Schreiadler: Der Wappenvogel für die Agrarwende
Wo es dem Schreiadler gut geht, geht es auch den Menschen gut. Dort grasen Kühe, quaken Frösche und werden gesunde Lebensmittel erzeugt. Er ist der Wappenvogel für eine menschen- und naturgerechte Agrarwende.
Schreiadler sind nicht unbedingt auf wilde, unberührte Natur angewiesen. Ihre Beute aus Fröschen, Mäusen und Maulwürfen finden sie ebensogut in einer von bäuerlicher Landwirtschaft geprägten Kulturlandschaft mit einem Mosaik aus Wiesen, Weiden, Feldern und Wäldern. Deshalb ist Deutschlands am stärksten bedrohter Adler der ideale Wappenvogel für eine überfällige Wende in der Landwirtschaft.
Ein Spaziergang durch die Agrarlandschaft im Osten Lettlands an einem Spätfrühlingsmorgen. Eine Bäuerin pflockt eine einzelne Kuh an einem langen Seil inmitten einer Wiese an. Zäune gibt es hier nicht. Die Kuh nimmt es stoisch und grast in dem Umkreis, den ihr die Leine lässt. Am Rand des Feldsteinwegs stiehlt sich ein Rebhuhn in das hohe Gras davon, als es den Wanderer bemerkt.
Täglich 1600 Vögel weniger
Aus der bunt mit Wildkräutern durchsetzten Wiese nebenan ratscht unentwegt der Wachtelkönig sein „crex crex“. Alle paar Dutzend Schritte fliegen Braunkehlchen von Halm zu Halm, auf der Suche nach Insektenfutter für die Jungen. Steinschmätzer und Wiesenpieper fliegen auf und landen nur ein paar Meter weiter wieder auf dem Weg. Schließlich kreuzt ein Schreiadler den Weg und strebt mit einem Frosch im Schnabel zielstrebig dem angrenzenden Wald entgegen – der finale Ritterschlag für diese Landschaft.
Es ist wie auf einer dieser schönen Info-Tafeln, die alle Tierarten eines Gebietes auf einem einzigen Bild gezeichnet zeigen. Nur ist das hier real, es gibt all diese Tiere noch, und sie sind nicht einmal selten. Ein Spaziergang von ein paar Stunden Dauer reicht aus, um zu offenbaren, wie reich eine von Menschen gestaltete Kulturlandschaft auch heute noch mitten in Europa sein kann, wenn sie nicht bis zum letzten Quadratzentimeter ausgepresst wird.
In Deutschland sind all die genannten Vogelarten vom Aussterben bedroht oder stark in ihren Beständen gefährdet. 14 andere Vogelarten sind hierzulande in den letzten beiden Jahrhunderten bereits ausgestorben.
Ein halbes Dutzend weiterer wird in den nächsten Jahren hinzukommen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Aber die ökologische Krise manifestiert sich nicht allein im Aussterben ganzer Arten. Auch in quantitativer Hinsicht ist der Vogelschwund dramatisch. Betroffen ist auch hier vor allem die Agrarlandschaft. Allein in der Europäischen Union gingen innerhalb von drei Jahrzehnten 300 Millionen Vogel-Brutpaare verloren. In Deutschland errechnete der „Dachverband Deutscher Avifaunisten“ einen Verlust von täglich 1.600 Vögeln in den letzten 30 Jahren. Die Landwirtschaftskrise ist offensichtlich – bloßgelegt durch unsere Vogelwelt oder das, was von ihr übrig ist.
Vögel stimmen mit den Schwingen ab – sie verschwinden einfach
Aber es geht nicht allein um Vögel. Vögel sind ein idealer Indikator für den Zustand von Lebensräumen und der biologischen Vielfalt insgesamt. Sie können fliegen und deshalb Gebiete schnell besiedeln, wenn sich die Lebensbedingungen darin verbessern. Oder sie verlassen, wenn sie sich verschlechtern. Lässt sich eine Vogelart in einem Lebensraum nieder und nehmen ihre Bestände darin sogar zu, ist das ein Gütesiegel für dessen ökologischen Zustand insgesamt. Dann geht es auch Insekten, Pflanzen, Gewässern oder Wäldern gut. Verschwindet eine Art aus ihrem eigentlich angestammten Habitat, kommt das einer Abstimmung mit den Schwingen gleich: Der Vogel stellt diesem Lebensraum ein Armutszeugnis aus. Das geschieht gerade massenweise.
Doch es gibt auch Hoffnung. Vogelbestände können sich rasch erholen, wenn die Ursachen für ihren Rückgang beseitigt werden. Das Insektizid DDT hat Anfang der 1960 er-Jahre Wanderfalke, Uhu und andere Arten fast ausgerottet, weil es die Eierschalen brüchig werden ließ und die Embryonen zum Absterben brachte. Seit dem Verbot der Chemikalie erleben diese Arten einen ungeahnten Höhenflug.
Und auch heute kennen wir die Ursachen der Artenkrise und damit den Ausweg aus ihr: Die ausbeuterische, nicht nachhaltige und viel zu intensive Nutzung der Agrarlandschaft für eine industrielle Lebensmittelproduktion steht an erster Stelle.
Gerade in dieser Woche hat eine europaweite Untersuchung erstmals nachweisen können, dass die industriell betriebene Landwirtschaft die maßgebliche Rolle in der größten Vogelkrise seit Menschengedenken spielt. Die im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlichte groß angelegte Analyse belegt erstmals im kontinentalen Maßstab einen ursächlichen Zusammenhang zwischen landwirtschaftlicher Intensivierung und dem Vogelrückgang überall in Europa.
„Der zunehmende Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln ist die Hauptursache für den Rückgang vieler Vogelpopulationen, vor allem aber von solchen, die Insekten fressen“, schreiben die Autoren.
Zwar zeigten auch der immer größere Flächenverbrauch als Folge der zunehmenden Verstädterung, der Klimawandel und die intensive Waldbewirtschaftung für viele Vogelarten negative Auswirkungen. Die zentrale Verantwortung für den Vogelschwund liegt aber in der immer intensiver werdenden Art und Weise der Lebensmittelproduktion auf Feldern und Äckern. Deutschland wird in Sachen Intensivlandwirtschaft übrigens nur von den Benelux-Staaten übertroffen, entsprechend zählt der Abwärtstrend bei den Agrarvögeln hier zu den ausgeprägtesten.
Auch viele Bürgerinnen und Bürger fordern das immer vehementer ein, schließlich stammen die Milliardensummen für die Agrarförderung aus den von ihnen gezahlten Steuern. Viele Menschen haben es satt und formulieren es genauso: „Wir haben es satt“ heißt das Motto der Demonstrationen, zu denen in jedem Januar zur Landwirtschaftsmesse „Grüne Woche“ Zehntausende nach Berlin strömen, um eine Wende in der Agrarpolitik zu fordern. Dass die vielen Landwirte, die unter ihnen sind, vor allem kleinere Betriebe vertreten, ist kein Zufall.
Und hier kommt auch der Schreiadler ins Spiel.
Vor 200 Jahren war die Art in Deutschland noch weit verbreitet. Ihre gnadenlose Verfolgung und später vor allem die Intensivierung der Landnutzung ließen das Siedlungsgebiet der Adler zusammenschrumpfen. Heute leben nur noch etwa 130 Paare in Deutschland – fast ausschließlich im Nordosten der Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Während die direkte Verfolgung durch Menschen zwar auf den Zugwegen, nicht aber in den Brutgebieten eine Rolle spielt, trifft sie die weiter um sich greifende Intensivlandwirtschaft umso härter. Denn gleich drei einschneidende Ereignisse haben in den ostdeutschen Bundesländern in den vergangenen Jahrzehnten die rapide Verschlechterung der Lebensbedingungen für Vögel markiert, die, wie der Schreiadler, auf das Offenland angewiesen sind: Zuerst brachte die politische Wende mit der Wiedervereinigung zu Beginn der 1990 er-Jahre gravierende Umbrüche mit sich.
Schreiadler sind Opfer vieler falscher Entscheidungen
Die Anpassung an den nun gesamtdeutschen und vor allem europäischen Markt veränderte nicht nur über Nacht das Leben der ostdeutschen Kohlekumpel und Stahlarbeiter. Auch auf dem Land blieb wenig, wie es war. Zwar wurde auch in der DDR Intensivlandwirtschaft betrieben. Die fiel aber deutlich extensiver aus als im Westen, was sich etwa in einem deutlich geringeren Einsatz von Agrarchemikalien – vor allem von Insektiziden – niederschlug. Auch wurden deutlich weniger Futtermittel wie Soja oder Fischmehl importiert und stattdessen auf Grünlandbewirtschaftung gesetzt. Mit der Wende brach die Nutztierhaltung dann vielerorts ein. Damit einher ging der Verlust großer Flächen an Grünland, das bis dahin als Weideland oder zur Gewinnung von Grünfutter für das Vieh vergleichsweise naturnah genutzt wurde. Nicht mehr benötigte Wiesen wurden in Acker umgebrochen, andernorts wurden sie aus der Bewirtschaftung genommen: große Flächen des wichtigsten Jagdreviers für den Schreiadler gingen so verloren oder wurden entwertet.
Noch einschneidender waren die negativen Folgen dann nur ein paar Jahre später, als die Europäische Union beschloss, die bis dahin verpflichtenden sogenannten Flächenstilllegungen ab 2007 abzuschaffen.
Die Gemeinschaft hatte dieses Lenkungsinstrument zum Ende der 1980 er-Jahre im Kampf gegen die Überproduktion erdacht. Landwirte mussten bis zu 15 Prozent ihrer Flächen aus der Bewirtschaftung nehmen, wenn sie in den Genuss von Beihilfezahlungen aus dem Topf der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) kommen wollten. Was als wirtschaftspolitisches Instrument zur Sicherstellung eines stabilen Preisniveaus eingeführt wurde, erwies sich nebenbei als Naturschutzprojekt erster Güte. Denn auf den „stillgelegten“ Flächen herrschte das glatte Gegenteil von Stillstand.
Weiträumiger Verlust an geeignetem Habitat
Ohne Nutzkulturen, Chemieeinsatz und industrielle Bodenbearbeitung brach sich hier rasch das pralle Leben Bahn: Innerhalb kurzer Zeit verwandelten sich die brach liegenden Felder auf großer Fläche zu blühenden Landschaften und wertvollen Lebensräumen für Pflanzen, Insekten, Nagetiere und Vögel. Auch für den Schreiadler eröffneten diese Oasen des Lebens inmitten der zunehmend eintönigen Agrarlandschaft erstklassige Jagdgründe.
Mit der Energiewende werden besonders wertvolle Lebensräume durch besonders wertlose ersetzt
2007 wurde das Stilllegungs-Programm wegen steigender Nachfrage nach Getreide abgeschafft – mit katastrophalen Folgen. Die Brachen wurden wieder bewirtschaftet und für viele Vogelarten war die Verschnaufpause im Kampf gegen das Aussterben schlagartig vorbei. Heute nehmen Brachen nur noch einen verschwindend geringen Anteil der Ackerflächen in beiden Bundesländern ein. Auf vielen der einstigen Stilllegungsflächen– Einschnitt Nummer drei – werden im Zuge der Energiewende heute Pflanzen zur Erzeugung von Bioenergie angepflanzt, vor allem Mais und Raps. Damit wurden besonders wertvolle Lebensräume durch besonders wertlose ersetzt – für den Schreiadler kommt das einem Komplettverlust vieler überlebensnotwendigen Jagdgründe gleich. Der Lebensraumsverlust, der mit dem Boom der Energiepflanzen einhergeht, ist enorm. Hinzu kommen die vielen Windkraftanlagen, an denen immer wieder Adler umkommen.
Schreiadler sind durchaus pragmatisch und in Grenzen anpassungsfähig. An ihren Lebensraum stellen sie gewisse Ansprüche; Sie lieben es durcheinander, üppig-grün, feucht und abwechslungsreich. Sie leben in Landschaften, in denen sich Wald und Grünland zu einem grenzlinienreichen Mosaik verbinden und in denen es auch ansonsten reich strukturiert zugeht: Langgezogene Waldränder entlang von Wiesen und Weiden, die durchzogen werden von kleinen Baumgruppen oder auf denen in Würde alt gewordene Solitärbäume stehen, die als Ansitzwarte bei der Jagd genutzt werden können.
Wiesenschläuche, die sich zwischen Waldzipfeln entlangschlängeln; dichte Hecken, feuchte Gräben und froschreiche Tümpel: Wo sich solche Landschaftselemente mit eingesprengten Äckern abwechseln und wo die Landschaft nicht von Straßen, Bahntrassen oder Hochspannungsleitungen zerschnitten oder von Windrädern verstellt ist – dort sind die Schreiadler zu Hause.
Von existenzieller Bedeutung für sie ist dabei, dass es um den Brutwald herum ausreichend Grünland gibt. Schreiadler gehen aber auch häufig auf Ackerflächen auf die Jagd. Die Regel scheint zu sein: Wo die meisten Kleinsäuger zu finden sind, schauen auch die Adler vorbei. Sie brauchen also keineswegs ausschließlich unberührte Wildnis. Schreiadler sind bestens an ein Leben in der extensiv-bäuerlich vom Menschen genutzten Kulturlandschaft angepasst. Dort, wo noch Kühe auf der Weide grasen, Mähwiesen nicht durch zu viele Schnitte pro Jahr oder mit Gülle oder Dünger zu Grasfabriken gedopt werden, und dort, wo Ackerbau in abwechslungsreicher Fruchtfolge betrieben wird, können Schreiadler und Menschen in harmonischer Nachbarschaft leben – so, wie es auch heute noch in einigen nordost- und südosteuropäischen Regionen der Fall ist.
Schreiadler sind also so etwas wie Kulturfolger. Sie können einträchtig neben Menschen leben, es braucht keine Wildnis-Reservate, um sie zu erhalten. Sie müssen nicht, wie die Blauracke, die Zwergtrappe und der Rotkopfwürger als weitere Opfer einer nicht nachhaltigen Landnutzung auf der Liste der ausgestorbenenen Vogelarten Deutschlands landen. Drei Dinge sind dafür entscheidend: Die Wende in der Landwirtschaft muss kommen. In den Wäldern müssen ungestörte Bereiche ohne forstliche Nutzung erhalten werden – viele Konzepte dazu sind erfolgreich, und der Umbau der Wälder im Kampf gegen den Klimawandel bietet neue Chancen dazu. Und es muss uns gelingen, die Energiewende wirklich naturverträglich zu gestalten.
Der Schreiadler ist der natürliche Verbündete einer solchen lebensfreundliche Umgestaltung unserer (Land-)Wirtschaft. Nicht umsonst wurde er viel passender über Jahrhunderte hinweg als Pommernadler bezeichnet: als Charaktervogel der weiten, agrarischen Landschaft im Nordosten. Da, wo es dem Schreiadler gut geht, geht es auch den Menschen gut. Wo er sich wohl fühlt, grasen Kühe auf der Weide statt in Ställen zusammengepfercht zu werden, quaken Frösche, summen Insekten und werden gesunde Lebensmittel für uns Menschen erzeugt. Der Schreiadler ist der heimliche Wappenvogel für eine menschen- tier- und naturgerechte Agrarwende und eine Energiewende, die das Prädikat „Grün“ verdient.
Mehr über den Schreiadler im Buch Könige der Lüfte – Das geheime Leben der letzten Schreiadler Deutschlands, Frederking & Thaler, München