll in der ersten Hälfte 2024 folgen.